Frankreich: Demonstrationen gegen Bush und Gesundheitsreform

Am 5. Juni fanden in Frankreich am selben Tag Demonstrationen gegen den Besuch von US-Präsident George W. Bush und gegen die Sozialpolitik der Regierung von Jean-Pierre Raffarin statt.

Bush hatte am Vortag Rom besucht, wo Zehntausende gegen ihn und seinen Kriegspartner Silvio Berlusconi demonstrierten, und war nun in Frankreich, um mit sechzehn weiteren Staatsoberhäuptern an den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Landung in der Normandie teilzunehmen.

Lässt man die Fototermine und die hohlen Phrasen über Freiheit, Demokratie und alte Freundschaften beiseite, so bot die Reise Bush die Gelegenheit, um Unterstützung für die Bemühungen der USA zu werben, ihren Krieg gegen den Irak und dessen koloniale Besetzung zu legitimieren.

Der Besuch fand nur acht Tage vor der Europawahl statt, in der der regierenden UMP, der Partei von Chirac und Raffarin, nach der verheerenden Niederlage bei den Regionalwahlen voraussichtlich neue Stimmenverluste an die Sozialisten und ihre Verbündeten bevorstehen. In den Wahlumfragen liegt die UMP derzeit zehn Prozentpunkte hinter den Sozialisten.

Die Demonstration gegen Bush in Paris fiel mit landesweiten Protesten zusammen, die von den Gewerkschaften gegen die Angriffe der Regierung auf das Gesundheitssystem organisiert wurden. Wie stets war die Demonstration in Paris die größte. Die "Konkurrenz" zwischen den beiden Ereignissen führte zu einem lächerlichem Gerangel zwischen den Organisatoren der Anti-Bush-Demonstration und den Organisatoren der Gewerkschaftsdemonstration. Sie taten so, als wären die jeweiligen Demonstrationen exklusiv und unvereinbar.

Laut Angaben der Gewerkschaften nahmen landesweit etwa 250.000 Menschen an ihren Demonstrationen teil, weit weniger als im Frühjahr des vergangenen Jahres, als etwa zwei Millionen zur Verteidigung der Renten und des nationalen Bildungssystems auf die Straße gingen. Die Polizei nannte weit niedrigere Zahlen.

Die weitreichende Mobilisierung und die ausgedehnten Streiks des Jahres 2003 waren von der Gewerkschaftsbürokratie mit Hilfe der Parteien der Linken und der "extremen Linken" abgewürgt worden. Das hat dazu geführt, dass viele Arbeiter gewerkschaftlichen Aktionen misstrauen.

Die Pariser Demonstration, an der sich laut CGT 50.000 und laut Polizei 10.000 beteiligten, begann um 14 Uhr und zog vom Place de la République zum Place de la Nation. Die Demonstration gegen Bush, an der 10.000 teilnahmen, begann um 18 Uhr. Sie bewegte sich von der Bastille zum Gare de l'Est.

Die Pariser Demonstration zur Verteidigung des Gesundheitswesens setzte sich überwiegend aus Arbeiterkontingenten aus dem Automobilsektor, den Eisenbahnen und den Krankenhäusern zusammen, die hinter den Fahnen der CGT marschierten. Die CGT ist die größte Industriegewerkschaft und steht traditionell der Kommunistischen Partei nahe. Im hinteren Teil des Zuges gab es kleinere Kontingente anderer Gewerkschaften - der Erziehungsgewerkschaft FSU, von FO, UNSA, G10 und CFE-CGC. Die CFDT, die lose mit der Sozialistischen Partei verbunden ist, marschierte ganz am Schluss, und ihr Führer François Chérèque reihte sich nicht bei den anderen Gewerkschaftsführern ein, die an der Spitze des Zuges marschierten.

Politische Organisationen befanden sich - abgesehen von der MJS, der Jugendorganisation der Sozialisten - nicht auf der Demonstration. Die KPF verteilte am Rande der Demonstration Flugblätter als Wahlwerbung für die Europawahl am 13. Juni. Dasselbe taten die pseudotrotzkistischen Parteien Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO), die zur Europawahl eine gemeinsame Liste bilden. Sie standen am Rande der Demonstration auf den Bürgersteigen bei ihren jeweiligen Führern, Arlette Laguiller und Alaine Krivine, beteiligten sich aber nicht am Demonstrationszug.

Viele Flugblätter, die an die Demonstranten verteilt wurden, schilderten die Folgen der Gesundheitsreform der Regierung, die der Kostensenkung dient: für jeden Arztbesuch soll zukünftig ein Euro entrichtet werden; die Krankenhausgebühren steigen von 13 auf 14 Euro pro Tag; Ärzte dürfen nicht mehr alle Medikamente verschreiben; Patienten, die einen weiteren Arzt aufsuchen, weil sie mit der Diagnose des ersten Arztes nicht zufrieden waren, sollen überprüft und wegen "Missbrauchs" bestraft werden; die Sozialbeiträge sollen voraussichtlich - auch für Rentner - erhöht werden.

Diese Maßnahmen werden zu einem starken Anwachsen der privaten Versicherungen führen - für diejenigen, die es sich leisten können. Viele Flugblätter hoben hervor, dass das Finanzierungsdefizit des Gesundheitssystems nicht dem Missbrauch oder Betrug durch Patienten geschuldet ist. Die eigentlichen Ursachen dafür seien die gesunkenen Einnahmen wegen der hohen Arbeitslosigkeit sowie die Senkung der Abgaben und Steuern für Unternehmer.

Alle, die zum Protest gegen die Regierung aufriefen, unterstellten, diese könne durch den Druck der Straße und gewerkschaftliche Aktionen dazu gebracht werden, ihre geplanten Maßnahmen zurückzunehmen und sogar Sozialmaßnahmen im Interesse der Lohnabhängigen durchzuführen. Beispielsweise forderte ein Flugblatt der LCR der Somme-Region nicht, die Regierung zum Rücktritt zu zwingen, sondern man müsse die Regierung dazu bringen, "unser auf Solidarität basierendes Sozialsystem zu bewahren und zu verbessern".

Es gab nur sehr wenige Flugblätter, die sich zum Irakkrieg äußerten, und es gab keine Bemühung der Gewerkschaften oder der Organisatoren der Anti-Bush-Demonstration, die Teilnehmer zu bewegen, sich auch der Demonstration um 18 Uhr anzuschließen.

Unterstützer der World Socialist Web Site verteilten auf beiden Demonstrationen Flugblätter und wiesen auf den Zusammenhang zwischen dem Sozialabbau und dem Angriff auf Arbeiterrechte einerseits und der Explosion des amerikanischen und europäischen Militarismus andererseits hin. Das Flugblatt trug den Titel "Ein Jahr nach der Besetzung des Irak durch die USA" und erklärte: "Wir weisen die Haltung derjenigen zurück, die eine sozialistische Alternative mit der Begründung ablehnen, es gehe nur darum Bush loszuwerden. Eine solche Position ignoriert die Ursachen des Militarismus, des Krieges und der sozialen Reaktion: Die Krise des amerikanischen und Weltkapitalismus."

Das Flugblatt kündigte eine öffentliche Versammlung der Unterstützer des WSWS für den 8. Juni in Paris an. Es rief zur Einheit der Arbeiterklasse der ganzen Welt gegen den amerikanischen Militarismus auf und stellte die Forderung nach den Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas der Europäische Union gegenüber. Im Unterschied zu den andern linken Organisationen begrüßten die WSWS- Unterstützer die Möglichkeit, auf das Gemeinsame hinzuweisen, das die beiden Demonstrationen verband.

60 Jahrestag der Landung in der Normandie

Das gesamte politische Establishment Frankreichs verteidigt den Mythos, der amerikanische Imperialismus habe als selbstloser Befreier in den zweiten Weltkrieg eingegriffen, und nicht um ihren Status als vorherrschende Weltmacht insbesondere gegen die Sowjetunion zu behaupteten. Heute, da die Maske des Befreiers und der Friedensmacht arg verrutscht ist und die USA zur einzigen Supermacht in der globalisierten Welt geworden sind, bemüht sich das französische Establishment - links wie rechts - darum, die Maske wieder zurechtzurücken. Anders könnte es seine Unterstützung des amerikanischen Imperialismus und den Versuch, Nutzen aus dem Neokolonialismus zu ziehen, kaum rechtfertigen.

Obwohl sie angeblich die Besetzung des Irak durch die USA ablehnen, haben die Sozialisten entschieden, so schrieb am 5. Juni Le Monde, "sich von jeder Anti-Bush-Demonstration zu distanzieren". Sie fürchten, als "Regierungspartei" in Verbindung mit einer Demonstration gebracht zu werden, wo "Leute ‚Bush geh nach Hause' rufen", wie es der Vorsitzenden der Sozialistischen Partei auf einer Europawahlveranstaltung am 1. Juni formulierte.

Claude Bartolone, der Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit der Partei, erklärte, es komme nicht in Frage, dass sich die PS "an Demonstrationen beteiligt, auf denen sie mit grobem Antiamerikanismus in Verbindung gebracht wird... Wir haben hinsichtlich unserer Position zum Irak kein Verlangen, uns mit unschönen Aktionen aus Sicht der Amerikaner noch mehr ins schlechte Licht zu rücken." Kein sozialistischer Bürgermeister, Kommunalpolitiker oder Abgeordneter aus der Normandie solle die geplante Veranstaltung mit Bush in Caen brüskieren. Ebenso wenig die eingeladenen bekannten Sozialisten, wie Laurent Fabius.

Le Monde bemerkte am 5. Juni: "Die großen Organisationen der Linken verschwendeten nicht viel Energie darauf, gegen die Anwesenheit Bushs am 5. Juni in Paris zu protestieren. Sicher, die meisten von ihnen unterzeichneten den Aufruf, an diesem Tag unter der Schirmherrschaft der Bewegung für den Frieden zu demonstrieren." Der Aufruf wandte sich dagegen, dass das Gedenken "an die Opfer der Nazibarbarei," an "die Männer und Frauen die ihr Leben gaben, damit Europa und die Welt frei von Rassismus und Faschismus sind", benutzt wir, "um imperialistische Ziele zu legitimieren".

Die CGT, die die Anti-Bush-Demonstration offiziell unterstützte, rief ihre Mitglieder nicht auf, sich daran zu beteiligen. "Es stand außer Frage, dass CGT-Führer Bernard Thibault die Mobilisierung für ‚la Sécu' (soziale Sicherheit) gefährden würde", schrieb Le Monde.

"Die KPF war vorsichtig. Sie schlug vor, die Demonstration gegen Bush um einen Tag zu verlegen." Ihr Blatt, die l'Humanité, erwähnte die Demonstration für die Sozialsysteme in der vergangenen Woche fünfmal auf ihrer Titelseite und spielte die Demonstration gegen Bush herunter. Arielle Denis von der Bewegung für den Frieden sagte, es seit politisch unmöglich, die Anti-Bush-Demonstration auf den 6. Juni zu verlegen. Es würde dann so aussehen, als seien sie gegen die Gedenkfeierlichkeiten zum D-Day und die Befreiung gerichtet. Das sei auch für die KPF unmöglich, da viele ihrer Bürgermeister und Amtsträger an den Feierlichkeiten teilnehmen würden.

Die Organisation der Anti-Bush Demonstration lag in den Händen einer Dachorganisation, Agir contre la guerre (Handeln gegen den Krieg), und wurde aktiv von der LCR, verschiedenen Unterstützergruppen der Palästinenser und einem Solidaritätskomitee für Tschetschenien unterstützt. Viel Raum erhielt die Organisation "Amerikaner gegen den Krieg." Ihre Hauptlosung war: "Freiheit und Unabhängigkeit für den Irak, Abzug aller Besatzungstruppen - Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie in Nahost."

Die größten Kontingente auf der Demonstration bestanden aus Blöcken von etwa 5.000 überwiegend jungen Leuten, die mit Solidaritätstransparenten für Palästina und Bannern von Agir contre la guerre marschierten. Einige Hundert waren als Anhänger der LCR und LO erkennbar. Etwa 200 bildeten eine FSU-Delegation, und eine PCF-Gruppe machte Wahlwerbung für Francis Wurtz, einen PCF-Kandidaten zur Europawahl.

Außer auf den Flugblättern der WSWS wurde auf keiner der beiden Demonstrationen die Forderung nach der Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft als Mittel zur Überwindung des Militarismus und der Angriffe auf die soziale Lage der Lohnabhängigen aufgestellt.

Die WSWS sprach mit dem CGT-Mitglied Jean Marc Calvet, Angestellter einer Klinik, der mit seiner 17-jährigen Tochter an der Sécu-Demonstration teilnahm. Er ist der Gewerkschaftsvertreter für 1.500 Arbeiter des Krankenhauses in Seine et Marne bei Paris. Er sprach über den Misserfolg des Kampfes gegen die Rentengesetzgebung im Jahre 2003 und sagte: "Wenn wir fünf Millionen auf die Straße gebracht hätten, so hätten wir uns durchsetzen können." Er ist der Meinung, die Menschen hätten die Situation nicht richtig verstanden. Er stellte fest, dass im Jahr 2003 mehr Leute auf den Straßen waren als heute, und sagte, es sei schwer die Leute in seinem Krankenhaus zu mobilisieren.

Er war der festen Meinung, dass Arbeitervertreter nicht an der Zeremonie mit Bush teilnehmen sollten. "Chirac legitimiert Bush und Bush stärkt Chirac und Raffarin." Auf die Frage, was er über die Kontroversen zur zeitlichen Festlegung der Demonstrationen denke, sagte er, er sei der Meinung, diese sollten getrennt sein. Dann fügte er aber hinzu: "Ich denke auch, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Krieg und den Angriffen auf die Sozialsysteme gibt."

Siehe auch:
Agenda 2010 auf französisch
(3. Februar 2004)
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