Frankreich

Ilan Halimi aus Habgier gefoltert und ermordet

Das Bekanntwerden der Einzelheiten über die Entführung, Folterung und Ermordung von Ilam Halimi nach dreiwöchiger Gefangenschaft hat in ganz Frankreich einen tiefen Schock ausgelöst und tiefe Abscheu hervorgerufen. Er wurde in den frühen Morgenstunden des 13. Februar sterbend und nackt in der Nähe des Bahnhofs Sainte-Geneviève-des-bois im Süden von Paris aufgefunden. Er hatte zwei Messerstiche im Hals und Brandwunden auf achtzig Prozent des Körpers. Auf dem Weg ins Krankenhaus starb der 23-jährige Jude.

Am 26. Februar zogen 80.000 Menschen durch Paris, um ihr Entsetzen über das Verbrechen auszudrücken und gegen Antisemitismus und Rassismus zu protestieren. Alle Religionsgemeinschaften und ethnischen Gruppen waren vertreten, unter ihnen auch muslimische Organisationen. Auch in andern französischen Städten gab es Demonstrationen.

Ilam war in der Nacht zum 22. Januar entführt worden, nachdem die Entführer ihn zu einem Rendezvous gelockt hatten. Der Köder war ein attraktives Mädchen, das an seinem Arbeitsplatz, einem Laden im 11. Arrondissement von Paris, mit ihm geflirtet hatte. Sie hatte es auch bei anderen Telefonläden in diesem Bezirk versucht.

Der vermutete Anführer der Kidnapperbande aus der Plate-Pierre-Siedlung im südlichen Pariser Vorort Bagneux ist Youssouf Fofana (26), der sich selbst das "Gehirn der Barbaren" nennt. Er wurde inzwischen von der Elfenbeinküste, dem Heimatland seiner Eltern, an Frankreich ausgeliefert.

Es gibt immer mehr Hinweise, dass die kriminelle Bande, die den jungen Verkäufer entführte, schon seit 2004 oder sogar noch länger in - allerdings gescheiterte - Versuche verwickelt war, von insgesamt zwanzig Personen unter Gewaltandrohung Geld zu erpressen. Einige der Betroffenen waren prominente Bewohner der südlichen Pariser Vororte. Zu ihnen gehörte auch Jérôme Clément, der Präsident des französisch-deutschen Fernsehsenders Arte.

Die Bande wird auch verdächtigt, sieben Ärzte erpresst und sechs versuchte Entführungen begangen zu haben. Ein Viertel der Opfer der Bande waren Juden. Die Bande scheint sich abwechselnd als palästinensische oder korsische Terroristen und auch als Rapper-Gangster ausgegeben zu haben.

Fofana, ein französischer Staatsbürger, wurde am 21. Februar in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste verhaftet. Fofana ist Moslem, aber die 21 bisher von der französischen Polizei festgenommenen Personen, die wie Fofana überwiegend in der Siedlung Plate-Pierre aufwuchsen, entstammen unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen. Vier Mädchen sollen potentielle Opfer angelockt haben, und zwölf Jungen sollen für ein paar Euro, die man ihnen versprochen hatte, Ilan drei Wochen lang abwechselnd in einer Wohnung und in einem Keller in der Siedlung bewacht haben. Die Schlüssel stellte ein Hausmeister zur Verfügung.

Plate-Pierre ist eine gemischte Siedlung in dem Arbeitervorort Bagneux mit Sozialwohnungen und privaten Wohnblocks und einer im Vergleich zu anderen Arbeiterwohngebieten relativ niedrigen Arbeitslosigkeit von 12,5 Prozent. Die Siedlung ist ganz gut in Schuss, obwohl Bewohner der privaten Wohnblocks über eine gewisse Vernachlässigung klagen.

Allerdings gestehen Sozialarbeiter ein, den Kontakt zu der Altersgruppe der 16- bis 19-Jährigen, der die meisten der Verdächtigen angehören, verloren zu haben. Die Eltern hatten von den Vorfällen nicht die geringste Ahnung und sind entsetzt über das, was Ilan angetan wurde. Fofana und drei oder vier Unterführer scheinen der harte Kern der Bande zu sein. Die übrigen wurden mehr oder weniger hineingezogen.

Die Rädelsführer der Entführung sind noch auf der Flucht, und nur einer der Verdächtigen befindet sich im Polizeigewahrsam: Christophe Martin-Valet (22), der als Fahrer der Bande fungiert haben soll. Er soll die Mädchen in Clubs gefahren haben, in denen sie Opfer ausspähten.

Ein blondes Mädchen iranischer Herkunft, das Ilan in die Falle gelockt haben soll und dessen Photo von den Medien weit verbreitet wurde, hat sich am 16. Februar der Polizei gestellt. Ihre Informationen und die eines Jungen portugiesischer Abstammung, der Ilan bewacht hatte und über die Situation entsetzt war, ermöglichten der Polizei die schnelle Festnahme von dreizehn Verdächtigen.

Die Polizei schloss jede Verbindung der Bande zu islamisch-fundamentalistischen Organisationen aus. Die Pariser Staatsanwaltschaft informierte die Presse am 16. Februar, dass die Kidnapperbande nach ihrer Meinung nicht aus antisemitischen Motiven gehandelt habe. Sie wies darauf hin, dass mehrere Opfer der Bande keine Juden gewesen seien, und dass Ilans Familie keine antisemitischen Beleidigungen oder Botschaften erhalten habe.

Fofana hat antisemitische Motive geleugnet und sagt, die Entführung Ilans sei aus "rein finanziellem Interesse" geschehen. Teddy Cohen, der Anwalt eines der Verdächtigen, erklärte, sein Mandant habe nicht aus Antisemitismus gehandelt.

Die anfängliche Betonung des rein kriminellen Charakters der Schrecken, denen Ilan ausgesetzt war, warf die Frage auf: Wie konnte sich in der französischen Gesellschaft ein solch bestialisches Verhalten entwickeln? Ohne Zweifel ist es das Produkt eines gesellschaftlichen Zerfalls, von dem die ärmsten Schichten der französischen Gesellschaft erfasst sind, die sich hauptsächlich in den desolaten Vorstädten der städtischen Zentren konzentrieren.

Jahrzehntelange Vernachlässigung seit dem Ende des Nachkriegsbooms und dem Beginn der Sparpolitik 1982-83, angefangen mit der Regierung der Sozialistischen Partei von Präsident François Mitterand und Premierminister Pierre Maurois, und fortgesetzt von allen Regierungen seither, haben zu chronischer Arbeitslosigkeit, besonders unter der Jugend, und einem Klima der Verzweiflung geführt.

Weil weder die Kommunistische Partei - seit 1981 meistens in Koalition mit den Sozialisten - noch die Gewerkschaften - in erster Linie die mit der Kommunistischen Partei verbundene CGT - eine Alternative anboten, blieben diese Teile der Gesellschaft sich selbst überlassen. Die genannten Organisationen verabreichten lediglich Beruhigungsmittel und sorgten für Ruhe. Sie leben in ständiger Furcht vor sozialen Explosionen, wie sie vergangenen Herbst unter Einwandererjugendlichen der Arbeitervorstädte ausbrachen.

Die Entfremdung der Arbeiterklasse und der Einwandererjugend wurde durch die Politik der lokalen und nationalen Behörden verstärkt, die auf polizeiliche Unterdrückung statt auf sozialen Fortschritt setzten. Rassendiskriminierung und die ideologische Offensive gegen Moslems im Namen des "Kriegs gegen den Terrorismus" trugen das ihre dazu bei.

In Frankreich hat das die Form des Gesetzes gegen das Tragen des muslimischen Schleiers in den Schulen angenommen. Innenminister Sarkozy versuchte Stimmung gegen Moslems und Einwanderer zu machen. Von Polizeieskorten schwer bewacht besuchte er Wohngebiete und erklärte seine Absicht, die Siedlungen zu reinigen und von menschlichem "Abschaum" zu befreien.

Gleichzeitig gab es eine Gesetzesoffensive, um die Einwanderung mit gesetzlichen Maßnahmen einzuschränken.

Auf diesem Boden wuchs in zahlreichen Gemeinden eine Bandenkultur heran, wo Arbeitslose und unterbezahlte Jugendliche in Schattenwirtschaft und Kleinkriminalität abglitten. Das hat sie für reaktionäre und kommunalistische Ideologien, so auch für den Antisemitismus, anfällig gemacht. Am örtlichen Gymnasium in Sainte-Geneviève-des-Bois wurde über antisemitische Schmierereien berichtet.

Die weite Verbreitung des sozialen Zerfalls wird von den Berichten über einen 54-jährigen, nicht-jüdischen Mann bestätigt, der in Ostfrankreich entführt und am 25. Februar sterbend und nackt in einem Wald gefunden wurde. Seine Entführer hatten ihn gezwungen, die PIN-Nummer seiner EC-Karte preiszugeben. Die Gruppe, die aus ortsansässigen Straftätern bestehen soll, war mit den so erzielten tausend Euro nicht zufrieden. Sie schlug den Mann zwei Tage lang auf schreckliche Weise, um noch mehr Geld zu erpressen.

Die Reaktion der Regierung auf die Jugendrevolte vom vergangenen Herbst bestand in einer enormen Ausweitung des staatlichen Unterdrückungsapparats, der besonders gegen Einwanderer ausgerichtet wurde. Das Gesetz für Chancengleichheit, das jetzt im Parlament beraten wird, reduziert das Pflichtschulalter für Problemschüler auf vierzehn Jahre und kriminalisiert Eltern von Schuleschwänzern. Als Speerspitze für einen Generalangriff auf die Rechte der Arbeiter dient das Gesetz zum Arbeitsvertrag bei erstmaligen Einstellungen, (CPE), das es Arbeitgebern erlaubt, junge Arbeiter in den ersten zwei Jahren der Betriebszugehörigkeit ohne Begründung zu entlassen. Gegen das CPE-Gesetz entwickelt sich gerade eine große Bewegung.

Die Sozialpolitik Sarkozys und der gaullistischen Regierung, ähnlich der von Regierungen in aller Welt, schafft zwangsläufig eine Schicht demoralisierter und entmenschlichter Individuen. Ohne Zweifel tragen dazu auch das Foltern des britischen und amerikanischen Imperialismus in Abu Ghraib und Guantanamo und die "Überstellung" von Gefangenen zum Zweck der Folter und Eliminierung in alle Welt bei, die mit der Komplizenschaft Frankreichs und anderer europäischer Regierungen geschehen, sowie auch die Gräueltaten al-Qaidas. Auch der Zynismus und die Brutalität eines großen Teils der Unterhaltungsindustrie bleiben nicht ohne Wirkung.

Siehe auch:
Frankreich: Hunderttausende protestieren gegen die CPE
(18. Februar 2006)
Nein zum Ausnahmezustand in Frankreich!
( 10. November 2005)
Loading