Dritter Vortrag: Die Ursprünge des Bolschewismus und Was tun?

Teil 2

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Von David North
28. September 2005

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August in Ann Arbor, Michigan, eine Sommerschule. Die dort gehaltenen Vorträge veröffentlichen wir im Laufe der kommenden Wochen jeweils in mehreren Teilen. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Der Beitrag Plechanows

Die theoretischen und politischen Grundlagen der marxistischen Bewegung in Russland wurden in den 1880er Jahren gelegt, als G.W. Plechanow seinen Kampf gegen den dominanten Einfluss der Volkstümler und ihre terroristische Orientierung führte. Die wesentliche Frage, die dem Kampf zwischen den Narodniki und der neuen marxistischen Tendenz zugrunde lag, betraf die historische Perspektive: War Russlands Weg zum Sozialismus durch eine Bauernrevolution zu verwirklichen, in der die traditionellen Formen des bäuerlichen Gemeinschaftseigentums die Grundlage für den Sozialismus stellen würden? Oder würde sich der Sturz des Zarismus, die Errichtung einer demokratischen Republik und der Beginn des Übergangs zum Sozialismus auf der Grundlage eines Wachstums des russischen Kapitalismus und des Auftretens eines modernen Industrieproletariats vollziehen?

Plechanow, der selbst ein führendes Mitglied der Narodniki gewesen war, wandte sich gegen den Terrorismus und die Charakterisierung der Bauernschaft als entscheidende revolutionäre Kraft. Er argumentierte, dass sich Russland entlang kapitalistischer Linien entwickle und dass das Anwachsen eines Industrieproletariats eine unvermeidliche Folge dieses Prozesses sein werde. Diese neue gesellschaftliche Klasse werde notwendigerweise die entscheidende Kraft beim revolutionären Sturz der Autokratie, der Demokratisierung Russlands, der Abschaffung aller politischen und wirtschaftlichen Überbleibsel des Feudalismus und dem Beginn des Übergangs zum Sozialismus sein.

Als Plechanow im Jahre 1883, dem Todesjahr von Karl Marx, die Gruppe Befreiung der Arbeit gründete, war dies eine Tat von großem politischem Weitblick, von intellektuellem und physischem Mut. Mit den Argumenten, die er gegen die Volkstümler vorbrachte, legte Plechanow die programmatischen Grundlagen, auf die sich später die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands stützen sollte. Er nahm damit aber auch viele entscheidende Fragen der Klassenorientierung und der revolutionären Strategie vorweg, die die sozialistische Bewegung über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg und bis zum heutigen Tag beschäftigen sollten.

Heute erinnert man sich Plechanows hauptsächlich - aber meist ohne ihn ausreichend zu würdigen - als einen der wichtigsten Interpreten der marxistischen Philosophie in der Ära der Zweiten Internationale (1889-1914). Ein großer Teil seines diesbezüglichen Werks ist zum Gegenstand erbitterter und in der Regel ignoranter Kritik geworden - insbesondere von Seiten jener, die Plechanow vorwerfen, er habe die Bedeutung Hegels und der dialektischen Methode verkannt. Liest man dieses polemische Gezeter, kann man nur wünschen, die Autoren würden sich die Zeit nehmen, Plechanows Werk zu studieren, bevor sie es verurteilen. Ich werde an späterer Stelle noch über die Frage der intellektuellen Haltung Plechanows zur marxistischen Philosophie sprechen. Dieses Thema beansprucht allerdings mehr Zeit, als wir gegenwärtig zur Verfügung haben.

Ich möchte mich an dieser Stelle auf einen anderen Gesichtspunkt konzentrieren, den Plechanow zur revolutionären Strategie beigetragen hat und der im Allgemeinen unterschätzt, wenn nicht sogar völlig ignoriert wird: Plechanow beharrte darauf, dass das Proletariat sich der Bedeutung seines unabhängigen Kampfes gegen die Bourgeoisie bewusst werden müsse; die Entwicklung dieses Bewusstseins war für ihn eine höchst bedeutende und unverzichtbare Triebkraft bei der Herausbildung von sozialistischem Bewusstsein.

In seinem wichtigsten Frühwerk, Sozialismus und politischer Kampf, das er kurz nach der Gründung der Gruppe Befreiung der Arbeit schrieb, wandte sich Plechanow gegen die Ansichten der russischen Anarchisten, die der Politik jede Bedeutung absprachen und sogar den Standpunkt vertraten, die Arbeiter sollten sich nicht durch ein Interesse an Politik besudeln. Plechanow bemerkte dazu, dass "keine einzige Klasse, die die politische Herrschaft errungen hat, Gründe hat, ihr Interesse für die ‚Politik’ zu bereuen; wenn im Gegenteil jede von ihnen den höchsten, den Kulminationspunkt ihrer Entwicklung erst erreichte, nachdem sie die politische Herrschaft erlangte, so müssen wir zugeben, dass der politische Kampf ein Mittel der sozialen Umgestaltung ist, dessen Tauglichkeit durch die Geschichte bewiesen ist."

Plechanow ging dann der Frage nach, in welchen Stufen sich Klassenbewusstsein entwickelt. Ein längeres Zitat ist hier angebracht, da dieser Passage eine dauerhafte Bedeutung zukommt:

"Die unterjochte Klasse macht sich nur allmählich den Zusammenhang zwischen ihrer ökonomischen Lage und ihrer politischen Rolle im Staate klar. Lange Zeit begreift sie nicht einmal ihre ökonomische Aufgabe in ihrer ganzen Fülle. Die Individuen, aus denen sie besteht, führen einen harten Kampf um ihre tägliche Existenz und denken nicht einmal darüber nach, welchen Seiten der gesellschaftlichen Organisation sie ihre Notlage schulden. Sie bemühen sich, den Schlägen, die ihnen versetzt werden, auszuweichen, und fragen nicht, woher und durch wen ihnen diese Schläge in letzter Instanz versetzt werden. Sie haben noch kein Klassenbewusstsein, in ihrem Kampf gegen die einzelnen Unterdrücker ist keine richtungsweisende Idee. Die unterdrückte Klasse existiert noch nicht für sich ; in der Zukunft wird sie die führende Klasse der Gesellschaft sein, aber sie ist noch nicht dabei, es zu werden. Der bewusst organisierten Kraft der herrschenden Klasse stehen nur unkoordinierte, vereinzelte Bemühungen einzelner Personen oder einzelner Personengruppen gegenüber. So ist es zum Beispiel auch heute noch keine Seltenheit, einen Arbeiter zu treffen, der einen besonders energischen Ausbeuter hasst, aber noch nicht ahnt, dass die gesamte Klasse der Ausbeuter bekämpft und selbst die Möglichkeit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden muss.

Nach und nach tut indes der Prozess der Verallgemeinerung das Seine, und die Unterdrückten beginnen, sich als Klasse zu verstehen. Aber sie verstehen die Besonderheiten ihrer Klassenlage noch zu einseitig: die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Mechanismus in seiner Gesamtheit bleiben noch vor ihrem geistigen Auge verborgen. Die Klasse der Ausbeuter stellt sich ihnen als die einfache Gesamtheit der einzelnen Unternehmer dar, unverbunden durch die Fäden der politischen Organisation. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist in den Vorstellungen der Unterdrückten [...] der Zusammenhang zwischen ‚Gesellschaft’ und ‚Staat’ noch nicht klar. Man nimmt an, die Staatsgewalt stünde höher als der Antagonismus der Klassen, ihre Vertreter scheinen die natürlichen Richter und Aussöhner der sich befehdenden Seiten zu sein. Die unterdrückte Klasse wendet sich in vollem Vertrauen an sie und gerät in große Verwunderung, wenn die von ihrer Seite an sie gerichteten Bitten um Hilfe ohne Antwort bleiben. Ohne auf spezielle Beispiele einzugehen, wollen wir doch bemerken, dass eine ähnliche Verwirrung der Begriffe bis vor kurzem bei den englischen Arbeitern zutage trat, die einen äußerst energischen Kampf auf ökonomischem Gebiet führten und es zur selben Zeit für möglich hielten, zu der einen oder anderen bürgerlichen politischen Partei zu gehören.

Erst auf der folgenden letzten Stufe der Entwicklung macht sich die unterdrückte Klasse allseitig ihre Lage klar. Jetzt versteht sie, welcher Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat besteht, und appelliert auf die Schikanen ihrer Ausbeuter hin nicht an den, der das politische Organ eben dieser Ausbeutung ist. Sie weiß, dass der Staat eine Festung ist, die ihren Unterdrückern zur Stütze und Verteidigung dient, eine Festung, die man einnehmen kann und muss, die man nach den Interessen der eigenen Verteidigung umgestalten kann und muss, die man aber nicht im Vertrauen auf ihre Neutralität umgehen kann. Indem die Unterdrückten sich nur auf sich selbst verlassen, beginnen sie zu begreifen, dass die ‚politische Selbsthilfe’, wie Lange sagt, ‚die wichtigste aller Arten der sozialen Selbsthilfe ist’. Sie streben dann nach der politischen Herrschaft, um sich mittels der Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse und der Anpassung des gesellschaftlichen Systems an die Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung und ihres eigenen Wohlstands zu helfen. Natürlich erlangen sie die Herrschaft auch nicht auf einmal; nur schrittweise werden sie eine furchteinflößende Kraft, die in den Köpfen ihrer Gegner jeden Gedanken an Widerstand ausschließt. Lange Zeit suchen sie nur Zugeständnisse zu erreichen, fordern sie nur solche Reformen, die ihnen nicht die Herrschaft geben werden, sondern nur die Möglichkeit zu erstarken und reif zu werden für die zukünftige Herrschaft; Reformen, die ihre lebensnotwendigsten, allernächsten Bedürfnisse befriedigen und, wenn auch nur ein wenig, die Sphäre ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben des Landes verbreiten. Nur durch eine harte Schule des Kampfes um einzelne Stückchen feindlichen Territoriums erwirbt die unterdrückte Klasse die Hartnäckigkeit, Entschlossenheit und Reife, die für die Entscheidungsschlacht unentbehrlich sind. Hat sie aber einmal diese Fähigkeiten erworben, so kann sie ihre Gegner als eine endgültig von der Geschichte verurteilte Klasse betrachten; sie kann an ihrem Sieg nicht mehr zweifeln. Die sogenannte Revolution ist nur der letzte Akt in dem langen Drama des revolutionären Klassenkampfs, der nur in dem Maße bewusst wird, wie er zum politischen Kampf wird.

Es fragt sich nun, ob die Sozialisten zweckmäßig vorgehen würden, wenn sie die Arbeiter von der ‚Politik’ fernhalten würden mit der Begründung, die politische Struktur der Gesellschaft sei durch ihre ökonomischen Verhältnisse bedingt. Natürlich nicht. Sie würden den Arbeitern einen Stützpunkt für ihren Kampf rauben, würden ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre Anstrengungen zu konzentrieren und ihre Schläge gegen die von ihren Ausbeutern geschaffene gesellschaftliche Organisation zu richten. Stattdessen müssten die Arbeiter einen Partisanenkrieg mit den einzelnen Ausbeutern oder höchstens mit einzelnen Gruppen dieser Ausbeuter führen, auf deren Seite immer die organisiert Macht des Staates stehen würde." [3]

Durch seinen Kampf bestimmte Plechanow die wesentlichen Aufgaben der Sozialisten. Sie mussten all ihre Anstrengungen auf die Entwicklung eines politischen Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse konzentrieren und diese auf ihre historische Rolle als Führerin der sozialistischen Revolution vorbereiten. In dieser Definition ist auch die historische Bedeutung der Partei enthalten. Sie stellt das Instrument dar, das dieses Bewusstsein hervorbringt und entwickelt und auf der Grundlage eines bestimmten politischen Programms organisiert.

Die Schriften Plechanows stürzten die Volkstümler in eine Krise. In den späten 1880er Jahren befanden sie sich eindeutig in der Defensive gegenüber den Schlägen eines Mannes, den sie nur zehn Jahre zuvor als Abweichler von der "Volkssache" beschimpft hatten. Der politische Bankrott des Terrorismus wurde immer deutlicher. Plechanow wies nach, dass das Ziel des Terrorismus darin bestand, den Zarismus in Schrecken zu versetzen und die Herrschenden zu einer Änderung des Kurses zu bewegen. Daher bezeichneten Plechanow und die wachsende Schar von Marxisten die Terroristen als "Liberale mit Bomben" - eine Bezeichnung, die heute ebenso angemessen ist wie vor hundert Jahren. Darüber hinaus wies Plechanow nach, dass der Terrorismus, der ohne den langen Kampf für eine Hebung des Bewusstseins in der Arbeiterklasse auszukommen glaubte und die Massen durch Racheakte heldenhafter Individuum elektrifizieren wollte, nur dazu diente, die Bevölkerung zu demoralisieren und abzustumpfen.

Anmerkungen:

[3] Plechanow, Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt/Gelsenkirchen 1980, S.68ff.

Siehe auch:
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts - Teil 1
(14. September 2005)
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts - Teil 2
( 16. September 2005)
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts - Teil 3
( 17. September 2005)
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts - Teil 4
( 20. September 2005)
Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts - Teil 1
( 21. September 2005)
Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts - Teil 2
( 22. September 2005)
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