Urteil zum Berliner Haushalt

Bundesverfassungsgericht vertieft Spaltung der Gesellschaft

Die Süddeutsche Zeitung hat das Bundesverfassungsgerichts-Urteil über den Berliner Haushalt mit einer Kelter verglichen, mit der Winzer den Most aus den Trauben pressen. Es presse "Berlin (und ebenso die anderen Armen Bundesländer) zu noch mehr Sparen", schreibt Heribert Prantl. Er vergaß hinzuzufügen, dass es sich bei den Trauben, die hier ausgepresst werden sollen, um das wachsende Heer der Armen und sozial Benachteiligten handelt.

Die Verfassungsrichter haben am Donnerstag einstimmig entschieden, dem Land Berlin trotz einem Schuldenberg von 61,6 Milliarden Euro keinen einzigen zusätzlichen Euro aus Bundesmitteln zuzugestehen, um seine Haushaltsnotlage zu beheben. Die Stadt, die in den vergangenen Jahren einen drastischen Sparkurs fuhr, habe noch genügend Sparpotentiale und Möglichkeiten seine Einnahmen zu erhöhen, erklärten die Richter.

Mit seinem Urteil reiht sich das oberste Gericht in die Reihe derer ein, die im Namen einer strikten Haushaltsdisziplin die Entsolidarisierung der Gesellschaft betreiben. Während die offizielle Politik noch heuchlerisch darüber debattiert, ob man das wachsende Heer der Armen als "Unterschicht" bezeichnen dürfe oder nicht, beschleunigt das Karlsruher Urteil das soziale und regionale Auseinanderdriften der Gesellschaft. Unnötig zu erwähnen, dass das Urteil in den führenden Kreisen von Politik und Wirtschaft fast einstimmig begrüßt wurde.

Die Entscheidung der Verfassungsrichter ist auch ein verheerendes Verdikt über die Politik des Berliner Senats. Die Koalition aus SPD und Linkspartei, über deren Neuauflage zurzeit verhandelt wird, hat drastische Einschnitte im Bildungsbereich, bei den Sozialausgaben und im öffentlichen Dienst vorgenommen und Zehntausende Wohnungen aus öffentlichem Besitz an private Investoren verscherbelt. Nur indem die Stadt ihren Sparwillen demonstriere, lautete die Begründung des regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit und seines Finanzsenators Thilo Sarrazin, könne sie zusätzliche Gelder vom Bund erhalten und die Finanzlage langfristig verbessern.

Die Verfassungsrichter haben nun den entgegengesetzten Schluss gezogen. Nachdem es SPD und Linkspartei gelungen ist, trotz schmerzlicher Einschnitte soziale Unruhen zu verhindern, folgern sie, man könne den Gürtel noch um einige Löcher enger schnallen. Die brutale Sparpolitik des rot-roten Senats hat ihnen den Mut gegeben, die Angriffe auf die Bevölkerung weiter zu verschärfen. Dabei kann es keinen Zweifel geben, dass sich SPD und Linkspartei ihrem Urteil fügen werden.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in mehrerer Hinsicht bedeutsam.

Zum einen zwingt es die Länder, ihren Sparkurs zu verschärfen. Das gilt nicht nur für Berlin, sondern auch für andere hoch verschuldete Länder wie Bremen und das Saarland. Sie können in Zukunft nicht mehr darauf hoffen, durch den Bund oder finanzstärkere Länder entlastet zu werden.

Die Verfassungsrichter vertraten die Auffassung, die von hoher Arbeitslosigkeit und Armut gezeichnete Hauptstadt sei noch lange nicht arm genug. Zynisch zitierte Richter Winfried Hassemer in der mündlichen Begründung den regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit mit den Worten, Berlin sei zwar "arm, aber sexy". Da "könnte man auf die Idee kommen, dass Berlin vielleicht deshalb so sexy ist, weil es so arm gar nicht ist", folgerte er.

Das Gericht machte in seinem Urteil auch deutlich, wie es sich weitere Sparmaßnahmen vorstellt. So monierte es, Berlin gäbe für Hochschulen, Wissenschaft und Kultur deutlich mehr Geld aus, als eine Großstadt wie Hamburg. Es schlug außerdem vor, die 270.000 im Eigentum des Landes verbliebenen Wohnungen zu verkaufen, was Miterhöhungen und Kündigungen zur Folge hätte und dem Senat ein wichtiges Instrument der sozialen Gestaltung aus der Hand nähme.

Dabei hält Berlin unter den Bundesländern schon jetzt den Rekord bei der Privatisierung öffentlichen Eigentums. Zu diesem Zweck wurde in den neunziger Jahren eigens ein "Berliner Modell" entwickelt, das im Wesentlichen darauf hinausläuft, staatlich garantierte Gewinne zu privatisieren und Verluste zu vergesellschaften. Die Zeche zahlt auch hier die Bevölkerung. So bescherte die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe den Berlinern eine jährliche Wasserrechnung von durchschnittlich 500 Euro - rund 200 Euro mehr als in München oder Köln. Auch die Milliardenverluste der Berliner Bankgesellschaft, für die der Senat mit Steuergeldern gerade stand, gehen auf dieses "Berliner Modell" zurück.

Dagegen haben die Verfassungsrichter selbstverständlich nichts einzuwenden, ebenso wenig gegen die Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Reiche. Dagegen schlagen sie eine Erhöhung der Gewerbesteuer vor, obwohl die Stadt seit der Wiedervereinigung unter der chronischen Abwanderung von Industriearbeitsplätzen leidet.

Das Verfassungsgerichts-Urteil hat einen weiteren wichtigen Aspekt: Es redet einer Einschränkung der Finanzhoheit der Länder das Wort, bei gleichzeitigem Standortwettbewerb zwischen den Ländern. So mahnt es gesetzliche Regeln über die Höhe der Verschuldung, eine Neuregelung des Finanzausgleichs sowie die Auflösung kleinerer Länder mit Finanzproblemen an. Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg und Bremen oder kleinere Länder wie das Saarland würden dann ihre Eigenständigkeit verlieren.

Eine Neuregelung des Finanzausgleichs fordern vor allem die finanzstarken Länder im Süden seit langem. Sie sind nicht mehr bereit, für die ärmeren Länder im Norden und Osten der Republik einzustehen. Der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat das jüngste Urteil entsprechend enthusiastisch begrüßt. Er wertete es als "deutlichen Fingerzeig" für eine Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern.

Eine solche Reform soll mit der zweiten Stufe der Föderalismusreform in Angriff genommen werden. Laut Alt-Bundespräsident Roman Herzog, der einst selbst dem Verfassungsgericht vorsaß, soll so ein Steuer-, Haushalts- und Ausgabensystem entstehen, das auf "mehr Selbstverantwortung der Länder" beruht.

Mit "Selbstverantwortung" ist gemeint, dass die Länder mittels niedriger Steuersätze, laschen Arbeits- und Umweltgesetzen und ähnlichen "Standortvorteile" um Investoren und betuchte Steuerzahler buhlen - anstatt sich gegenseitig zu unterstützen, wie dies im Rahmen des bisherigen Finanzausgleichs der Fall war.

Die Folge einer solchen Entwicklung wäre die Verödung ganzer Landstriche auf der einen und die Herausbildung einiger reicher Zentren auf der anderen Seite, in denen Mieten und Lebenshaltungskosten derart hoch sind, dass Arbeitslose und andere sozial Benachteiligte sich diese nicht mehr leisten können - mit anderen Worten, sie würde zum Auseinanderbrechen der Gesellschaft führen.

Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fügt sich nahtlos an sein Urteil vom 25. August 2005. Damals legitimierte es die vorzeitige Auflösung des Bundestags durch Bundeskanzler Gerhard Schröder, obwohl die Verfassung einen solchen Schritt gar nicht vorsah. Es stärkte damit die Macht der Exekutive gegenüber dem Parlament und den Wählern.

Die vorgezogene Neuwahl sollte eine rechte, neoliberale Regierung unter Angela Merkel und Guido Westerwelle an die Macht bringen, nachdem Schröder mit seiner Agenda 2010 auf wachsenden Widerstand gestoßen war. Die Wähler durchkreuzten diese Pläne allerdings, Union und FDP verfehlten die Mehrheit. Schließlich wurde eine Große Koalition gebildet, die inzwischen selbst auf zunehmende Schwierigkeiten stößt.

Das Urteil über den Berliner Haushalt öffnet eine neue Schleuse für die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften breite Bevölkerungsschichten. Hatte das Karlsruher Gericht früher, in der auf Ausgleich und Konsens bedachten Nachkriegsgesellschaft, des Öfteren eine mäßigende Rolle gespielt und allzu ungestüme Politiker zur Ordnung gerufen, ist es mittlerweile selbst zum Scharfmacher im Klassenkampf mutiert.

Siehe auch:
Bundesverfassungsgericht legitimiert vorgezogene Neuwahl
(26. August 2005)
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