Frankreich: Alain Juppé wegen Korruption verurteilt

Auch Präsident Chirac bloßgestellt

Das gesamte politische Establishment Frankreichs erlitt am 30. Januar gleichsam einen "seismischen Schock", als Alain Juppé, Bürgermeister von Bordeaux und Vorsitzender der französischen Regierungspartei UMP (Union pour un mouvement populaire), vor dem Gericht von Nanterre in Paris des "Missbrauchs eines öffentlichen Amtes für persönliche Zwecke" schuldig gesprochen wurde. Er wurde zu achtzehn Monaten Gefängnis auf Bewährung und dem Verlust der Bürgerrechte auf fünf Jahre verurteilt, was automatisch bedeutet, dass er zehn Jahre lang kein öffentliches Amt mehr bekleiden darf.

Trotz seines Versprechens, er werde sich, wenn im Sinne der Anklage schuldig gesprochen, sofort aus der Politik zurückziehen, legte er Berufung ein, was bedeutet, dass das Urteil frühestens in einem Jahr nach dem Abschluss des Prozesses rechtskräftig wird. Er hat bis dato keinen Rückzug aus dem öffentlichen Leben angekündigt.

Verurteilt wurde er sowohl als ehemaliger Generalsekretär der RPR (Rassemblement pour la Rèpublique, damalige gaullistische Partei des Präsidenten Chirac und UMP-Vorläufer) von 1988 bis 1995, wie auch als stellvertretender Bürgermeister und Finanzverantwortlicher der Stadt Paris von 1983-1995. Das Gericht sprach Juppé schuldig sieben "fiktive Angestellte" der RPR über die Lohnliste der Stadt Paris finanziert zu haben und zwar in der Zeit, als Jacques Chirac Bürgermeister von Paris und Juppé Schatzmeister der RPR waren.

26 weitere Personen standen mit Juppé vor Gericht. Sieben Geschäftsleute, die beschuldigt worden waren, Angestellte für die RPR beschäftigt zu haben, wurden freigesprochen. Dreizehn weitere erhielten sechsmonatige Gefängnisstrafen auf Bewährung. Louise-Ivonne Cassetta, die ehemalige RPR-Finanzverwalterin und Fond Managerin, erhielt 14 Monate Gefängnis auf Bewährung. In vielen Fällen hatte man Geschäftsleute mit der Drohung, sie andernfalls bei der Vergabe lukrativer Kontrakte zu übergehen, gezwungen, die RPR mit Spenden zu versorgen.

Auf der Anklagebank fehlte allerdings eine Person: Jacques Chirac, Juppés unmittelbarer Vorgesetzter zur Zeit seiner illegalen Tätigkeit. Als Präsident der Republik genießt er gegenwärtig Immunität. In Libération (31. Januar) kommentierte Jean-Michel Hervig ironisch die "Grausamkeit dieser Welt, in der die Personen, die die meiste Verantwortung tragen, nicht schuldig gesprochen werden", und viele Kommentatoren bezeichneten Juppé als die Sicherung, die durchbrannte, um das Hauptobjekt zu schützen, bzw. als Sündenbock für Jacques Chirac. Helvig fragte: "Hat der aktuelle UMP-Vorsitzende auf diese Weise für den gegenwärtig unantastbaren Präsidenten der Republik bezahlt?"

Die drei Richter weigerten sich ausdrücklich Juppés Bitte zu erfüllen, das Urteil möge sich nicht auf die Wählbarkeit in ein öffentliches Amt auswirken. Stattdessen enthält ihr Urteil einen vernichtenden Kommentar über Juppés Verhalten: "Indem Alain Juppé so handelte, als er ein öffentliches Amt bekleidete, verriet er das Vertrauen des souveränen Volkes... Um Personal zu bekommen, das er für die RPR-Aktivitäten zu benötigen glaubte, entschied er sich bewusst für die Suche nach illegalen Arrangements für die Lösung der Probleme.... Alain Juppé handelte wissentlich zu seinem eigenen direkten oder indirekten Vorteil. Dies stellt einen Amtsmissbrauch dar."

Die Richter fuhren fort: "Die Werte der Republik und die Werte des öffentlichen Dienstes stehen im Mittelpunkt dessen, was an den großen Schulen (les grandes écoles - Eliteuniversitäten) der Republik gelehrt wird... genau darin war Alain Juppé ausgebildet und erzogen. Er arbeitete danach als hoher Beamter und spielte im politischen Leben eine eminent wichtige Rolle." Jeder weiß, dass alle diese Kommentare mit genau derselben - wenn nicht noch größeren - Berechtigung auch auf den Präsidenten der Republik zutreffen.

Diese Verurteilung betrifft nur die Spitze des Eisbergs der Korruption, deren Alain Juppé und Jacques Chirac beschuldigt wurden. Dazu gehören auch die 14 Millionen Francs, die ausschließlich für die Verköstigung des Ehepaars Chirac in Rechnung gestellt wurden. Außerdem gab es ungefähr sechzig "fiktive Angestellte", denen das Pariser Rathaus die Gehälter bezahlte und die das Personal für die RPR-Parlamentarier in Chiracs unmittelbarer Umgebung oder in Chiracs Büro in Ussel stellten.

Dann war da der Fall der kommunalen Wohnungskommission für die Verträge zur Erneuerung der Aufzüge, die sich im Netz der Justiz verfingen, sowie die Kommission über Instandhaltungsverträge für die Gymnasien (Lycées) der Ile-de-France, der Pariser Region, in die auch die Sozialistische Partei verwickelt war. Weiterhin wurden hohe Barzahlungen für teurer Reisen bekannt, die Chirac mit seiner Familie und Freunden durchführte. Nur juristische Formfragen verhinderten eine Anklage auch wegen dieser Vergehen.

Kommentare von Mitarbeitern, Unterstützern und Freunden von Juppé lassen erkennen, welch heruntergekommene persönliche und moralische Atmosphäre in den französischen Politikerkreisen vorherrscht. Premierminister Jean-Pierre Raffarin erklärte, das Urteil sei nur "provisorisch", und "Frankreichs öffentlicher Dienst" brauche Juppé. Der Vorsitzende der Nationalversammlung, François Baroin, sagte, er sei "überzeugt", dass Juppé auch weiterhin "dienen werde". Eric Woerth, UMP-Abgeordneter für das Departement Oise, war der Meinung, dass "die persönliche Ehrlichkeit von Alain Juppé niemals in Frage gestellt wurde". Über das Urteil der Richter fügte er hinzu: "Es ist unfair von ihnen, ihre Arbeit auf diese Weise zu machen. Man müsste den Wählern erlauben zu entscheiden." Die vielleicht entlarvendste Bemerkung wurde von einem UMP-Mitglied vor laufenden Kameras gemacht: "Ich habe das nicht erwartet, ich dachte, die Justiz würde noch eine Hintertür finden."

Es ist offensichtlich, dass gerade diejenigen, die gegenüber der Elite derart nachsichtig sind und für generelle Straffreiheit eintreten, andererseits die ersten sind, die eine Verschärfung der repressiven Staatsmacht fordern, wie sie in den Vorschlägen von Justizminister Dominique Perben enthalten sind, die unter dem Namen Perben II bekannt wurden. Sie fordern erheblich erweiterte Polizeivollmachten zur Unterdrückung der Arbeiterjugend und ein Aufweichen der Bestimmungen zur Haftverschonung und der Gefangenenrechte. Ausgespart werden dabei Wirtschaftskriminalität oder finanzielle Korruption und all das, wessen sich Chirac und Juppé schuldig gemacht haben.

Das Urteil gegen Juppé enthüllt eine tiefgehende Korruption des politischen Lebens auf höchster Ebene, die bis in die Mitterrand-Jahre und noch weiter zurückreicht und auch die Außenpolitik betrifft und dabei bis nach Afrika hineinreicht, wie die Elf-Affäre demonstriert hat. (Siehe auch : "Urteile im Elf-Skandal enthüllen Korruption auf höchster Ebene").

Der Prozess über die fünf Millionen Dollar Schwarzgelder, die Jean-Charles Marchiani, ein hochrangiger gaullistischer Staatsdiener, bei seinen heimlichen Deals in Nigeria erhalten hatte, dauert noch an. In letzter Zeit wurden Urteile wegen ähnlicher Gesetzesverstöße wie die von Chirac und Juppé gegen Politiker der UMP, der Sozialistischen Partei und der Linken Republikaner sowie gegen weit rechts stehende Politiker gesprochen.

Zyniker pflegen zu sagen, ein Verbrechen sei erst dann eins, wenn es herauskomme. In diesen Kreisen hat der Zynismus ein solches Ausmaß erreicht, dass es auch kein Verbrechen mehr darstellt, wenn was herauskommt; man muss es nur durchstehen und versuchen, die Gesetze entsprechend zu beugen. Das entspricht der Haltung von Bush und Blair, die Lügen über die Existenz von Massenvernichtungswaffen verbreiteten und damit die Kolonisierung des Irak rechtfertigten - und die sich jetzt zu Lord Huttons Ehrenerklärung gratulieren können.

Die Richter im Juppé-Prozess hatten den Mut - sehr zur Überraschung und Bestürzung des politischen Establishments - den "Verrat am Vertrauen des souveränen Volks" bloßzustellen.

Wenn Richter die kriminellen Machenschaften hoher Gaullisten und Mitterrandisten unter die Lupe nehmen, sind auch die Mafiataktiken schon fast normal, mit denen man versucht, sie einzuschüchtern. Im Fall Elf wurde die Richterin Eva Joly praktisch unter permanente Polizeiüberwachung gestellt, und eine ganze Reihe wichtiger Zeugen starben unter hoch verdächtigen Umständen. Bei den Richtern im Juppé-Prozess wurde in ihre Büros in Nanterre eingebrochen, ihre Computer wurden durchforstet und sie selbst erhielten Todesdrohungen. Sie sahen sich gezwungen, vertrauliche Dokumente in persönlichen Laptops aufzubewahren, die nicht geknackt werden konnten.

Auf Seiten der Oppositionsparteien war die Reaktion bisher recht verhalten, denn auch sie sind nicht frei von solchen kriminellen Machenschaften. Die UMP, eine Koalition von rechten Parteien, deren Architekt Juppé war, steht stark unter Druck. Sie wurde gegründet, um die Parlamentswahlen zu gewinnen, nachdem Chirac in den Präsidentschaftswahlen 2002 mit Unterstützung der gesamten Linken gesiegt hatte. Dazu gehörte damals auch die sogenannte äußerste Linke, die Ligue Communiste Révolutionnaire, Parti des Travailleurs und Lutte Ouvriére, die den Vorschlag der WSWS abschlugen, den Zweikampf zwischen den zwei bürgerlichen Politikern, Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen, mit einem aktiven Boykott zu belegen.

Aus der jüngsten Affäre hat die Linke keinerlei politischen Vorteil ziehen können. Dagegen verschafft sie den präsidialen Ambitionen von Nicolas Sarkozy mächtig Auftrieb - dem Innenminister, der seine ganze politische Reputation darauf gründet, der Verschärfung der sozialen Krise in Frankreich mit einem immer stärkeren staatlichen Unterdrückungsapparat zu begegnen. Auch Le Pen kann vermutlich daraus Vorteil ziehen und sich in den bevorstehenden Regionalwahlen im März und den Europawahlen im Juni als Saubermann präsentieren.

Kein Politiker hat bis jetzt zum Rücktritt Chiracs und der Raffarin-Regierung aufgerufen, weil sie alle fürchten, dies könne eine Massenbewegung von unten gegen die existierende Ordnung stimulieren.

Siehe auch:
Agenda 2010 auf französisch
(3. Februar 2004)
Frankreich: Urteile im Elf-Skandal enthüllen Korruption auf höchster Ebene
( 28. November 2003)
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