Das Opelwerk in Gliwice

Eine Reportage aus Polen

Als im Herbst letzten Jahres General Motors seine Kürzungspläne für die europäischen Standorten ankündigte, waren fast alle Werke betroffen. Das Werk im oberschlesischen Gliwice (Gleiwitz) wurde dagegen von Beginn an von den Kürzungsvorhaben ausgenommen. Ein wichtiger Grund hierfür sind die geringen Ausgaben je Arbeitsplatz. Die Arbeitsplatzkosten betragen in Gliwice nur 15,6% der Kosten im Bochumer Opelwerk. Gerade einmal 2800 Zloty (rund 700 Euro) verdient ein polnischer Opelarbeiter durchschnittlich im Monat. Einen der Wagen, die er selbst täglich produziert, kann er sich davon bei weitem nicht leisten.

In Schlesien hat seit der Wende 1989 ein beispielloser sozialer Niedergang stattgefunden. Unter dem alten Regime war es das Zentrum von Bergbau und Stahlproduktion in Polen. Die Bergleute galten als "Arbeiterelite" und wurden durch höhere Löhne und bessere Sozialleistungen gegenüber anderen Industriearbeitern privilegiert. Seit 1989 und verstärkt seit den Bemühungen Polens um den Beitritt in die EU wurden jedoch zahlreiche Zechen und Industrieanlagen geschlossen oder umstrukturiert, was ebenfalls mit Massenentlassungen einher ging. Die offizielle Arbeitslosigkeit in Schlesien beträgt mittlerweile 16,7%.

Die soziale Situation der Arbeitslosen ist katastrophal. Die ohnehin geringe Arbeitslosenunterstützung wird maximal ein Jahr lang gewährt, in vielen Fällen sogar gar nicht erst ausgezahlt. Um sich über Wasser zu halten, graben viele ehemalige Bergarbeiter in den stillgelegten Zechen auf eigene Faust nach Kohle. Auf den Müllhalden sieht man ganze Familien nach Altmetall oder anderen verwertbaren Gegenständen suchen. Immer wieder kommtes vor, dass Ehemänner ihre Frauen oder sogar Eltern ihre Kinder zur Prostitution zwingen. Glücklich schätzen kann sich schon jeder, der zumindest mit Schwarzarbeit ein paar Zloty dazu verdienen kann.

Das Opelwerk in Gliwice wirkt in dieser Umgebung wie ein Raumschiff von einem anderen Stern. Während man vom Zentrum der Stadt zum Werk hinaus an den Stadtrand fährt, ist der Weg von zahlreichen alten Plattenbauten gesäumt, in denen anscheinend die Arbeiter leben, die jeden Morgen in eine der modernsten Fabriken Europas fahren. Das Werk wurde 1998 fertig gestellt und beschäftigt derzeit knapp 2000 Arbeiter. Mit Baukosten von 500 Millionen Euro gilt es als eine der größten Auslandsinvestitionen in Polen.

Um General Motors davon zu überzeugen, von über hundert angedachten Standorten Gliwice auszuwählen, hat die Stadt dem Autokonzern zahlreiche Vergünstigungen zugesichert. Zehn Jahre lang hat Opel überhaupt keine Steuern zu entrichten und weitere zehn Jahre nur 50%. Außerdem wurde das Werk auf Kosten der Stadt durch Straßen erschlossen, die Energie- und Wasserversorgung bereitgestellt, Eisenbahngleise gebaut und der Zugang zum Binnenhafen gesichert.

Dennoch beträgt die offizielle Arbeitslosenquote in Gliwice über 14%, im Januar 2001 waren es noch 11,4%. Der Bevölkerung sind die Investitionen kaum zugute gekommen. Allein im Jahr 2000 wurden in der Stadt eine Krippe, vier Kindergärten, zwei Schulen und das onkologische Krankenhaus geschlossen.

General Motors nutzt das Elend der Menschen in Schlesien aus. Angesichts der sozialen Lage sind die Menschen auf ihren Arbeitsplatz beim Autoriesen angewiesen und bereit, jede Einsparung und jede Entlassung zu akzeptieren. Rafal, der bei Opel in der Montage arbeitet, sagte dazu gegenüber der WSWS: "Ich denke in Polen haben die Gewerkschaften keine Kraft, keine Rechte. Das was die Direktion sagt, das wird getan."

"Für die Arbeiter, die aus Schlesien kommen, ist die Arbeit hier sozusagen die Erlösung. Die Leute sind glücklich, dass sie bei Opel arbeiten. So sieht unsere Realität hier aus", erklärt Slawomir Ciebiera, Vertreter der traditionsreichen Gewerkschaft Solidarnosc, gegenüber der WSWS. Ciebiera ist 40 Jahre alt und leitet zusammen mit Karol Rybinski die Gewerkschaftsarbeit im Werk. Ihre hauptamtliche Tätigkeit wird von GM finanziert.

Der Gewerkschaft stehen diese beiden Stellen laut polnischem Arbeitsgesetz zu, weil Solidarnosc in dem Betrieb über 600 Mitglieder zählt. Die beiden machen nach eigenen Angaben "typische Gewerkschaftsarbeit". Sie intervenieren bei Konflikten zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, beraten Arbeiter und setzen sich mit dem Management über Löhne und Arbeitsbedingungen auseinander. Kollektive Proteste hätten sie bisher "zum Glück" nicht organisieren müssen, es habe lediglich scharfe Verhandlungen gegeben. Dass Opel höhere Löhne als die meisten anderen polnischen Industriebetriebe zahle, betrachten sie als Verdienst ihrer Arbeit.

Gleichzeitig sind sich die beiden Gewerkschafter aber sehr bewusst über die Beschränktheit ihrer Arbeit. Als vor zwei Jahren der alte Astra auslief und GM beschloss, in Gliwice 350 Arbeitsplätze abzubauen, konnte Solidarnosc nicht einmal eine Abfindung von einem Monatslohn durchsetzen, geschweige denn die Entlassungen verhindern. Lediglich 2450 Zloty (ca. 600 Euro) erhielten die entlassenen Kollegen damals.

Die Tatsache, dass sich laut einer Umfrage 57% der Solidarnoscmitglieder von ihrer Organisation nicht gut vertreten fühlten, erklärt sich Ciebiera dann auch damit, dass die Menschen von der Gewerkschaftsarbeit viel zu viel erwarteten. Viele Arbeiter dächten, in Polen würden die Löhne rasch auf westeuropäisches Niveau steigen. Tatsächlich könne man aber froh sein, wenn man vier, fünf oder vielleicht zehn Prozent Lohnsteigerung erreichen könne. Außerdem arbeite die Regierung permanent gegen die Arbeiter. "Die gegenwärtige Regierung hat den Arbeitnehmern viel weggenommen. Nicht genug, dass es nur geringe Lohnerhöhungen gibt, werden zudem noch Arbeitnehmerrechte beschnitten und eingeschränkt." Eine Alternative sieht er in der politischen Landschaft Polens momentan nicht.

Ciebiera hält die Möglichkeit gewerkschaftlicher Arbeit zu Zeiten der Globalisierung aber ohnehin für sehr beschränkt. Zur Zeit investiere GM zwar noch in Gliwice, doch schon in ein paar Jahren könne sich das Management dafür entscheiden, fortan in der Ukraine oder in China zu produzieren, und dann seien die polnischen Arbeitsplätze in Gefahr. Zur Illustration zeigt Ciebiera auf die mindestens zwei Meter lange Tischplatte. Das seien die Möglichkeiten im Betrieb, sagt er und stellt seinen Kaffeebecher ganz nah an die rechte Kante des Tisches. Der Abschnitt links von dem Becher seien die Möglichkeiten, die das Management habe, die restlichen paar Zentimeter der Spielraum der Gewerkschaften.

"Es gibt das Beispiel Kanadas", erklärt Ciebiera. "Dort haben sie sehr harte Gewerkschaften, härtere als die deutsche IG Metall. Karol hatte Kontakt zu Gewerkschaftsaktivisten aus Kanada. Die sind hergekommen und sagten, dass man Arbeitgeber zum Frühstück fresse. Und was hat ihnen das gebracht? Sie haben die geforderten Lohnerhöhungen erkämpft. Aber nach einem Jahr wurde der Betrieb geschlossen. Wo ist da der Nutzen?" Die Gewerkschaft dürfe immer nur so viel mitbestimmen, wie ihr das Management zubillige. "Es liegt alles in der Hand des Arbeitgebers."

Die Gewerkschaftsarbeit versteht Ciebiera daher auch in erster Linie als Dienstleistung für die Arbeiter: Gewerkschafter sollen die Arbeiter über die Situation im Werk, geplante Kürzungen etc. informieren und ein gutes Wort fürsie beim Management einlegen.

Dass sich eine solche rein gewerkschaftliche Perspektive schließlich gegen die Arbeiter richtet, muss der Solidarnosc-Mann aber eingestehen. Auf die undemokratische und arbeiterfeindliche Politik der IG Metall bei den jüngsten Streiks in Bochum angesprochen, fehlen ihm zunächst die Worte. Nach einiger Zeit sagt er langsam und nachdenklich: "Das ist eine schwierige Frage. Von meiner Beobachtung her könnte das auch bei uns geschehen. Es ist sowieso derzeit so eine komische Situation auf der Welt und in Europa."

Einen wirklichen Ausweg sehen Ciebiera und Rybinski nicht. Immer wieder verweisen sie auf das VW-Werk in Poznan, in dem das Management der Gewerkschaft viel mehr Spielraum zubillige. Aus ihren eigenen Aussagen geht hervor,dass angesichts einer solchen Abhängigkeit der gewerkschaftlichen Arbeit vom Management andere Perspektiven notwendig sind. Wirklich klar ist ihnen aber nur, dass man dem Diktat des Arbeitgebers auf internationaler Ebene entgegentreten müsse. "Es ist höchste Zeit für eine solche Einheit [der Gewerkschaften]. Ich bin bereit, eine einzige zentrale Führung in Europa zu akzeptieren. Eine zentrale Führung. So sollte das aussehen."

Um ein würdiges Leben für jeden zu gewährleisten, müsse man auf internationaler Ebene für gute Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne kämpfen. "Selbst wenn man nur seine eignen Interessen betrachtet, sollte uns daran gelegen sein, dass die Leute in den armen Ländern bessere Lebensbedingungen erhalten," bemerkt Ciebiera. Dazu bedürfe es aber eines internationalen Zusammenschlusses: "Wenn wir weltweit streiken würden, dann ja. Aber wird China streiken? Wird Indien streiken? Werden die anderen streiken? Die werden nicht streiken. Und solange es diese weltweite Verständigung nicht gibt, müssen wir hier anders arbeiten, und von den Regierungen, von den Arbeitgebern und denen, die die Kohle haben, Hilfe fordern."

Eine politische Perspektive haben die beiden Gewerkschafter nicht. Die Erfahrungen mit den diversen polnischen Regierungen hätten sie von der Politik abgebracht. "Keine Gewerkschaft darf eine Partei haben, die in der Regierung sitzt. Das klappt nirgends in Europa. Denn Politiker haben andere Ziele," erklärt Ciebiera. Er sieht keine Möglichkeit einer neuen Arbeiterpartei: "Ich bin dagegen, etwas neues zu suchen, denn das Neue ist bald wieder das Alte und dann ist es wieder dasselbe. Wenn es die Macht spürt, dann wird trotz allem der Arbeiter beiseite gelassen."

Siehe auch:
Das soziale Elend in Polen: Eine Reportage aus dem schlesischen Zabrze
(27. Januar 2005)
Opel-Betriebsrat stimmt der Streichung von 10.000 Stellen zu
( 11. Dezember 2004)
Eine Reportage aus dem GM-Werk in Antwerpen
( 11. Dezember 2004)
Schwedische Gewerkschaftsbürokratie versucht Opelarbeiter zu unterbieten
( 10. November 2004)
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