Polnisches Parlament fordert Reparationsleistungen von Deutschland

"Die Wunden im deutsch-polnischen Verhältnis sind auch 65 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht verheilt, sondern höchstens vernarbt." Mit diesen Worten kommentierte eine führende deutsche Tageszeitung den Beschluss des polnischen Parlaments, von Deutschland Reparationszahlungen für die Schäden des Zweiten Weltkriegs zu verlangen. (FAZ Net 11. September 2004)

Am 10. September hatte der Sejm die polnische Regierung ohne Gegenstimme und mit nur einer Enthaltung aufgefordert, entsprechende Ansprüche geltend zu machen. In dem Resolutionstext heißt es: "Im Bewusstsein der Rolle der historischen Wahrheit und grundlegenden Gerechtigkeit in den deutsch-polnischen Beziehungen stellt der Sejm der Republik Polen fest, dass Polen bislang keine angemessene finanzielle Kompensation und Kriegsreparationen für das Ausmaß der Zerstörungen sowie die materiellen und immateriellen Verluste erhalten hat, die durch die deutsche Aggression, Besatzung, Völkermord und Verlust der Unabhängigkeit Polens verursacht wurden." Und weiter unten: "Der Sejm... fordert die Regierung auf, angemessene Maßnahmen in dieser Angelegenheit gegen die Regierung der Bundesrepublik zu ergreifen."

Die politische Elite Deutschlands reagierte parteiübergreifend mit Empörung.

Der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) sagte, Entschädigungsforderungen, "von welcher Seite auch immer", passten nicht in die heutige Zeit, das "geistige Aufrüsten mit überlebten Forderungen" müsse beendet werden. Der SPD-Politiker Peter Glotz, selbst aktives Mitglied in Vertriebenenverbänden, rief Polen auf, den "national-katholischen Fundamentalismus zurückzudrängen".

Der CDU-Politiker und Vertriebenenfunktionär Erwin Marschewski sagte, Polen habe 1953 "auf weitere Reparation nach Inbesitznahme der deutschen Ostgebiete verzichtet" und dies 1991 bestätigt. Der Sejm-Beschluss sei daher rechtlich und politisch "absurd".

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt die Bundesregierung. Ihrer Auffassung nach wurde die Reparationsfrage im Potsdamer Abkommen von 1945 geregelt. Darin hatten die Siegermächte festgelegt, dass die Sowjetunion 15 Prozent der aus Ostdeutschland entnommenen Reparationsgüter an Polen weitergeben müsse. Polen habe dann 1953 aus Rücksicht auf die DDR und 1970 im Warschauer Abkommen mit der Bundesrepublik explizit auf weitere Reparationsleistungen verzichtet.

Die polnischen Abgeordneten sind dagegen der Meinung, die Sowjetunion habe ihre Verpflichtungen aus dem Potsdamer Abkommen nicht erfüllt und Polen sei 1953 und 1970 kein souveräner Staat gewesen. Das zweite Argument dürfte vor internationalen Gerichten kaum Bestand haben, würde es doch sämtliche völkerrechtlichen Verträge und Abkommen mit osteuropäischen Staaten der Nachkriegszeit in Frage stellen.

Im Bemühen, die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland nicht zu gefährden, distanzierte sich die polnische Regierung umgehend von den Forderungen des Sejm. Regierungschef Marek Belka erklärte auf einer Pressekonferenz: "Die Frage deutsch-polnischer Ansprüche ist ein für allemal abgeschlossen." Sein Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz fügte hinzu, dass die Regierung jeden Gedanken verwerfe, "gegen Deutschland Reparationsforderungen zu erheben". Die Regierungsfraktionen haben im Sejm allerdings geschlossen für die Reparationsforderungen gestimmt. Das macht deutlich, dass die Resolution der Regierung als diplomatisches Druckmittel gegen Deutschland nicht unwillkommen ist.

In einem größeren historischen Rahmen betrachtet, sind die polnischen Forderungen an Deutschland mehr als berechtigt. Die Zerstörungen, die Wehrmacht und deutsche Besatzung angerichtet haben, lassen sich materiell überhaupt nicht aufwiegen. Rund ein Fünftel der polnischen Bevölkerung, darunter fast sämtliche Juden, fielen ihnen zum Opfer. Auf polnischem Boden wurden die großen Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka betrieben. Aber auch die polnischstämmige Bevölkerung wurde systematisch unterdrückt, vernichtet und vertrieben, um "Lebensraum" für Deutsche zu schaffen. Hinzu kam die weitgehende Zerstörung der polnischen Städte und die Verschleppung von mehreren Hunderttausend Zwangsarbeitern, die - sofern sie überlebten - über fünfzig Jahre auf eine magere Entschädigung warten mussten.

Dass diese Fragen heute weder aufbrechen, hat allerdings weniger mit der Geschichte, als mit aktuellen politischen Entwicklungen zu tun.

Auf deutscher Seite wittern rechte Vertriebenenverbände Morgenluft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Aufnahme Polens in die EU sehen sie eine neue Chance, alte Eigentumsansprüche geltend zu machen. Diese Verbände waren im Rahmen des Kalten Kriegs von offizieller Seite mit Milliardenbeträgen gehegt und gepflegt worden. Neben Millionensubventionen an die Verbandskassen hatte die Bundesrepublik seit 1945 74 Milliarden Euro "Lastenausgleich" an Vertriebene geleistet - darunter an viele Industrielle und Adelige, die direkt von den Nazi-Verbrechen profitiert hatten oder daran beteiligt waren.

Auf polnischer Seite nutzen Regierung und politische Parteien die traumatischen Erinnerungen an den Krieg, um von ihrer eigenen Politik abzulenken, die der Bevölkerung neues Leid und Elend bringt. Regierung wie Opposition vertreten einen Kurs der Privatisierung und des radikalen Sozialabbaus. Antideutsche Töne sollen die wachsende Empörung darüber in nationalistische Kanäle lenken und die eigene Verhandlungsposition gegenüber der deutschen Regierung stärken, mit der die polnische Regierung ansonsten eng zusammenarbeitet.

Bisher haben vor allem rechte Parteien von derartigen Kampagnen profitiert. Bei den Wahlen zum europäischen Parlament hatte die rechts-klerikale Liga Polnischer Familien (LPR) 16,4% erreicht und damit ihren Stimmanteil gegenüber den letzten Sejm-Wahlen verdoppelt. Diese Partei treibt die Regierung jetzt auch am stärksten. Auch wenn die Sejm-Resolution für die Regierung nicht bindend ist, gerät Belkas Kabinett dadurch heftig unter Druck.

Deutsche Entschädigungsklagen

Die Reparationsforderungen des Sejm erfolgten als Reaktion auf drohende Entschädigungsklagen deutscher Vertriebener gegen die polnische Regierung.

So erklärt der polnische Botschafter in Berlin Andrzej Byrt, der Sejm Beschluss lasse sich auf die "Aktionen der Preußischen Treuhand" zurückführen. Die Preußische Treuhand war im Dezember 2000 mit dem erklärten Ziel gegründet worden, "die Eigentumsansprüche der einzelnen Vertriebenen jeweils individuell zu sichern bzw. zu erhalten". Tonangebend in dem als Kommanditgesellschaft auf Aktien (GmbH & Co. KG a. A.) organisierten Unternehmen sind führende Vertreter einzelner Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen (BdV).

Der BdV ist eine erzkonservative Organisation mit Verbindungen ins rechtsextreme Lager. Seit seiner Gründung im Dezember 1958 (Vorläuferorganisationen gehen bis ins Jahr 1948 zurück) verfolgte der Bund eine äußerst rechte Politik. Der erste Vorsitzende, Hans Krüger, hatte sich als überzeugter Nationalsozialist schon 1923 am Hitlerputsch beteiligt. Unmittelbar nach dem Überfall auf Polen wurde Krüger NSDAP-Ortsgruppenleiter und Richter im okkupierten Konitz (Chojnice), wo seiner Justiz Tausende Menschen zum Opfer fielen.

Innerhalb des BdV gab es immer einen starken Flügel, der die ehemaligen deutschen Ostgebiete zurückforderte. In dem Maße, wie eine staatliche Einheit in den Grenzen von 1933 als unrealisierbar erschien, setze sich innerhalb des Bundes eine Ausrichtung durch, die den in Osteuropa lebenden deutschen Minderheiten Rechte und autonome Verwaltungen erkämpfen wollte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden allerdings auch alte revanchistische Forderungen wieder laut. So erklärte der BdV-Vorsitzende Herbert Czaja auf dem Bundestreffen der Oberschlesier im Februar 1990, die Oberschlesier verlangten "nicht Gebiete Polens und keine ‚Eroberung’", es gehe vielmehr "um ein Viertel von jenem Deutschland, das der Versailler Vertrag uns belassen hat, [...] um alte deutsche Provinzen, Regionen und Stämme, in denen über acht Jahrhunderte Deutsche unerhört Wertvolles geleistet haben".

Seit seiner Entstehung war der BdV eng mit der offiziellen Politik verbunden. 1963 wurde Hans Krüger sogar von Ludwig Erhard als Vertriebenenminister in sein Kabinett berufen. Die Verbindungen zur Union sind von jeher personell und strukturell sehr eng, aber gerade in den letzten Jahren gab es auch eine Annäherung an die SPD. Nach dem Bundesvertriebenengesetz erhalten die Verbänden jährlich Millionenbeträge aus Steuergeldern. Durch die Beteiligung der Landsmannschaften (Unterverbände des BdV) Ostpreußens und Schlesiens an der Preußischen Treuhand fließen diese Mittel nun auch direkt auf deren Konten.

Die Preußische Treuhand hat für den kommenden Herbst Klagen gegen die polnische Regierung vor dem europäischen Gerichtshof und dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angekündigt. Diese Klagen sind durch die Osterweiterung der EU juristisch möglich geworden. Die Bestätigung des Verzichts deutscher Besitzansprüche in Polen durch den "Zwei-plus-Vier-Vertrag", der die deutsche Wiedervereinigung besiegelt hatte, gelten insofern nicht mehr, als die deutsch-polnische Grenze nun eine Binnengrenze eines größeren Staatengebildes ist.

Es gehe der Treuhand hierbei nicht um Entschädigungszahlungen, sondern um die Rückgabe der Immobilien, betont der Aufsichtsratschef Rudi Pawelka. Sonst "würden wir ein Stück unseres Heimatrechts aufgeben".

Die Bundesregierung hat sich offiziell von den Forderungen der Preußischen Treuhand distanziert. So erklärte Bundeskanzler Schröder in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands in Warschau, es dürfe "heute keinen Raum mehr geben für Restitutionsansprüche aus Deutschland, die die Geschichte auf den Kopf stellen". Die mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Vermögensfragen seien für beide Regierungen kein Thema. Er versprach: "Weder die Bundesregierung noch andere ernstzunehmende politische Kräfte in Deutschland unterstützen individuelle Forderungen, soweit sie dennoch geltend gemacht werden. [...] Diese Position wird die Bundesregierung auch vor internationalen Gerichten vertreten."

Diese Aussagen sind allerdings nicht mehr als Lippenbekenntnisse. In der Realität ermuntert die Bundesregierung die Betroffenen sogar zum Klagen. "Die Bundesregierung hat damit nicht auf die individuellen Ansprüche von Deutschen verzichtet. Für die Geltendmachung stehen den Betroffenen die in den jeweiligen Ländern oder internationalen Institutionen bestehenden rechtlichen Möglichkeiten offen." So formuliert es das Bundesfinanzministerium in seinem Ablehnungsschreiben an diejenigen, die Entschädigungszahlungen bei der Bundesregierung geltend machen wollen.

Im Falle von Spätaussiedlern fordert das Ministerium sogar die vom Bund geleisteten Ausgleichzahlungen zurück, wenn der Betreffende nicht eindeutig nachweisen kann, dass die zurückgelassene Immobilie sich nicht mehr in seinem Besitz befindet. Das ist allerdings in vielen Fällen nur noch durch einen Gerichtsbeschluss nachzuweisen, da die Umsiedlungen oft Jahrzehnte zurückliegen.

Die Bundesregierung ist also weit davon entfernt, die Wogen zu glätten. Sie gießt eher noch Öl ins Feuer. Um Rechtssicherheit für Polen zu erreichen, müsste sie ein nationales Entschädigungsgesetz verabschieden und damit selbst für etwaige Zahlungen haften. Dies zu tun hat sie sich aber bisher strikt geweigert.

Das Aufbrechen dieser Konflikte nur wenige Monate nach dem offiziellen EU-Beitritt Polens ist ein weiterer Hinweis, dass Europa unter der Regie der EU, in der die mächtigsten Kapitalgruppen den Ton angeben, nicht friedlich und harmonisch vereint werden kann. Das ist nur im Rahmen Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa möglich, in denen die Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung an erster Stelle stehen.

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