Ein Briefwechsel zum Kopftuchverbot in Frankreich

Untenstehend veröffentlichen wir einen Leserbrief zum Artikel "Nationalversammlung verbietet das muslimische Kopftuch an Schulen " vom 24. Februar. Die Antwort des Autors, Alex Lefebvre, schließt sich an.

Lieber Herr Lefebvre,

mit Interesse las ich Ihre unterschiedliche Ansicht über das französische Gesetz, welches religiöse Symbole aus öffentlichen Schulen verbannt. Ich verstehe, dass solch ein Gesetz negative Auswirkungen haben kann. Die Kluft zwischen den religiösen Gruppen könnte sich vertiefen, das Verständnis füreinander dagegen geringer werden.

Ich selbst habe jedoch die beunruhigende Einmischung rechter Christen in die öffentlichen und politischen Belange der USA erlebt und sehne mich nach Politikern, welche mit Courage auf der Trennung von Staat und Kirche oder, wie es die Franzosen nennen, dem säkularen Staat bestehen.

Mein Empfinden ist, dass die Politiker der USA durch die christliche Rechte gründlich eingeschüchtert sind. Das jüngste Beispiel dafür bietet uns Howard Dean. Ursprünglich lehnte er es ab, Fragen zu seinem Glauben zu beantworten. Als die Fragen nicht nachließen, erklärte er, dass er selten in die Kirche gehe. Er beendete das Thema mit der öffentlichen Ankündigung sich zukünftig mehr dem Gebet und der Kirche zu widmen. Es war gelungen ihn einzuschüchtern. Er hätte imstande sein sollen, die Trennung von Staat und Kirche als Begründung anzuführen, eine Antwort auf diese Frage zu verweigern.

Aus der Haltung, welche die französischen Politiker gegenüber religiösen Symbolen eingenommen haben, schließe ich, dass das Prinzip des säkularen Staates für sie höher steht, als das der Religionsfreiheit. Die Religionsfreiheit scheint nämlich die Bedeutung der Religion zu erhöhen, anstatt ihr gegenüber eine neutrale Haltung einzunehmen.

Die Religion diente im Lauf der Geschichte dazu, Gräueltaten, Gewalt und Verfolgung zu begründen. Obwohl dies gut bekannt ist, erstreckt sich dieser Missbrauch der Religion leider nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart.

Der Gedanke, dass es den Menschen freistehen muss, an die Religion ihrer Wahl zu glauben, anerkennt eine unveränderliche Realität. Das heißt, der religiöse Gaube scheint so stark zu sein, dass Leute daran festhalten, unabhängig davon, was andere mit unterschiedlichem Glauben tun, um sie davon abzubringen.

Der Gedanke jedoch, dass es den Menschen freistehen muss, ihre Religion zu praktizieren wie immer sie es wollen, ist nicht selbstverständlich. Es ist zwingend nötig von außen in religiöse Praktiken einzugreifen, welche beispielsweise Menschenopfer beinhalten oder für andere Menschen Schaden, Herabsetzung oder Diskriminierung bedeuten, wie dies häufig der Fall ist.

Sie bemerken, dass Bildung eine wesentliche Voraussetzung sei, um die Säkularisierung oder religiöse Freiheit zu fördern und zu unterstützen. Ich stimme dem zu. Die Bildung, die diesbezüglich am wichtigsten ist, betrifft die historischen Exzesse religiöser Praktiken und den Unterschied zwischen religiösem Glauben, der schutzwürdig ist, und religiösen Praktiken, die kontrolliert werden müssen.

Weil sich das neue französische Gesetz meiner Meinung nach gegen religiöse Praktiken und nicht gegen den religiösen Glauben wendet, und weil ich erlebt habe, wie einige amerikanische Politiker von religiösen Demagogen eingeschüchtert wurden und andere selbst zu religiösen Demagogen werden, unterstütze ich die französische Regierung in dieser Frage.

Hochachtungsvoll,

AK

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Lieber AK,

vielen Dank für Ihren Brief. Ich verstehe ihre Abneigung gegen den Einfluss der christlichen Fundamentalisten auf die US-Politik, möchte aber gleich zu Beginn sagen, dass ich Ihre Einschätzung des französischen Anti-Kopftuch-Gesetzes nicht teile, denn offenbar ist es so, dass Sie die politische Situation in Frankreich fehl einschätzen und eine Auffassung von Religion und religiöser Freiheit haben, die wir nicht teilen.

Sie unterstützen das französische Anti-Kopftuch-Gesetz, weil Sie glauben, dass die Politiker damit das Prinzip der Trennung von Staat und Religion bekräftigen. Sie schreiben: "Ich sehne mich nach Politikern, welche mit Courage auf der Trennung von Staat und Kirche oder, wie es die Franzosen nennen, dem säkularen Staat bestehen." Sie stellen den Säkularismus, wie Sie ihn erstehen, der religiösen Freiheit gegenüber und bevorzugen den Erstgenannten, weil er dem Staat größere Einflussmöglichkeiten auf religiöse Praktiken gibt.

Ich kann dieser Haltung nicht zustimmen. Entweder gewährt man Glaubensfreiheit und mit ihr die Freiheit, den Glauben durch Handlungen auszudrücken, die anderen Menschen nicht schaden, oder man gewährt keine Glaubensfreiheit. Ihre Auffassung des "Säkularismus" bedeutet, dass jeder glauben kann, was er will, aber niemand das Recht hat, seinen Glauben um Ausdruck zu bringen, wenn er mit den Auffassungen des Staates kollidiert. Mehr kann keine Diktatur verlangen.

Wir haben unterschiedliche Vorstellungen über das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat. Sowohl historisch als vom Standpunkt der Verteidigung demokratischer Rechte betrachtet bedeutet das säkulare Prinzip der Trennung von Kirche und Staat keineswegs, dass die politische Elite das Recht hat, das religiöse Leben zu kontrollieren. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet, dass der Staat kein Recht hat, dem privaten oder religiösen Glauben der Menschen seine Ansichten aufzuzwingen. So gesehen ist es falsch und letzten Endes reaktionär, eine Unterscheidung zwischen der Trennung von Kirche und Staat und der Gewissens- oder Glaubensfreiheit zu treffen.

Dieses Konzept der Säkularismus impliziert keine Illusionen hinsichtlich der Religion selbst. Die Religion ist eine fantastische Reflektion der materiellen Realität, entstanden aus dem Unverständnis und der Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen und gesellschaftlichen Welt. Wir betrachten die Religion jedoch nicht als eine ewige und unwandelbare Realität. Wir sehen sie als etwas Dynamisches an, bestimmt durch sozio-politische Entwicklungen und verbunden mit dem Kampf der Menschheit für ihre soziale und geistige Befreiung.

Religiöser Aberglaube wird nur durch die Beseitigung der Klassenspaltung der Gesellschaft und die Entwicklung des Sozialismus, der eine bedeutende Hebung der Produktivkraft der Menschheit und ihrer Kultur mit sich bringt, vollständig verschwinden. Dies setzt eine revolutionäre Umgestaltung voraus, die das kapitalistische Ausbeutungssystem beseitigt und es den Menschen ermöglicht, ihr gesellschaftliches Leben bewusst und rationell entsprechend ihren Bedürfnissen zu gestalten.

Die materiellen und psychologischen Quellen der Religion werden im Zuge eines großen Fortschritts in der materiellen und geistigen Kultur der Menschheit fortgespült. Der erste Schritt dieses Prozesses umfasst die politische Reifung und die Hebung der Moral der arbeitenden Massen im Verlauf ihres sozialen Kampfes gegen den Kapitalismus und für die Errichtung des Sozialismus.

Unter kapitalistischen Verhältnissen bleibt die Umsetzung des säkularen Prinzips und seiner Entsprechung, der Religionsfreiheit, stets unvollständig, halbherzig und heuchlerisch. Religion ist nur eine der Mystifikationsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der gesellschaftliche und arbeitsteilige Aneignungsprozess der Natur auf der jeweils historisch erreichten Entwicklungsstufe vor sich geht. Die Formen der gesellschaftlichen Produktion im Kapitalismus verdecken die wirklichen Beziehungen in denen Kapital und Arbeit zueinander stehen. Es entsteht die Illusion, als fände zwischen Kapital und Arbeit ein Austausch von Äquivalenten statt. Dadurch, dass die Arbeitskraft auf einer geschichtlichen Entwicklungsstufe selbst eine Ware wird, welche sich dem Kapital auf dem Arbeitsmarkt anbietet, erscheint es so, als würde ein ‚Geschäft' stattfinden, bei dem auf der einen Seite die Arbeit verkauft und auf der anderen gekauft wird. Der wirkliche Charakter, die Ausbeutung, versteckt sich hinter der Form des Austausches gleicher Werte.

Diese grundlegende Mystifikation generiert alle Arten falscher oder verdrehter Konzeptionen der Erklärung der Welt, eingeschlossen der religiösen Formen. Hinzu kommt, dass die herrschende soziale Klasse ein weitgehendes Interesse daran hat, die Massen in ihren Illusionen zu halten. Die Religion ist ein lange erprobtes und bewährtes Mittel dazu, die Menschen in Desorientierung und Unwissenheit zu halten.

Der Ruf nach dem bürgerlichen Staat, um ihn regeln zu lassen, was religiös statthaft sein sollte, kann die Menschheit nicht dem Tag näher bringen, an dem sie von geistiger Befangenheit und Aberglauben befreit sein wird. Im Gegenteil. Solch eine Politik verstärkt die Illusionen über den Staat und erhöht die Hindernisse, die den Massen im Weg stehen, wenn sie versuchen die Welt zu verstehen, um sie zu verändern.

Die Geschichte des demokratischen Kampfes für die Trennung von Staat und Kirche und gegen staatliche Unterstützung der Religion, wie er sich in den amerikanischen Kolonien entwickelte und im revolutionären Unabhängigkeitskrieg sowie der Errichtung der vereinigten Staaten als Republik gipfelte, unterstreicht die Verbindung zwischen dem säkularen Prinzip auf der einen Seite und der Glaubensfreiheit auf der andern Seite.

Obwohl die anfänglichen Kolonialansiedlungen größtenteils von Flüchtlingen der religiösen Verfolgung in Europa gegründet wurden, kam es in der Neuen Welt doch zu vielen theokratischen Regierungen (vor allem der Massachusetts Bay Colony.) Die religiöse Atmosphäre dieser Zeit fand ihren tragischsten Ausdruck in den Hexenprozessen von 1692 in Salem.

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts jedoch verloren die theokratischen Konzeptionen gegenüber den demokratischen und antiklerikalen Prinzipien der europäischen Aufklärung an Boden. William Nelson schreibt in The Americanization of the Common Law zu den Veränderungen im Recht des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts : "Zusammengenommen bewirkten die verschiedenen liberalisierenden Veränderungen im Recht weit mehr als nur einen Umbau der Institutionen, die Sicherung der Prozessrechte Angeklagter und die Gewährung gleicher Rechte für gewisse, bisher unterprivilegierte Klassen. Diese Veränderungen trugen bedeutend dazu bei, das aus der vorrevolutionären Zeit geerbte Ideal abzubauen, wonach der Zusammenhalt von Gemeinwesen auf gemeinsamen ethischen Ziele beruht."

Die aufkommende Stimmung zugunsten einer Trennung von Kirche und Staat war so eng verknüpft mit der wachsenden Bewegung für persönliche und religiöse Freiheit in der Anfangszeit des Bestehens der USA.

James Madison brachte diese Ideale in einer Schrift deutlich zum Ausdruck, die gegen die Finanzierung religiöser Institutionen in Virginia durch Steuergelder eintrat. Er schrieb: "Die Religion... eines jeden muss der Überzeugung und dem Gewissen eines jeden überlassen bleiben; und es ist das Recht eines jeden, sie nach ihren eigenen Vorschriften auszuüben. Dieses Recht ist seiner Natur nach ein unveräußerliches. Es ist deshalb unveräußerlich, weil die Meinungen, welche die Menschen haben, einzig davon abhängen, welche Bedeutung ihr eigenes Denken ihnen beimisst. Diese Meinungen können nicht den Vorgaben anderer Menschen folgen."

Gemessen an dieser historischen Auffassung des Säkularismus ist die Behauptung, die Raffarin Regierung verteidige die Trennung von Staat und Kirche, indem sie gegen eine religiöse Minderheit vorgeht, absurd. Das angebliche säkulare Engagement der Raffarin-Regierung ist ein konkretes Beispiel für die heuchlerische und unbeständige Position, welche die herrschenden kapitalistischen Eliten gegenüber dieser wie allen anderen demokratischen Fragen einnehmen.

Die französische Regierung selbst betrachtet ihre Kampagne "für den Säkularismus" nicht als Ausdruck einer "neutralen Haltung" gegenüber der Religion, wie Sie es sagen. Ein gemeinsamer Nenner aller Regierungserklärungen in der Kopftuchdebatte ist die Notwendigkeit, die Religion zu fördern und zu stärken. Premierminister Raffarin sagte beispielsweise dem Journal du Dimanche am 25. Januar: "Unsere Gesellschaft braucht Hoffnung, und deshalb bin ich gegen einen aggressiven Säkularismus." Raffarin, selbst praktizierender Katholik, erzählte seinem Interviewer anschließend, er habe sich oft mit dem Pariser Erzbischof getroffen, um seine Absichten zur Ausgestaltung und Umsetzung des Gesetzes zu diskutieren.

Wie jedermann weiß, zielt das Kopftuchverbot nicht auf eine allgemeine religiöse Abstinenz an Schulen, sondern es richtet sich gegen den Ausdruck der Religiosität der muslimischen Minderheit. Gegenüber den etablierteren Religionen machen Raffarin und der französische Staat alle möglichen Zugeständnisse.

Die ganze Verlogenheit des Anti-Kopftuch-Kreuzzuges der Raffarin Regierung wird sichtbar, wenn man ihre Verbindungen zur Katholischen Kirche betrachtet. Vielleicht das schreiendste Beispiel der staatlichen Einmischung in religiöse Belange ist der besondere Status der drei Departments Moselle, Haut-Rhin und Bas-Rhin im nordöstlichen Frankreich. Da diese Gebiete zwischen dem Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 und dem ersten Weltkrieg in deutscher Hand waren, ist das französische Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche aus dem Jahre 1905 dort nicht wirksam. Stattdessen entstand dort eine bizarre Kombination von Rechten aus der Napoleonära und dem deutschen Kaiserreich, die drei offizielle Religionen anerkennt - katholisch, protestantisch und jüdisch. Amtsträger dieser drei Religionen (nicht aber islamische) werden als Staatsbeamte anerkannt und besoldet. Schüler an öffentlichen Bildungsanstalten müssen den Unterricht in einer dieser drei Religionen wählen, oder einen beschwerlichen Weg durch Ämter zu gehen, um ihre Befreiung zu erwirken.

Man kann auch auf die großzügige Finanzierung privater Schulen hinweisen, die staatliche Unterstützung bekommen. Überwiegend handelt es sich um katholische Schulen. Das Budget des französischen Bildungsministeriums weist von den Gesamtausgaben von 55,5 Mrd. Euro über 10 Prozent - 6,8 Mrd. Euro - für die Finanzierung privater Schulen aus. Zusätzlich zur Bezahlung von Lehrern dieser Schulen gibt der Staat Geld für Lehrbücher, Schulmaterial und Stipendien aus.

Das Bild, welches Raffarin vom Kampf der Regierung gegen religiöse Demagogie verbreitet, und die Realität, in der die Regierung die Katholische Kirche massiv finanziell unterstützt und ihre eigenen prochristlichen Sympathien kaum versteckt, passen schlecht unter einen Hut. Ergänzt wird dieses Bild noch dadurch, dass man die Religion der Immigranten diskriminiert und damit Fremdenfeindlichkeit schürt, die sich dann zuallererst gegen muslimische Mädchen an öffentlichen Schulen richtet.

Freundliche Grüße,

Alex Lefebvre

Siehe auch:
Das Kopftuchverbot: Stellungnahme eines Lehrers aus Frankreich
(1. April 2004)
Nationalversammlung verbietet das muslimische Kopftuch an Schulen
( 24. Februar 2004)
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