Mehr als 200 000 demonstrieren gegen Sozialabbau

DGB-Redner wollen soziale Explosion verhindern

Zu den fünf Großkundgebungen in Berlin, Dortmund, Frankfurt am Main, Stuttgart und München kamen am vergangenen Samstag weitaus mehr Menschen als der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) erwartet hatte. Vor allem in Berlin beteiligten sich sehr viele Arbeitsloseninitiativen und "Hartz IV-Selbsthilfegruppen".

Sie kamen nicht nur aus der Bundeshauptstadt, sondern auch aus vielen ostdeutschen Städten und Gemeinden, in denen die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch ist wie im Westen. Vielen Demonstranten hatten gemeinsam mit der ganzen Familie stundenlange Busfahrten auf sich genommen, um vormittags in Berlin zu sein. Sie beteiligten sich dann an einem langen Fußmarsch durch die Innenstadt, vom Roten Rathaus zum Brandenburger Tor. Nicht wenigen war anzusehen, dass sie mit ein paar hundert Euro im Monat auskommen müssen. Die Angaben über Teilnehmerzahlen schwankten in Berlin zwischen 60.000 und 80.000.

Die Stimmung war gereizt. Die DGB-Redner fanden wenig Beachtung. Auf Plakaten und Spruchbändern stand: "Arm trotz Arbeit!", "Überfüllte Klassen - fehlende Lehrer!", oder "Keine Lehre, Keine Arbeit, Keine Zukunft!" Die Debatte unter führenden Politikern und in den Medien, ob es politisch korrekt sei von einer wachsenden "Unterschicht" zu sprechen, wurde mit Sprüchen beantwortet, wie "Hier marschiert die Unterschicht" oder "Weg mit der geistigen Unterschicht im Kanzleramt!".

In Gesprächen wurde immer wieder betont, dass es schier unmöglich sei, von Hartz IV zu leben. Mütter schilderten in Einzelheiten, wie erniedrigend es sei, um jedes Kleidungsstück für die Kinder auf Ämtern zu betteln, und wie schwer es falle, dem Sohn oder der Tochter die Teilnahme an einer Klassenreise zu verweigern, weil kein Geld dafür vorhanden sei. Ein arbeitsloser Familienvater aus Cottbus brachte die Stimmung vieler auf den Punkt, als er gegenüber einem Reporter der WSWS sagte: "Das ganze Gerede hier löst überhaupt nichts. Notwendig ist ein Volksaufstand. Vor 15 Jahren haben wir eine Regierung gestürzt, jetzt müssen wir es wieder tun."

Der DGB hatte versucht, die Kundgebungen wie Volksfeste zu gestalten. Aus der Lautsprecheranlage tönte ohrenbetäubende Musik. An Verkaufsständen wurden Bier und Bratwürste, an anderen Schmuck und Souvenirs angeboten.

Doch als der Hauptredner am Brandenburger Tor, der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske ans Mikrophon trat, schallte ihm der Ruf "Wir wollen streiken!" entgegen. Vor der Bühne hatte sich eine Delegation von Arbeitern des Bosch-Siemens-Haushaltegeräte-Werk in Berlin-Spandau versammelt. Seit dem 25. September streiken die mehr als tausend Beschäftigten gegen die drohende Werksschließung.

Wenige Tage vor der DGB-Kundgebung hatten die IG Metall und der Betriebsrat einer Vereinbarung mit der BSH-Geschäftsleitung zugestimmt, die vorsieht, dass 219 Beschäftigte entlassen werden und für alle anderen die Löhne um durchschnittlich 20 Prozent gesenkt und die Arbeitszeit verlängert werden. Obwohl diese Vereinbarung auf einer Streikversammlung von 67 Prozent der Belegschaft abgelehnt wurde, erklärten die Vertreter der IG Metall den Streik für beendet. Sie verwiesen auf die Satzung der Gewerkschaft, nach der mehr als 75 Prozent der Beschäftigten das Verhandlungsergebnis ablehnen müssen, um den Streik fortzusetzen.

Bsirske richtete seine Rede nicht an die versammelten Arbeiter und Arbeitslosen, sondern an die Regierung. Er warnte davor, dass das Ausmaß und die Konsequenzen der sozialen Krise unterschätzt würden. Soziale Ungleichheit sei "kein demographisches Problem", sondern eine "soziale Zeitbombe", die dringend entschärft werden müsse. Es dürfe nicht zugelassen werden, dass "Leute wie Joseph Ackermann" als Chef der Deutschen Bank "sich die Taschen voll stopfen und ihre Gehälter um Millionen erhöhen", während für die große Mehrheit der Bevölkerung die Einkommen schrumpfen.

Dass gerade die Tarifpolitik von Verdi maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Einkommen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst drastisch gesunken sind, sagte Bsirske nicht. Stattdessen warnte er vor Billiglöhnen aus Osteuropa und machte indirekt die polnischen Arbeiter für die soziale Misere verantwortlich, weil sie "für einen Euro und weniger" in vielen Städten arbeiten.

Bsirske versuchte die hohe Zahl der Kundgebungsteilnehmer zu Nutzen, um die Bedeutung des DGB zu betonen und die Große Koalition aufzurufen, stärker als bisher auf die Stimme der Gewerkschaften zu hören.

Dortmund

In Dortmund folgten etwa 30.000 Menschen dem Aufruf, gegen die Sozialpolitik der Großen Koalition zu demonstrieren. Neben Gewerkschaftsdelegationen waren in die ehemalige Kohle- und Stahlstadt (über 100.000 Industriearbeitsplätze sind hier in den letzten Jahrzehnten vernichtet worden) auch zahlreiche Arbeitslose gekommen. Viele kritisierten das Motto der Demonstration, "Das geht besser". "Soll das heißen, dass die Politik bisher schon ganz in Ordnung war?", fragte ein ehemaliger Hoesch-Stahlarbeiter, der jetzt arbeitslos ist.

Insgesamt war auch in Dortmund unter den Demonstranten eine große Wut gegen alle Politiker und auch gegen die Gewerkschaften zu verspüren. Denn der Gegensatz zwischen Worten und Taten der Gewerkschaften war mit Händen zu greifen, als der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters in seiner Rede einen Mindeststundenlohn von 7,50 Euro forderte. In Deutschland arbeiten derzeit über 4 Millionen Menschen für weniger Geld in der Stunde und zwar nach Tarif - vereinbart auch mit der IG Metall.

Der Chef der weltweit größten Industriegewerkschaft beklagte lautstark die Politik der Großen Koalition. Doch Peters ist nicht nur selbst SPD-Mitglied, in seiner Eigenschaft als IG-Metall-Vorsitzender war und ist er auch direkt und indirekt an der Politik, die er jetzt so lautstark verurteilt, beteiligt gewesen. Die IG Metall hatte ihre eigenen Vertreter in der Hartz-Kommission, wo unter der Leitung des SPD- und IG-Metall-Mitglieds Peter Hartz die verhassten Arbeitsmarktreformen entwickelt wurden, gegen die sich nun der Protest richtet.

Peters fordert eine "Reform" der "Arbeitsmarktreformen", so zum Beispiel die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere und "ein Arbeitslosengeld II, das zum Leben reicht". Er lehnte auch die Rente mit 67 ab: "Die, die Arbeit haben, sollen zwei Jahre länger arbeiten, damit die, die keine Arbeit haben, auch keine Arbeit bekommen." Das sei absurd. Die geplante Rente mit 67 sei "nichts anderes als ein weiteres Rentenkürzungsprogramm".

Doch dass die Erhöhung des Rentenalters von seinem Parteigenossen Franz Müntefering in seiner Funktion als Arbeitsminister vorgeschlagen und angestrebt wird, und dass Müntefering seine "Hausmacht" in der SPD gerade auf die Gewerkschaftsbürokratie im Ruhrgebiet stützt, sagte Peters nicht.

Frankfurt

In Frankfurt schimpfte Klaus Wiesehügel, der Bundesvorsitzende der IG BAU, als Hauptreferent über die "falsche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik" und die Auswirkungen der "Merkel-Gesundheitsreform", während er persönlich als Mitglied der so genannten "Rürup-Kommission" unter Kanzler Schröder die Weichen für diese Entwicklung gestellt hat.

Ein anderer altgedienter Gewerkschaftsbürokrat stand in Frankfurt in der ersten Reihe: Franz Steinkühler. Der frühere IG Metallvorsitzende hatte Ende der achtziger Jahre die Rechtswende in den Gewerkschaften mit eingeleitet, ehe er 1993 wegen Verdachts auf Insidergeschäfte zurücktreten musste. Heute ist er als Vermögens- und Unternehmerberater tätig.

Die große Mehrheit der schätzungsweise 20.000 Teilnehmer der Kundgebung in Frankfurt bestand dagegen aus Arbeitern, Jugendlichen, Arbeitslosen, Studenten und Rentnern, unter ihnen Beschäftigte von Opel in Rüsselsheim und Kaiserslautern und von Bergbaubetrieben aus dem Saarland, sowie Mitarbeitern der von Entlassungen betroffenen Allianz-Versicherungen, der Bahn, des öffentlichen Dienstes, etc. Ihre Wut richtete sich nicht nur gegen Merkel und die Unternehmer, sondern ausdrücklich auch gegen die SPD und Gewerkschaftsführung.

So stand auf einem Transparent: "Rente mit 67, Müntefering du Drecksack. Wir fordern nach 40 Jahren Wechselschicht eine Rente ohne Abzug, egal wie alt". Auf anderen Spruchbändern war zu lesen: "Schwarz-Rot - der kleinen Leute Tod", oder "Weg mit Hartz IV! Hartz kommt von der Saar - wir auch" (Transparent von Arbeitern aus Saarbrücken) - "Die Armut der einen ist der Reichtum der andern - Keine Allianz ohne uns!" (Beschäftigte der Allianz-Versicherung, die zur Zeit mehrere Tausend Mitarbeiter entlässt) - "Neckermann macht’s möglich: Armutslöhne im Versandgeschäft" (Neckermann hat eine Versandzentrale in Frankfurt-Fechenheim).

Stuttgart

Auf dem Stuttgarter Schlossplatz versuchte die Gewerkschaft mit Musikgruppen und "Show-Aktionen" Party-Stimmung zu verbreiten. Die wirklichen Probleme der Menschen interessierten die Veranstalter nicht. Es ging nur darum, für den Hauptredner, den Vorsitzenden des DGB, Michael Sommer, eine Kulisse zu schaffen. Vor einem Wald aus Kameras sagte Sommer: "Ich kann der Großen Koalition nur raten, den heutigen Warnruf aus der Mitte der Gesellschaft nicht zu ignorieren." Gleichzeitig ist er seit 25 Jahren SPD-Mitglied und bietet der Großen Koalition bei jeder Gelegenheit enge Zusammenarbeit an.

Wie wenig die Gewerkschaften an den Problemen der Menschen interessiert sind, die von Hartz IV und dem rapiden Sozialabbau betroffen sind, wird auch dadurch deutlich, dass von den fünf Kundgebungen des DGB nicht eine im Osten stattfand. Weder in Leipzig, Dresden, Magdeburg oder Frankfurt/Oder wagte es der DGB aufzutreten. Offenbar haben die Herrn Funktionäre Angst, dass ihre hohlen Phrasen dort, wo die Arbeitslosigkeit doppelt und in machen Regionen sogar drei Mal so hoch ist wie im Westen, nicht nur auf Murren, sondern auf handfesten Widerstand stoßen.

Die Partei für Soziale Gleichheit (PSG) verteilte auf den Kundgebungen ein Flugblatt, das die feige Anpassung der Gewerkschaften an die Politik der Regierung scharf verurteilte und auf viel Zustimmung stieß. Es begann mit den Worten: "Der Aktionstag, zu dem die DGB-Gewerkschaften aufgerufen haben, ist von einem offensichtlichen Widerspruch geprägt: Während Millionen Menschen über wachsende Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Armut besorgt sind, werden die Reden auf den Kundgebungen von Leuten gehalten, die in hohem Maße mitverantwortlich für die soziale Misere sind."

Siehe auch:
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Armut erfordert eine sozialistische Perspektive, eine internationale Strategie und eine revolutionäre Partei
(20. Oktober 2006)
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