Marxismus gegen Nationalismus - eine Podiumsdiskussion zum Kosovo

Eine Podiumsdiskussion über den Kosovo, die am vergangenen Mittwoch in Berlin stattfand, hat die tiefe Kluft veranschaulicht, die die marxistische Haltung zur nationalen Frage von der Haltung kleinbürgerlicher Radikaler trennt.

Die Diskussion fand im Rahmen des 8. Balkan Black Box Festivals statt, einem Festival für Film, Musik, Ausstellungen, Literatur und Debatte aus und über Südosteuropa. Sie stand unter dem Titel "Selbstbestimmungsrecht für alle? Die Kosovofrage und die deutsche Linke". Doch obwohl alle Diskussionsteilnehmer sich selbst als "Linke" verstanden, hätte der Gegensatz zwischen den vertretenen Standpunkten tiefer nicht sein können. Sie reichten vom unverhohlenen kosovarisch-albanischen Nationalismus über die Beschönigung des serbischen Nationalismus bis hin zum sozialistischen Internationalismus.

Der erste Standpunkt wurde von Max Brym aus München vertreten. Brym ist Herausgeber der Web Site Kosova-Aktuell und Mitglied der Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) sowie der Sozialistischen Alternative (SAV).

Die Web Site Kosova-Aktuell bietet kosovarischen Nationalisten unterschiedlicher Prägung eine Plattform, von der sie ungehindert ihr chauvinistisches Gift versprühen können. Vertreter der UCK kommen darauf ebenso zu Wort, wie eine Gruppierung namens "Bewegung für Selbstbestimmung" (LPV). Letztere lehnt jegliche Verhandlungen mit Belgrad über den Status des Kosovo kategorisch ab und tritt bedingungslos für ein "souveränes Kosova" ein - eine Haltung, die nur durch ein neuerliches ethnisches Blutbad verwirklicht werden könnte. Die Begriffe "Serbien" und "Serben" erscheinen auf Kosova-Aktuell meist im Zusammenhang mit dem Adjektiv "faschistisch".

Brym, der die meisten redaktionellen Beiträge von Kosova-Aktuell selbst verfasst, versucht diesem nationalistischen Gegeifer einen linken Anstrich zu geben, indem er das "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" zu einem allgemeinen, über der Geschichte stehenden marxistischen Prinzip erhebt. Dabei gesteht er das Selbstbestimmungsrecht ausschließlich den Kosovo-Albanern zu, während ihm Serben - einschließlich der serbischen Arbeiter - allesamt als Reaktionäre gelten. Andere nationale Minderheiten, wie die allseits verfolgten Roma, kommen in seinem Weltbild gar nicht vor.

Schon vor Jahren hatte Brym geschrieben: "Eine Unabhängigkeit des Kosova ist notwendig, um in Serbien wieder zu einer Arbeiterbewegung zu kommen, die sich nicht über mittelalterliche Mythen aus denen Gebietsansprüche abgeleitet werden an die eigene Reaktion binden lässt. Solange in der Kosova-Frage der serbische Arbeiter genauso denkt wie der serbische Reaktionär, sind soziale und demokratische Kämpfe ausgeschlossen. Das albanische Volk hat den Wunsch nach Unabhängigkeit (mit ihr auch andere nationale Gruppen in der Region), dieser Wunsch kann nur mit terroristischer Gewalt unterdrückt werden und solange serbische Arbeiter das unterstützen ... wird es keine Verbindung mit den albanischen Massen geben." (1)

Die serbischen Arbeiter sollen also vom reaktionären Nationalismus kuriert werden, indem man in einem unabhängigen Kosovo der UCK an die Macht verhilft - einer rechten, bürgerlichen, durch zahlreiche Fäden mit dem organisierten Verbrechen verbundenen Bewegung. Was für eine absurde Logik! Dieselbe UCK hatte 1999 in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright für die Provokationen gesorgt, die der Nato als Vorwand für die Bombardierung Serbiens und vieler serbischen Fabriken dienten.

Diesen Standpunkt vertrat Brym auch auf der Podiumsdiskussion in Berlin. Er wird dabei von seiner Organisation, der SAV unterstützt. Deren Bundessprecher Stefan Stanicic hatte erst kürzlich unter Berufung auf den angeblich "marxistischen Grundsatz, für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen einzutreten", erklärt: "Ein souveränes Kosovo ... bietet die Perspektive, allen fortschrittlichen Kräften auf dem Balkan zu nützen." (2)

Peter Schwarz, der für die World Socialist Web Site an der Podiumsdiskussion teilnahm, trat diesem Versuch, Nationalismus und Chauvinismus in ein pseudo-marxististisches Gewand zu hüllen, entschieden entgegen.

Bereits in seinem ersten Beitrag bekannte er sich zum Internationalismus und zur strikten Ablehnung jeglichen Nationalismus’ - ob albanischer oder serbischer Prägung. Ein unabhängiger Kosovo, sagte er, "wäre keine Verwirklichung der demokratischen und sozialen Bestrebungen der kosovarischen Bevölkerung. Ein solcher Staat wäre ein Spielzeug in den Händen der Großmächte. Er wäre ökonomisch nicht lebensfähig, von Rückständigkeit und Unterdrückung geprägt - kurz, er wäre ein Albtraum."

Nur der Zusammenschluss der Arbeiter aller Nationalitäten im Kampf für eine sozialistische Balkanföderation könne die politische und soziale Unterdrückung überwinden und die Region aus dem Würgegriff der Großmächte befreien. Ihre Aufsplitterung in ethnisch begründete Kleinstaaten stehe dieser Aufgabe direkt entgegen.

Schwarz betonte, dass man die Haltung zur Kosovo-Frage nicht abstrakt aus dem "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" ableiten könne. Notwendig sei ein historisches Verständnis der nationalen Frage auf dem Balkan und der internationalen Zusammenhänge.

Es seien die Großmächte gewesen, insbesondere die damalige deutsche Regierung unter Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, die mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens und später Bosniens die Zersplitterung Jugoslawiens vorangetrieben hätten, um durch diese "Balkanisierung" ihren eigenen Einfluss zu stärken. Serbien sei ihnen dabei als potentielle Regionalmacht im Weg gestanden - daher der Angriff der Nato auf Belgrad unter zynischer Ausnutzung der Kosovo-Frage.

Man dürfe auch nicht übersehen, "dass dieser Krieg den USA als eine Art Generalprobe für den Irakkrieg diente, während er in Deutschland dank der Unterstützung der Grünen zum Testfall für internationale Kriegseinsätze der Bundeswehr wurde".

Im Laufe der Diskussion setzte sich Schwarz dann mit der Behauptung auseinander, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sei ein zeitloses marxistisches Prinzip.

"Die Verteidigung unterdrückter Nationalitäten verpflichtet Marxisten nicht zur Unterstützung des bürgerlichen Nationalismus", sagte er. "Der fortschrittliche Charakter des nationalen Befreiungskampfs war historisch mit den Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution verbunden - der demokratischen Umgestaltung des Staates, der Lösung der Agrarfrage, der Überwindung der feudalen Zersplitterung, der Schaffung eines nationalen Markts, der Abschüttelung des imperialistischen Jochs. Wenn eine nationale Bewegung dagegen vorwiegend für die Privilegien einer bestimmten Nationalität oder Klasse eintritt - und das ist der Charakter aller bürgerlichen Bewegungen - dann wird sie unweigerlich reaktionär."

Lenin habe zwar die Losung der Selbstbestimmung ins Programm der Bolschewiki aufgenommen. "Aber sie bedeutete keine Unterstützung für den nationalen Separatismus. Sie brachte die Opposition der Bolschewiki gegen das Vorgehen der Regierung zum Ausdruck, unterdrückte Nationalitäten mittels militärischer Gewalt zum Verbleib in Zarenreich zu zwingen. Sie sollte die wechselseitigen Animositäten zwischen den Arbeitern unterschiedlicher Nationen und den Einfluss der bürgerlichen Nationalisten überwinden."

Erst in der Folgezeit sei die Bedeutung der Selbstbestimmung von den Stalinisten und anderen Verfälschern des Marxismus so verdreht worden, dass sie blinde Unterstützung für jede nationale Forderung bedeutete.

"Auf dem Balkan, wo sich Gebietsgrenzen und Volksgruppen wirr überschneiden, stellten die Marxisten dem Bestreben nationalistischer Kräfte, die Region durch periodisch wiederkehrendes Blutvergießen in ethnisch definierte Zwergstaaten aufzuteilen, die Perspektive Vereinigter Sozialistischer Balkanstaaten entgegen", fuhr Schwarz fort.

Er zitierte einen Artikel Leo Trotzkis aus dem Jahr 1910, in dem dieser erklärt, es gebe nur zwei Möglichkeiten, den Flickenteppich der Zwergstaaten zugunsten eines lebensfähigen Staates auflösen: "Entweder von oben, durch die Ausdehnung eines Balkanstaates, der sich als stärkster erweist, auf Kosten der schwächeren - das ist der Weg der Vernichtungskriege und der Unterdrückung schwacher Nationen, ein Weg, der den Monarchismus und Militarismus festigt; oder von unten, durch den Zusammenschluss der Völker selbst - das ist der Weg der Revolution, der den Sturz der Balkandynastien bedeutet."

Schwarz warnte vor den Auswirkungen einer Politik der Kleinstaaterei, wie sie von Brym und der SAV unterstützt wird. "Wenn jede Nationalität einen ethnisch reinen Staat schaffen will, führt das zu einer Kettenreaktion von blutigen Vertreibungen. Marxisten dürften sich niemals an nationalistische Strömungen anpassen, selbst wenn diese scheinbar stark sind, sondern sie müssen ihnen entgegentreten und vor ihren Folgen warnen."

Ein weiterer Teilnehmer der Podiumsdiskussion, Rüdiger Göbel von der Zeitung Junge Welt, kritisierte ebenfalls den kosovarischen Separatismus. Im Gegensatz zu Schwarz trat er aber nicht für eine unabhängige Perspektive für die Arbeiterklasse ein. Stattdessen berief er sich auf die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen, auf Völkerrecht und UNO.

Unter den knapp 50 Zuhörern stieß die Diskussion auf reges Interesse. Unter anderem wurde aus dem Publikum die Frage gestellt, wie sich das Mobilisierungspotential nationalistischer Bewegungen in den postsozialistischen Ländern Europa erklären lasse.

Während die anderen Gesprächsteilnehmer der Frage auswichen, antwortete Schwarz, es seien zwei Faktoren dafür verantwortlich. Der erste sei die jahrzehntelange, systematische Unterdrückung der sozialistischen Traditionen und die Ausrottung einer ganzen Generation marxistischer Revolutionäre durch den Stalinismus in den dreißiger Jahren. Dies habe das Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse untergraben und ein Vakuum geschaffen, das rechte Kräfte ausnutzen.

Der zweite bestehe darin, dass die neureiche Elite, die aus der alten Bürokratie und mafiösen Strukturen hervorgegangen sei, immer dann die nationalistische Karte zücke, wenn sie ihren Reichtum durch eine sozialistische Bewegung bedroht sehe. Der russische Präsident Putin und seine Ausnutzung des Tschetschenienkriegs seien in dieser Hinsicht typisch.

Schwarz warnte abschließend noch einmal, sich an solche Strömungen anzupassen. "Als Marxist kann man keinen Kompromiss mit dem Nationalismus machen, sonst macht man sich für seine Folgen mit verantwortlich. Man muss dem Nationalismus konsequent entgegengetreten."

1) http://www.juedisches-archiv-chfrank.de/kehilot/albania/brym-kosova01.htm

2) http://www.sozialismus.info/index.php?name=News&sid=1629&ds=print.htm

Siehe auch:
Nach der Schlächterei: Politische Lehren aus dem Balkankrieg
(16. Juni 1999)
Loading