Der Marxismus und die politische Ökonomie Paul Sweezys

Teil 6: Die Arbeiterklasse wird abgeschrieben

Dies ist der sechste Teil einer Artikelserie von Nick Beams, einem Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site , die sich mit Leben und Werk des radikalen politischen Ökonomen Paul Sweezy befasst. Der Gründer und erste Herausgeber der Monthly Review ist am 27. Februar 2004 in Larchmont, New York, gestorben.

Die Hinwendung Sweezys zur "Unterkonsumtionstheorie" war ein Ergebnis der äußeren Umstände, unter denen das "Monopolkapital" entworfen und geschrieben wurde. Das Jahrzehnt von Mitte fünfziger bis Mitte sechziger Jahre erlebte den Höhepunkt des wirtschaftlichen Nachkriegsbooms. In dieser Zeit, als große Konzerne, wie die Autohersteller, in der Lage waren, die Preise selbst zu bestimmen, Produktionsziele festzulegen und den zu erzielenden Profit vorauszuplanen, und als alle Vorhersagen über einen "Zusammenbruch" scheinbar sehr weit hergeholt waren, schien das zentrale Problem des Kapitalismus eher in der Absorption des Mehrwerts als in seiner Produktion zu bestehen.

Sweezy verstand seine Analyse als eine Modernisierung des Marxismus, die diesen auf den neuesten Stand bringen sollte, und als Überwindung der theoretischen Sterilität, die die Nachkriegsjahre gekennzeichnet hatte. Es ging aber um wesentlich mehr als um eine Verschiebung des Schwerpunkts - um eine stärkere Betonung der "Unterkonsumtion" anstelle des tendenziellen Falls der Profitrate. Vielmehr gab Sweezy damit die historische Perspektive von Karl Marx auf, wonach der Kampf für den Sozialismus im Verständnis der objektiven Notwendigkeit wurzelt, den Kapitalismus zu stürzen. Für Marx war das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate Ausdruck der Tatsache, dass das Kapital selbst zum Hindernis für seine eigne weitere Ausdehnung wird. Eine höhere Form der gesellschaftlichen Produktion wird notwendig, um den Fortschritt der menschlichen Zivilisation, den der Kapitalismus in Gang gesetzt hat, zu ermöglichen.

Aber wenn, wie Sweezy behauptet, das Kapital tatsächlich fähig ist, endlos Mehrwert zu erzielen, dann hat sich diese historische Perspektive überholt. Rosa Luxemburg hatte das sehr klar erkannt: "Nehmen wir hingegen mit den ‚Sachverständigen' die ökonomische Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation an, dann schwindet dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter den Füßen. Wir verflüchtigen uns alsdann in die Nebel der vormarxschen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klassen ableiten wollten." [26]

Sweezy folgte genau diesem Weg. Im "Monopolkapital" wurzelt die sozialistische Perspektive nicht in den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise. Vielmehr wird sie als Mittel hingestellt, die Irrationalitäten der kapitalistischen Produktionsweise und ihre Widerspiegelung im täglichen Leben zu überwinden. "Denn hinter der Hohlheit, der Entwürdigung und dem Leiden, das die menschliche Existenz in dieser Gesellschaft vergiftet, befindet sich die tiefreichende Irrationalität und der moralische Bankrott des Monopolkapitalismus selbst... Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die einzige Rationalität darin liegt, das hoffnungslos irrational gewordene System umzustürzen." [27]

Ironischerweise drängten die Widersprüche im Akkumulationsprozess gerade zu der Zeit wieder an die Oberfläche, als Sweezy sie überwunden glaubte. Diese Ironie trifft man häufig in der theoretischen Entwicklung von Leuten, die Marx verbessern wollen. Seit Mitte der sechziger Jahre begann die Profitrate zu sinken. Mit Beginn der siebziger Jahre trat der Weltkapitalismus in seine schwerste Krise seit den dreißiger Jahren ein.

Die Neue Linke

Die wachsende Krise war sowohl Ursache wie auch Folge des Aufschwungs der Kämpfe der Arbeiterklasse, und das traf auch auf die Vereinigten Staaten zu. In der Zeit von 1968 bis 1975 nahmen diese Kämpfe in mehreren Ländern revolutionäre Ausmaße an. Sweezy aber hatte aufgrund seiner Theorie der unbeschränkten Mehrwertakkumulation die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse schon abgeschrieben - zumindest in den entwickelten kapitalistischen Ländern.

Die Frage, welche soziale Kraft die Basis für den Sturz des Kapitalismus bilden könne, wurde im "Monopolkapital" so beantwortet: "Die Antwort der traditionellen Marx-Orthodoxie - dass das Industrieproletariat sich schließlich in einer Revolution gegen seine kapitalistischen Unterdrücker erheben muss - klingt nicht länger überzeugend. Die Industriearbeiter sind eine verschwindende Minderheit der amerikanischen Arbeiterklasse, und ihr organisierter Kern in den Grundstoffindustrien ist in großem Maße als Konsumenten und ideologisch abgerichtete Mitglieder der Gesellschaft in das System integriert. Sie sind nicht wie in Marx' Tagen die besonderen Opfer des Systems, obwohl sie zusammen mit allen anderen Klassen und Schichten unter seiner Naturwüchsigkeit und Irrationalität leiden - mehr als einige, weniger als andere."

Zur Bekräftigung fuhr Sweezy fort: "Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die inneren Triebkräfte des entwickelten Monopolkapitalismus beschränken, ist der Schluss kaum zu umgehen, dass eine schlagkräftige revolutionäre Aktion nur eine dürftige Aussicht hat, das System zu stürzen. Aus diesem Blickwinkel gesehen, dürfte der wahrscheinlichere Verlauf der Entwicklung eine Fortsetzung des gegenwärtigen Verfallsprozesses sein, wobei der Widerspruch zwischen dem Zwang des Systems und den elementaren Bedürfnissen der menschlichen Natur immer unerträglicher wird. Das logische Ergebnis wäre die Verbreitung immer heftigerer psychischer Störungen, die zu der Schwächung und schließlichen Unfähigkeit des Systems führen muss, nach seinen eigenen Bedingungen zu funktionieren."

Hoffnung am Horizont boten aber die Kämpfe, die gegen den amerikanischen Imperialismus ausbrachen - die kubanische Revolution und der Vietnamkrieg. Sweezy erklärte: "Die höchste Form des Widerstands ist der revolutionäre Krieg mit dem Ziel, sich aus dem kapitalistischen Weltsystem zu lösen und Gesellschaft und Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage neu aufzubauen." [28]

Diese Massenkämpfe spielten seit Mitte der sechziger Jahre eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung der studentischen Jugend in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Aber die Studentenbewegung kündigte nur einen tiefer liegenden Prozess an. Wie so oft nahm die Bewegung einer unbeständigen Schicht der Gesellschaft, der Studenten, größere Klassenkämpfe vorweg.

In der Studentenbewegung herrschten alle möglichen Vorurteile und verwirrten Meinungen vor - besonders hinsichtlich der Rolle der Arbeiterklasse. Das war nicht anders zu erwarten, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo die antikommunistische Gewerkschaftsführung im kalten Krieg eine so üble Rolle gespielt und die Arbeiterklasse politisch entwaffnet hatte.

Aber wie die Passagen aus dem "Monopolkapital" zeigen, hat Sweezy nicht gegen die falschen Vorstellungen der Studenten angekämpft, sondern dazu beigetragen, sie zu verstärken. Er tat dies gemeinsam mit den politischen Tendenzen, die später als "Neue Linke" bezeichnet wurden. Er schrieb die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ab und glorifizierte die nationalen Befreiungskämpfe der sogenannten dritten Welt.

Sweezy hielt zwar formal am internationalen Charakter des Sozialismus fest, verstand die sozialistische Revolution aber als eine Reihe nationaler Kämpfe, deren erster zur Entstehung der Sowjetunion geführt hatte. In den sechziger Jahren, nach den Enthüllungen in Chrustschows "Geheimrede" auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, war es für viele Intellektuelle wie Sweezy unmöglich geworden, die Verbrechen des Stalinismus und die dadurch herbeigeführten Katastrophen zu leugnen. Aber sie behielten ihre wesentlich nationale Sichtweise bei. Sie zogen keine gründliche Bilanz der Ursachen für die Degeneration der russischen Revolution. Sie übertrugen ihre Sympathien einfach auf Castro und Mao.

Diese Orientierung brachte Sweezy der pablistischen Tendenz näher, die sich in der Vierten Internationale entwickelt hatte, und die ebenfalls die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zurückwies. Anfang der fünfziger Jahre entwickelten Michel Pablo und sein enger Mitarbeiter Ernest Mandel die Auffassung, die Perspektive der 1938 von Trotzki gegründeten Vierten Internationale müsse verändert werden, um sie mit der "neuen Weltrealität" in Einklang zu bringen. Der Sozialismus wurde nicht mehr als Ergebnis des unabhängigen Kampfs der Arbeiterklasse unter der Führung der revolutionären Partei gesehen. Statt dessen erwarteten sie, dass er sich aus dem Konflikt "des kapitalistischen Regimes mit der stalinistischen Welt" ergeben, und in einem Jahrhunderte langen Prozess zur Bildung von deformierten Arbeiterstaaten führen werde.

Anfang der sechziger Jahre kamen sich Monthly Review und die Pablisten näher. Huberman und Sweezy nahmen enge Beziehungen zur Castro-Führung auf. Zur gleichen Zeit behaupteten die Pablisten, das Epizentrum der Weltrevolution habe sich auf den antiimperialistischen Kampf verlagert. Sie erklärten Castro zu einem "natürlichen Marxisten", der auf Kuba einen Arbeiterstaat geschaffen habe.

Die neue Verbindung wurde Ende der sechziger Jahre dadurch symbolisiert, dass Harry Braverman, ein ehemals führendes Mitglied der pablistischen Cochran-Clarke Tendenz, die sich 1952 von der amerikanischen Socialist Workers Party abgespalten hatte, die Verantwortung für den Verlag der Monthly Review übernahm.

Fortsetzung folgt

Anmerkungen:

26. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Eine Antikritik, in Ges. Werke Band 5, Berlin 1990, S. 446

27. Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, Monopolkapital, Suhrkamp 1967, S. 346-78

28. Baran und Sweezy, ibid., S. 347-48

Siehe auch:
Teil eins: Frühe Einflüsse
(2. Juni 2004)
Teil zwei: Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung
( 3. Juni)
Teil drei: Die Zusammenbruchstheorie
( 4. Juni)
Teil vier: "Monopolkapital"
( 5. Juni)
Teil fünf: "Die steigende Tendenz des Surplus"
( 9. Juni)
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