Großbritannien:

Labour gewinnt die Wahl, büßt aber gewaltig Stimmen ein

Die britische Labour-Regierung ist für eine dritte Amtszeit gewählt worden, doch ihre Mehrheit ist stark zusammengeschmolzen. Die Wahl am 5. Mai wird als "Irak-Wahl" bezeichnet, da Millionen Menschen ihre Unzufriedenheit und Feindseligkeit gegenüber Premierminister Tony Blair und seiner Partei zum Ausdruck brachten.

Lediglich das britische Mehrheitswahlrecht verschleiert die Schlappe, die der Wahlausgang tatsächlich für Labour bedeutet. Gegenüber der Wahl von 2001 hat Labour einen Stimmanteil von 5,5 Prozent und über 50 Parlamentssitze verloren. Labour verfügt zwar nach wie vor über eine Mehrheit von 67 Sitzen (gegenüber 167 Sitzen 2001), aber der Aderlass wird dennoch als schwerer Schlag gegen Blairs persönliche Autorität und die Regierung betrachtet. Labour konnte nur 35 Prozent der Gesamtzahl an Stimmen auf sich vereinigen und verfügt damit über die niedrigste Zustimmung, die jemals eine Regierung in Großbritannien aufgewiesen hat. Die Wahlbeteiligung lag zudem nur bei 61 Prozent, was bedeutet, dass Labour in Wirklichkeit nur über die Unterstützung eines Fünftels der Wahlberechtigten verfügt.

Dass die Wahlbeteiligung um zwei Prozent höher lag als 2001, ist vor allem einer Verdreifachung bei den per Briefwahl abgegebenen Stimmen zu verdanken, die aufgrund von Wahlverfahrensänderungen auf sechs Millionen stiegen. Trotzdem lag die Wahlbeteiligung in vielen Stadtzentren unter 50 Prozent. Die höchste Beteiligung wurde in den heftig umkämpften Wahlkreisen registriert und ist größtenteils auf die zahlreichen Protestwähler zurückzuführen.

Hauptgewinner der Wahl in Hinblick auf Stimmenzuwachs sind die Liberaldemokraten. Sie profitierten von ihrer Opposition gegen den Irakkrieg sowie ihrer Unterstützung für eine Umverteilung der Steuerlast und konnten sich als links von der Labour Party stehend darstellen. Das Ergebnis der Liberaldemokraten, die auf einen Stimmanteil von 22 Prozent kamen, muss vor allem als Spiegel von Labours Problemen verstanden werden.

Die Liberaldemokraten haben 62 Sitze gewonnen, das sind zehn mehr als im Jahre 2001. In Schottland und Wales legte die Partei auf Kosten von Labour und der nationalistischen Parteien deutlich zu. In England gewann sie in Wahlkreisen wie Manchester Withington, wo Labour nicht weniger als 17,3 Prozent der Stimmen an die Liberaldemokraten abgab. Ähnlich wandten sich 15 Prozent im Wahlkreis Hornsey and Wood Green von Labour ab und den Liberaldemokraten zu, was der ehemaligen Labour-Ministerin Barbara Roche ihren Parlamentssitz kostete. In allen 40 Wahlkreisen mit einem großen muslimischen Bevölkerungsanteil fand eine bedeutende Wählerwanderung von Labour zu den Liberaldemokraten statt. Es gelang ihnen allerdings nicht, auf Kosten der Konservativen zuzulegen, da sie als linke Partei wahrgenommen wurden.

Die Konservativen haben 31 Sitze dazu gewonnen und reden auf dieser Grundlage von einer Erholung, doch von der großen Mehrheit der Bevölkerung werden sie weiterhin verachtet und gehasst. Ihr Gesamtanteil an Stimmen hat sich seit 2001 kaum verändert. Die Partei erhielt einen größeren Anteil an den Parlamentssitzen, weil sie - anders als Labour - in der Lage war, ihre Stammwählerschaft zu mobilisieren. Die durchschnittliche Beteiligung in den Wahlkreisen, die an die Konservativen gingen, lag bei 65 Prozent und damit sieben Prozent höher als in Wahlkreisen, die an Labour gingen. Der konservative Parteiführer Michael Howard führte seinen Wahlkampf auf Grundlage von "Scharfmacher"-Themen und hetzte vor allem gegen Einwanderer.

Erfolg hatte er damit hauptsächlich in Südengland, insbesondere in den eher wohlhabenden Gegenden. Auch wenn die Konservativen in Schottland und Wales ein oder zwei Sitzen neu hinzugewannen, sind sie doch in den großen Ballungszentren kaum vertreten. Dies wird die in der Partei vorhandenen Risse noch verstärken, die sich an der Frage entzünden, ob sich die Tories eher in der "Mitte" profilieren oder stärker ihren Ruf aus der Thatcher-Periode in den Vordergrund stellen sollten. Howard hat seinen Rücktritt vom Parteivorsitz erklärt, um einem jüngeren Nachfolger Platz zu machen, und forciert damit einen Führungsstreit, der die parteiinternen Spannungen weiter zuspitzen wird.

Eine Reihe von Ergebnissen gelten als repräsentativ für das, was die ehemalige Labour-Ministerin Clare Short als "Irak-Effekt" bezeichnet hat. Der ehemalige Labour-Abgeordnete George Galloway, der aus der Partei ausgeschlossen wurde und nun dem Bündnis Respect-Unity vorsteht, gewann den Ostlondoner Wahlkreis Bethnal Green and Bow, in dem Oona King, eine den Krieg befürwortende Labour-Abgeordnete zuvor eine Mehrheit von 10,057 Stimmen hatte. Der Wahlkreis ist von verarmten Arbeitervierteln geprägt und die Wählerschaft besteht zu 50 Prozent aus Muslimen. Kandidaten von Respect erhielten auch die zweitmeisten Stimmen im benachbarten Wahlkreisen East Ham and West Ham und die drittmeisten in Poplar and Canning Town.

Reg Keys, dessen Sohn Tom im Irak getötet wurde, trat als unabhängiger Kandidat in Blairs Wahlkreis Sedgefield an und konnte 4.000 Stimmen auf sich vereinigen. Rose Gentle, deren Sohn Gordon ebenfalls im Irak starb, kandidierte gegen den Armeeminister Adam Ingram im schottischen Wahlkreis East Kilbride, Strathaven and Lesmahagow und erhielt 3,2 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Außenminister Jack Straw konnte seinen Wahlkreis Blackburn verteidigen, doch die Liberaldemokraten konnten ihren Stimmanteil dort mehr als verdoppeln und kamen gegenüber 3.264 Stimmen im Jahre 2001 auf jetzt 8.608 Stimmen. Verteidigungsminister Geoff Hoon behielt seinen Sitz, verlor aber 9,5 Prozent gegenüber 2001.

Seit 1945 saßen nicht mehr so viele kleine Parteien und unabhängige Abgeordnete im Parlament wie heute.

Was die extreme Rechte betrifft, so erhielt die British National Party dort, wo sie antrat, durchschnittlich fünf Prozent. Sie profitierte dabei von der Stimmung gegen Einwanderer, die von den großen Parteien geschürt wurde. Einen relativ hohen Stimmanteil gewann sie in den Wahlkreisen, auf die sich ihre Kampagne besonders konzentriert hatte: Barking in Ostlondon und Keighley, Dewsbury and Rotherham in Yorkshire.

Eine neue Periode politischer und sozialer Konflikte

Der Ausgang der Wahlen gab Anlass zu umfassenden Spekulationen über Blairs Zukunft. Ein bedeutender Teil der Labour Party betrachtet Blair als Belastung und möchte, dass er zugunsten des Schatzkanzlers Gordon Brown zurücktritt. Sie hoffen, dies werde ausreichen, um die Partei von ihrer ungemein unpopulären Entscheidung, den Krieg gegen den Irak zu unterstützen, abzusetzen, und zu behaupten, im Bereich der Sozialpolitik sei die Partei wieder mehr die alte als "New Labour".

Die Kolumnistin des Guardian Polly Toynbee schrieb am 4. Mai: "Selbst wenn Labour eine beträchtliche Mehrheit erhält, ist Blairs Zeit doch vorbei, da der Boden unter seinen Füßen heftig wankt; er ist der Mann von gestern. [...] Irak wurde nie ad acta gelegt, nicht einmal von den Unpolitischen. Diese Frage wirbelt schwirrt herum, entweder eigenständig oder stellvertretend für eine Rebellion gegen Blair, der mittlerweile die gesamte Schuld für alles und jedes trägt."

Toynbee hofft, "wenn Blair geht, wird sein Abtritt dem größten Ärger über den Krieg und vielem anderen die Spitze nehmen. [...] Labour hat die Chance unter Gordon Brown neu anzufangen, aber seine Schonfrist wäre äußerst kurz."

Es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass es einen solchen glatten Übergang geben wird, geschweige denn, dass dies ausreichen würde, um Labour neue Unterstützung zu verschaffen. Blair zeigt keine Anzeichen für eine Bereitschaft abzutreten, und der Kampf zwischen den Lagern von Blair und Brown, der während des Wahlkampfs ruhte, könnte die Partei zerreißen.

Zudem verfügt Brown über weitaus weniger Unterstützung in der Wählerschaft als unter Labouranhängern, wie sie Toynbee repräsentiert. Es ist schwer einzusehen, warum die Wahl eines Mannes zum Premierminister, der den Krieg unterstützt hat, die Auseinandersetzung über den Krieg mildern sollte. Nicht weniger bedeutsam ist, dass Brown gemeinsam mit Blair die unternehmerfreundliche Politik von "New Labour" ausgearbeitet und die Absage an das alte reformistische Programm eingeleitet hat.

Irak war ein wichtiges Wahlthema, aber nicht das einzige. Zum großen Teil ist der Zusammenbruch von Labours Unterstützerbasis auf die rechte Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung zurückzuführen, die in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig ist. Diese Wahl wurde praktisch ausschließlich auf der Rechten des politischen Spektrums geführt, an die Arbeiterklasse wurde kaum oder gar nicht appelliert.

Auch wenn Labour bei der Wählerschaft äußerst unpopulär ist, bleibt die Partei doch bis jetzt die Favoritin einflussreicher Wirtschaftskreise - was auch erklärt, warum die konservativen Tories sich nicht wirklich durchzusetzen vermochten. Der Medienzar Rupert Murdoch setzte sich in den Publikationen seines Hauses für einen Sieg Blairs ein, ebenso das Magazin Economist und die Financial Times. In einem Leitartikel mit der Überschrift "Warum es noch nicht Zeit für den Wechsel ist" beschrieb die Financial Times am 3. Mai eine "neue Ausrichtung" der Politik, deren "Epizentrum" die von allen geteilte Position sei, dass Wirtschaft und Geschäfte im Mittelpunkt zu stehen haben.

"Es zeigt sich, dass Großbritannien längst die alten Auseinandersetzungen zwischen Links und Rechts über die Wirtschaft, Profite und die Rolle des Marktes überwunden hat. Alle großen Parteien unterstützen den politischen Rahmen, auf den das nachhaltige Wachstum und die Stabilität des vergangenen Jahrzehnts zurückzuführen sind. [...] In Großbritannien gibt es nicht eine ‚Unternehmerpartei’ und eine ‚Antiunternehmerpartei’. Wenn man versucht, den ideologischen Abstand zwischen den Parteien auszumachen, so muss man feststellen, dass der Graben zwischen Michael Howards Konservativen und Tony Blairs Labour Party kleiner ist als derjenige zwischen Republikanern und Demokraten bei den letzten Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten."

Der Grund, warum Labour keine Unterstützung in der Bevölkerung zurückgewinnen wird, geht aber noch über die Tatsache hinaus, dass Labour dieselbe Politik wie die Tories vertritt. Für das Verbleiben an der Macht, die für Labour beispiellose dritte Amtzeit, wird die Regierung von ihren Unterstützern in der City of London und der Finanzoligarchie in die Pflicht genommen werden.

Die Financial Times und das Boulevardblatt Sun beklagten, das Hauptproblem der Tories sei, dass man sie von Labour kaum unterscheiden könne und dass sie nicht nach dem Vorbild der Republikaner in den Vereinigten Staaten eine aggressive Kürzungspolitik bei Steuern und öffentlichen Ausgaben übernommen haben. Sie brachten auch die Hoffnung zu Ausdruck, dass eine geschrumpfte Mehrheit für Labour die Bedingungen erleichtern werde, die Regierung in eben diese Richtung zu drängen.

Die Verluste, die Labour erlitten hat, werden die Parteiführung - unter Blair ebenso wie unter Brown - nicht "zur Einsicht bringen", sondern sie vielmehr nach rechts und in eine soziale und politische Konfrontation mit der Arbeiterklasse treiben. Labours dritte Amtszeit wird von weltweiten Entwicklungen geprägt werden. Labour wird weiterhin als Repräsentantin einer Finanzoligarchie regieren, deren Interessen denen der großen Masse der Bevölkerung diametral entgegenstehen.

Daher kann keine Rede davon sein, dass Labour den Irak "hinter sich lässt", denn dieser Krieg war nur der Startschuss für einen Kampf um die Neuaufteilung der Weltmärkte und Ressourcen, in dem die Vereinigten Staaten der Vorreiter sind, an dem sich aber alle imperialistischen Mächte beteiligen. Selbst als er sich gezwungen sah, ein symbolisches Zugeständnis an die Antikriegsstimmung zu machen, wollte Blair eine britische Beteiligung an einem militärischen Angriff gegen den Iran an der Seite Washingtons nicht ausschließen.

Die Unzufriedenheit der Finanzelite mit Labours Steuer- und Privatisierungspolitik wird sich noch verschärfen, wenn die Weltwirtschaft wie befürchtet in eine Rezession eintritt. Bei einer solchen Entwicklung würde sofort die soziale Kluft sichtbar, die sich unter der Blair-Regierung vergrößert hat und die lediglich durch einen vorübergehenden Boom bei den Immobilienpreisen und ein Rekordhoch bei der Verschuldung privater Haushalt teilweise verschleiert wurde.

Benötigt wird eine neue Partei

Das Ausmaß der Feindseligkeit, das der Blair-Regierung in der Bevölkerung entgegenschlägt, hat sich in erster Linie in Wahlenthaltung geäußert und darüber hinaus in Form von Proteststimmen für Parteien, die als Linke und Kriegsgegner wahrgenommen werden. Doch es handelt sich bei dieser Entwicklung nicht um eine zufällige, unglückliche Verkettung von Umständen, die durch einen Wechsel beim Führungspersonal überwunden werden kann.

Die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und ihre alten Partei hat eine grundlegende, objektive und irreversible Veränderung erfahren.

Geht man vom Standpunkt der wesentlichen sozialen und politischen Interessen der Arbeiterklasse aus, so steht ihr die Labour Party als feindliche Kraft gegenüber. Die rechte Entwicklung der Labour-Bürokratie ist Ausdruck der Tatsache, dass die globale Organisation der Produktion dem Programm des Nationalreformismus jegliche Grundlage entzogen hat.

Die Lösung kann nicht darin bestehen, dass man auf eine Rückkehr zur alten Labour-Politik hofft - egal, ob man dabei die Reihen der Partei selbst im Blick hat oder eine Gruppierung wie Respect. Kein Bestandteil der Labour-Bürokratie hat eine Alternative zu Blair zu bieten. Einer der unerquicklichsten Anblicke während des Wahlkampfes war die Art und Weise, wie die angeblichen linken Gegner Blairs innerhalb der Labour Party und den Gewerkschaften - so z.B. Labour-Veteran Tony Benn - ähnlich wie der Premierminister selbst immer wieder darauf gepocht haben, dass zum Wohle des gemeinsamen Zieles die Differenzen über den Irakkrieg beiseite gelassen werden müssten.

Die Socialist Equality Party hatte in ihrer Stellungnahme zur Wahl Folgendes festgestellt: "Bei der Unterhauswahl vom 5. Mai steht die Arbeiterklasse vor der grundlegenden Aufgabe, eine unabhängige politische Antwort auf den Kurs der Labour-Regierung - einen Kurs des imperialistischen Militarismus im Ausland und der Sozialangriffe im eigenen Land - zu formulieren....

Es reicht nicht aus, seinen Unmut gegenüber der Regierung zu Protokoll zu geben. Die Kriegstreiberei und die Angriffe auf den Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Arbeiter können nur erfolgreich zurückgeschlagen werden, wenn man ihre Wurzeln bekämpft - das kapitalistische Profitsystem."

Die Verwandlung der Labour Party in eine Partei der Großkonzerne und -banken und die daraus resultierende Entmündigung der Arbeiterklasse erfordert den Aufbau einer neuen Partei, die ein internationalistisches und sozialistisches Programm vertritt. Auf dieses muss sich eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse stützen, um Krieg, Kolonialismus und das Anwachsen der sozialen Ungleichheit zu bekämpfen.

Siehe auch:
Großbritannien: Der Mythos von Labours wirtschaftlichen Erfolgen
(7. Mai 2005)
Die britische Arbeiterklasse und die Parlamentswahl 2005
( 19. April 2005)
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