Wie kommt es zu Patiententötungen?

Im Fall des Krankenpflegers aus dem Allgäu ist Anklage erhoben worden

Am 15. September hat die Staatsanwaltschaft Kempten Anklage gegen den so genannten "Todespfleger von Sonthofen" erhoben. In dem größten Fall von Patientötungen in der deutschen Kriminalgeschichte wird dem 26-jährigen Krankenpfleger Stephan L. vorgeworfen, zwischen Februar 2003 und seiner Verhaftung im Juli 2004 insgesamt 29 Menschen getötet zu haben.

Die Staatsanwaltschaft wertet 16 Fälle als Mord, zwölf als Totschlag und einen Fall als Tötung auf Verlangen. "Er habe schwerstkranken Patienten sinnloses weiteres Leiden ersparen wollen, da keine Aussicht auf Besserung bestanden habe", erklärt der zuständige Oberstaatsanwalt Herbert Pollert über L.s Motive. Der Beginn des Prozesses ist voraussichtlich Anfang nächsten Jahres.

Der Fall in Sonthofen ist leider kein Einzelfall. Die wenigsten Patiententötungen werden jedoch entdeckt. Experten schätzen die Dunkelziffer auf jährlich bis zu 2.400 getötete Patienten.

Wie in so spektakulären Fällen üblich, war die Boulevardpresse sofort mit Beschimpfungen, Verdächtigungen und leichtfertigen Erklärungen zur Stelle: "Schlimmer Serienkiller", "Monster", "Massenmörder", "Todesengel" oder "irrer Todspritzer" lauteten die Schlagzeilen, die die Verkaufszahlen der Zeitungen und Magazine oder die Einschaltquoten der Privatsender in die Höhe treiben sollten. Der Reflex der Boulevardpresse und TV-Sender funktioniert stets in ein und dieselbe Richtung: Das angeblich "Böse", "die Abgründe", eines Menschen aufzudecken, um anschließend nach dem starken Staat zu rufen.

Niemand interessiert sich dort dafür, wie solche zweifelsohne abscheulichen Taten möglich sind, was die Hintergründe, genaueren Umstände und tieferen Ursachen sein könnten. Auch über den angeklagten Krankenpfleger ist in den Medien kaum etwas berichtet worden.

Dabei drängen sich im Falle der Patiententötungen die Fragen doch geradezu auf: Was kann Menschen, deren eigentlicher Beruf doch das Helfen ist, dazu bringen, Schwerkranke und Alte umzubringen? Welche Vorbedingungen in der Psyche der Täter müssen auf welche Konstellationen im sozialen Umfeld und in der Alten- und Krankenpflege treffen? Welches Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft findet hier statt und wie funktioniert es?

In Einzelfällen mag es sich um aktive Sterbehilfe und wirkliches Mitleid mit den Leiden der Opfer handeln. Doch bei den meisten Serienmorden an Alten und Kranken, spielt dies den Erkenntnissen zufolge eher eine untergeordnete Rolle, auch bei den Morden, die der Pfleger Stephan L. in Sonthofen begangen hat. Bei den getöteten Patienten handelte es sich in der Regel um schwer kranke, aber nicht unmittelbar sterbende Menschen. Der Tod trat zu diesem Zeitpunkt ziemlich überraschend ein. Vereinzelt war sogar die Entlassung der Opfer geplant.

Die Mitleids-These wird nicht nur von seinen ehemaligen Kollegen in Frage gestellt, sondern auch von dem renommierten Psychiater und Psychotherapeuten der Universität Witten/Herdecke und Chefarzt des St. Marien-Hospitals in Hamm, Karl Beine. Der Wissenschaftler Beine beschäftigt sich seit langem mit den Motiven, die Pflegekräfte wie L. dazu veranlassen können, die ihnen anvertrauten Patienten zu töten, und hat dazu weltweit Fälle untersucht.

"Krankentötungen verweisen nicht auf Mitleid, sondern auf die besondere Unfähigkeit der Täter, lästige und verwirrte, leidende und sterbende Menschen zu ertragen, zu begleiten und zu versorgen", erklärt Beine.

Was für ein Mensch war also Stephan L.? Er hatte in seiner Abschlussklasse in einem Fragebogen sein kleines Glück definiert: "Heiraten, Familie und im Allgäu ein Haus". Im Ferienort Gunzesried fand er mit seiner Freundin Daniela sein Traumhaus mit Blick auf Tannen und Berggipfel. Im Dorf unterschied ihn nichts von anderen Bürgern des Ortes. Entsprechend entsetzt sind nun die Dorfbewohner über die ihm zur Last gelegten Taten. Er, der gelegentlich nach Feierabend mit seiner Freundin ins Gasthaus "Goldenes Kreuz" gegangen war, hatte auf sie "nett und hilfsbereit" gewirkt.

Auch seine Kolleginnen und Kollegen beschreiben L. als "hilfsbereit und höflich", gleichzeitig auch als "introvertiert, wenig teamfähig und eigensinnigen Einzelgänger".

Bei seiner Bewerbung in Sonthofen hatte L. gute Zeugnisse vorzeigen können. Seine Ausbilderin hatte ihren Schülern die Empfehlung mit auf den Weg gegeben: "Pflegen Sie Ihre Patienten so, wie sie selbst gepflegt werden wollten. Sprechen Sie mit den Patienten und deren Angehörigen so, wie Sie erwarten, dass mit Ihnen gesprochen wird."

Aber offensichtlich war es Stephan L. in der täglichen Berufspraxis schwergefallen, diese Aufforderung in die Tat umzusetzen. So wird beispielsweise von ehemaligen Kollegen berichtet, dass L. recht ungehalten werden konnte, wenn ein Patient erbrach und damit viel Arbeit verursachte. Außerdem wurde bekannt, dass L. sich bei der Firma Bosch im Sanitätsbereich bewerben wollte. Dies wird von den Ermittlern als Hilferuf interpretiert, weil er unbedingt vom Krankenhaus fortkommen wollte.

Beine hat festgestellt, dass "manifeste psychische Erkrankungen" bei keinem von ihm untersuchten Täter vorlagen. "Kein Täter war krankheitsbedingt schuldunfähig." Charakteristisch aber sei für alle Täter eine "überdurchschnittlich große Selbstunsicherheit". Ein hinzukommendes Phänomen scheint das Sinken der Hemmschwelle nach der ersten Tötung zu sein. Eine Wiener Krankenschwester erklärte, dass ihr die "Sterbehilfe" zur Gewohnheit geworden sei. Ein anderer Täter sagte, dass bei ihm eine "immer größere Gefühlskälte" eingetreten und "mit jeder Tat ein Stück seiner Gefühle abgestorben" sei.

Die entscheidenden Impulse für Krankentötungen seien, so erklärt Beine, nicht auf die tatsächlichen Leiden der Opfer, sondern eher auf Persönlichkeitsmerkmale der Täter, individuelle Einstellungen und auf das unmittelbare berufliche Umfeld zurückzuführen. Weniger Mitleid mit den Patienten sei das Tatmotiv, sondern eher die Unfähigkeit der Täter, Leidenszustände aushalten zu können. Es handelt sich - so Beine - eher um Selbstmitleid als um wirkliche Anteilnahme am Leiden kranker Menschen.

In ihren Arbeitsfeldern seien sie konfrontiert mit langen und unaufgelösten Konflikten. "Hinter dem negativen Sprachschatz der Täter - da ist nicht selten von,Abkratzen’ oder,Krepieren’ die Rede - verbergen sich in Wirklichkeit Verunsicherung, Angst und die Unfähigkeit, traurige und bedrückende Situationen auf eine reife Weise zu reflektieren." Die verrohte Sprache und Selbstisolation innerhalb einer Arbeitsgruppe seien Frühwarnhinweise. Häufig komme es bei den Tätern zu einer Art "zynischer Erstarrung". Nach Beine könnte eine Arbeitsatmosphäre helfen, in der das klinische Personal auch "über seine aggressiven Fantasien offen reden kann". Eine solche Kultur der offenen Aussprache sei in Kranken- und Pflegeeinrichtungen bisher jedoch kaum zu erkennen.

Welche Kultur herrscht stattdessen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen vor?

Menschen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen erleben im wahrsten Sinne des Wortes hautnah, wie überflüssig sie in einer Gesellschaft geworden sind, in der ein Menschenleben nur zählt, wenn es Profit einbringt und möglichst keine Kosten verursacht. Dementsprechend werden öffentliche Einrichtungen immer mehr privatisiert und gezwungen, "wirtschaftlich" zu arbeiten. In den neunziger Jahren stieg der Anteil privater Kliniken um über 25 Prozent an, die Anzahl der privaten Betten sogar um etwa 50 Prozent. Derzeit sind etwa 30 Prozent der Akut-Kliniken in Deutschland in privater Hand - Tendenz steigend.

Gerade durch die Einführung der so genannten Fallpauschalen (DRGs), nach denen seit diesem Jahr abgerechnet wird, geraten öffentliche Einrichtungen immer stärker unter Druck. Der rasche Wandel in der Krankenhauslandschaft wurde im vergangenen Jahr in Hamburg deutlich. Der landeseigene - ehemals größte kommunale Klinikkonzern Europas - senkte die Ausgaben um 25 Prozent, entließ über 4.000 Beschäftigte, gliederte profitable Teile aus und verscherbelte den Rest an die private Asklepios-Gruppe.

Der Klinik in Sonthofen, in der Stephan L. beschäftigt war, droht das selbe Schicksal zu wiederfahren. Die ehemals eigenständige, öffentliche Einrichtung ist seit 1998 Teil der gemeinnützigen Klinik GmbH Oberallgäu. Ziel dieses Zusammenschlusses war es, mehrere Kliniken zu spezialisieren und "unprofitable" Teile auszugliedern. Um weiter Kosten zu senken, wurde Ende vergangenen Jahres ein Sanierungstarif entworfen, dem Betriebsrat und die Gewerkschaft ver.di zustimmten. Er beinhaltet für die Beschäftigten der Sonthofener Klinik Lohneinbußen und weitere Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen. Parallel dazu verlaufen noch immer die Pläne zur vollständigen Übertragung der Kliniken in Sonthofen, Obersdorf, Immenstadt und Hindelang in private Hände.

Unter diesen Umständen wird Pflege durch qualifiziertes und ausreichendes Personal als reiner Kostenfaktor gesehen, was zur Folge hat, dass der Anteil gut ausgebildeter Pflegekräfte zugunsten von Hilfskräften abnimmt. Nicht jede Pflegekraft ist den psychischen Belastungen und Frustrationen gewachsen, die diese Arbeit unweigerlich mit sich bringt.

Hinzu kommt die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion, in der vom "Altenberg", von "Rentnerschwemme" und ständig steigenden "Soziallasten" geredet wird, die sich die Gesellschaft nicht mehr leisten könne. "Die Alten leben auf Kosten der Jungen", erklärte unlängst der Jungliberale Jan Dittrich und forderte, alte Menschen sollten "den Löffel abgeben". Solch egoistisches und asoziales Verhalten wird mehr und mehr propagiert. Der JU-Vorsitzende Phillip Mißfelder forderte bereits vor zwei Jahren ungeniert, 85-jährigen Patienten keine Hüftgelenke mehr zu bezahlen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn schwache oft unzureichend ausgebildete und mit ihrer schweren Aufgabe allein gelassene Pflegerinnen und Pfleger kapitulieren und es zu psychotischen Kurzschlusshandlungen kommt.

Der katastrophale Zustand, in dem sich zahlreiche Kliniken und Pflegeeinrichtungen heute befinden, und die immer knapper bemessenen Ressourcen, die für Gesundheit und soziale Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden, sind Symptome für eine inhumane Gesellschaft, in der es nur darauf ankommt, den größtmöglichen Profit einer winzigen Minderheit zu sichern. Wer schwach und krank ist, ist nichts mehr wert, sondern nur noch eine Last. Wo das elende Sterben in diesen Einrichtungen nichts Besonderes mehr ist, werden Geisteshaltungen unterstützt, die die geschilderten Taten mehr oder weniger begünstigen.

Über die Psyche von Stephan L. und darüber, welche verschiedenen Aspekte ihn zu den Taten bewogen haben, lässt sich kein abschließendes Urteil fällen. Den größten Anteil daran dürften allerdings die immer schlechter werdenden Rahmenbedingungen für die Pflege haben, die zur Überlastung des Pflegepersonals führen. Da die Kürzungs- und Privatisierungspolitik im Gesundheitswesen fortgesetzt und verschärft wird, wird der Fall in Sonthofen leider nicht der letzte dieser Art sein.

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Zitate aus: Karl H. Beine: Homicides of patients in hospitals and nursing homes: a comparative analysis of case series. In: International Journal of Law and Psychiatry 26 (2003) 373-386

Siehe auch:
Ernste Fragen zum Mord an einem Berliner Kind
(24. September 2005)
Gesundheitsreform: Große Koalition gegen die Bevölkerung
( 8. August 2003)
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