Schiller und die Geschichte

Zweiter Teil: Geschichtsprofessor in Jena

Schiller eignet sich durch die Beschäftigung mit den historischen Darstellungen und Quellen und nicht zuletzt mit der Philosophie Kants schließlich ein so umfangreiches geschichtliches und geschichtsphilosophisches Wissen an, dass er sich trotz seiner ursprünglich eher naturwissenschaftlichen medizinischen Ausbildung dazu befähigt hält, dem Ruf an die Universität Jena zu folgen und dort Geschichte zu lehren. Zu keinem Zeitpunkt war die Beschäftigung mit der Geschichte für ihn nur ein Eintauchen in ferne Zeiten. Vielmehr ging Schiller offenbar mit dem dringenden Bedürfnis ans Werk, durch die Beschäftigung mit dem Geschichtsprozess ein Verständnis über das Wirken der politischen und gesellschaftlichen Triebkräfte seiner eigenen Zeit zu gewinnen.

Dies wird vom ersten Tage seines Wirkens in Jena deutlich. Seine Antrittsvorlesung in der Universitätsstadt Jena ist ein wahrhaft historisches Ereignis. Das hat zweifellos sowohl mit der damaligen politischen Aufbruchsstimmung, kurz vor dem Sturm auf die Bastille, als auch mit dem Ruf zu tun, der dem Dichter von Theaterstücken wie Die Räuber und Kabale und Liebe vorauseilte.

Schillers eigene Darstellung des Trubels um seinen ersten Auftritt als Professor ist äußerst amüsant zu lesen: In einem Brief vom 28. Mai 1789 an seinen Freund Körner beschreibt er nicht ohne Stolz, wie der ursprünglich gemietete Hörsaal nicht ausreicht und das Auditorium schließlich in den größten Hörsaal in Jena umziehen muss: "Nun gab es das lustigste Schauspiel. Alles stürzte hinaus und in einem hellen Zug die Johannisstraße hinunter, die, eine der längsten in Jena, von Studenten ganz besät war. Weil sie liefen, was sie konnten, um in Griesbachs Auditorium einen guten Platz zu bekommen, so kam die Straße in Alarm und alles an den Fenstern in Bewegung. Man glaubte anfangs, es wäre Feueralarm und am Schloss kam die Wache in Bewegung."

Das Auditorium, das zwischen 300 oder 400 Plätze hatte, war ebenfalls zu klein, so dass sich die Zuhörer noch im Flur und im Vorsaal bis an die Haustür zusammendrängen mussten. "Meine Vorlesung machte Eindruck, den ganzen Abend hörte man in der Stadt davon reden und mir widerfuhr eine Aufmerksamkeit von den Studenten, die bei einem neuen Professor das erste Beispiel war. Ich bekam eine Nachtmusik und Vivat wurde dreimal gerufen."

Ob aber das, was er seinen Zuhörern vermitteln wollte, auch bei diesen auf volles Verständnis stieß, darüber ist sich der Professor Schiller nicht so sicher. Sein Thema war auch recht anspruchsvoll: Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte.

Schiller beginnt zunächst damit, seinen Zuhörern den Unterschied zwischen einem "Brotgelehrten", dem Karrieristen und Opportunisten, der "nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen", der "seine Wissenschaft von allen übrigen absondert", und dem über den Tellerrand hinausblickenden "philosophischen Kopf" klarzumachen.

Ersterer bemühe sich, sein "Lehrgebäude gegen jede Erweiterung des Wissens abzuschotten". Der "philosophische Kopf" dagegen ist im Gegensatz zum Brotgelehrten bestrebt, das Gebiet seiner Wissenschaft "zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wiederherzustellen,... denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden." Nach der heutigen Terminologie würde man sagen, der Naturwissenschaftler und Dichter Schiller machte sich für ein interdisziplinäres, ganzheitliches Wissenschaftsverständnis stark.

Schiller geht es darum, die Geschichtswissenschaft in den Zusammenhang aller Wissenschaften zu stellen und die Menschheitsgeschichte als Teil der "Naturgeschichte" der menschlichen Gesellschaft zu verstehen oder, wie er es formuliert, um die Frage: "Welche Zustände durchwanderte der Mensch, bis er von jenem Äußersten zu diesem Äußersten, vom ungeselligen Höhlenbewohner - zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann hinaufstieg?"

Schiller geht wie Kant von einem philosophischen, teleologischen Ansatz aus, d.h. die Menschen agieren in der Geschichte auf ein Ziel hin, sie befinden sich in einem Prozess der Vervollkommnung ihrer Existenz, und die Geschichtswissenschaft reflektiert und erklärt diesen. Sie macht sich somit zu einem notwendigen Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts. Der Universalhistoriker steige rückwärts entgegen der wirklichen "Folge der Begebenheiten... von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen". Und dann, an Hand des Studiums der "Denkmäler", der Quellen, wie man heute sagen würde, müsse er am "Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter heruntersteigen."

Da aber die historische Überlieferung lückenhaft sei, "so würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen." Daher müsse ihr der philosophische Verstand zu Hilfe kommen und diese Bruchstücke zu einem "vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen" verketten. Dazu sei er auf Grund der "Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts" in der Lage, denn diese Einheit sei die Ursache dafür, "dass die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluss ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren; dass also von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtlosen Zeiten verlieren, rückwärts ein Schluss gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann."...

Aber der philosophische Geist könne bei dem "Stoffe der Weltgeschichte" nicht bleiben, es reize ihn, "alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren, und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung, die er erkannt, zum Gedanken zu erheben". Je öfter und erfolgreicher er versuche, "das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinandergreifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden.... Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal, und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet."

Seinen Zuhörern gibt er schließlich als Handlungsmaxime auf den Weg: "Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."

Schillers Interesse für die Geschichte und die großen Charaktere, die sie hervorbrachte, ist eng verbunden mit einer Hoffnung, die er für die eigene Zeit hegt, einen internationalen Zustand des Friedens zu erreichen. Er lehnt in einem Brief an Körner am 13. Oktober 1789 einen "vaterländischen", nationalistischen Blickwinkel ausdrücklich ab: "Es ist ein armseliges kleines Ideal für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geist ist diese Grenze durchaus unerträglich." (2) So arbeitet er an der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges heraus, wie dieser gerade durch das blutige Gemetzel und die Feindseligkeiten der europäischen Mächte schließlich dazu führte, dass in Europa eine moderne Staatengemeinschaft entstand.

Für Schiller war das Geschichtsstudium daher kein Selbstzweck, sondern ein wichtiges Instrument gesellschaftlicher Erkenntnis. Als Dramatiker faszinieren ihn natürlich vor allem große historische Umbrüche und das Wirken bedeutender Persönlichkeiten darin. Bevor er aber wieder zum Drama zurückkehrt, handelt er eine ganz Reihe bedeutender historischer Epochen ab, darunter das Mittelalter und die Kreuzzüge, die Antike (Lykurg) und die Geschichte der Israeliten. Besonders aber beschäftigen ihn die Zeit der Gegenreformation, die Rolle der Jesuiten, die Inquisition und der Dreißigjährige Krieg, weil er darin wichtige Erkenntnisse für das Verständnis seiner eigenen Epoche findet. Der Abschluss seiner Geschichte desselben erscheint im Historischen Kalender für Damen auf das Jahr 1793.

Zu dieser Zeit ist Schiller allerdings bereits zu der Erkenntnis gekommen, dass die Französische Revolution den selbst bestimmten, aufgeklärten und reifen Menschen noch nicht vorgefunden hatte, der notwendig gewesen wäre, um die von ihr propagierten Ideale zu verwirklichen. Seine philosophischen Überlegungen wandten sich darum den Fragen der Ästhetik zu. In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt er der Kunst die entscheidende Bedeutung dafür zu, ihn zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu befähigen. Oder mit seinen Worten ausgedrückt: "dass man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert." [ Über die ästhetische Erziehung des enschen in einer Reihe von Briefen ].

Wird fortgesetzt

Anmerkungen:

2) Rüdiger Safranski: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 339f

Siehe auch:
Erster Teil: Don Karlos und der Abfall der Niederlande

Dritter Teil: Wallenstein

Schiller und seine Zeit

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