Demonstration gegen Schließung des VW-Werks in Brüssel

Ein Alibi für die Gewerkschaftsbürokratie

Über zwanzigtausend Arbeiter marschierten am vergangenen Samstag durch die Brüsseler Innenstadt, um gegen die drohende Schließung des Volkswagen-Werks im Stadtteil Forest zu protestieren. Etwa 3.500 VW-Arbeiter waren geschlossen vom VW-Werk zum Südbahnhof gekommen, wo sich ihnen Familienangehörige, Arbeiter aus anderen Betrieben, Angestellte, Jugendliche und Arbeitslose anschlossen. Zahlreiche Nationalitäten waren vertreten, die meisten kamen aus Brüssel und den umliegenden belgischen Städten.

Es gab so gut wie keine politischen Slogans. Auf den Plakaten und Transparenten stand nur "Solidarisch für die Arbeitsplätze" und die Namen der verschiedenen Gewerkschaften. Vom Werk her wurden kaputte Chassis und ein Sarg mitgetragen. Frührentner von VW trugen ein selbst fabriziertes Plakat mit dem Text: "Vorruheständler mit euch - mit der Wut im Herzen".

Delegationen anderer belgischer Betriebe, die ebenfalls von Entlassungen bedroht sind, wie Kraft Food, protestierten mit eigenen Transparenten gegen Arbeitsplatzvernichtung. Andere Banner enthielten große Karikaturen mit Anspielungen auf den Sexskandal der deutschen Betriebsratsspitze um Klaus Volkert: Er hatte allein im Jahr 2002 fast 700.000 Euro und die Spesen für seine Freundin in Brasilien erhalten.

Während die Wut, die Empörung und die Sorgen der Demonstranten echt waren, diente die Demonstration der Gewerkschaftsbürokratie als Alibiveranstaltung. Die Gewerkschaften hatten zu einer "internationalen Demonstration" aufgerufen und sie als Kundgebung der VW-Beschäftigten aller europäischen Standorte gegen Arbeitsplatzvernichtung und Produktionsverlagerung ausgegeben. "Wir lassen nicht zu, dass die einzelnen VW-Standorte gegeneinander ausgespielt werden", hatte die IG Metall-Führung in Deutschland in ihrem Aufruf formuliert.

Tatsächlich haben IG Metall und der Betriebsrat im Wolfsburger Stammwerk mit der Zustimmung zu verlängerten Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich erst die Voraussetzungen geschaffen, um die Produktion des Modells Golf aus Brüssel abzuziehen.

Zur Demonstration hatten die Gewerkschaften nur sehr wenige VW-Kollegen aus anderen Standorten mobilisiert. Die "Solidaritätsdelegationen" bestanden hauptsächlich aus Gewerkschaftsfunktionären, die in letzter Minute nach Brüssel abkommandiert worden waren und zum großen Teil im eigenen PKW anreisten. Aus dem größten Volkswagenwerk in Wolfsburg mit einer Belegschaft von 50.000 Arbeitern war gerade mal ein Bus gekommen.

Es hatte schon wirklich Show-Charakter, als fünf IG-Metaller als Beispiel für die "internationale Solidarität" aufs Podium gehievt wurden. Die große Masse der Volkswagenarbeiter in ganz Europa wurde bisher von den Metallgewerkschaften in keiner Weise zur Verteidigung der Arbeitsplätze in Brüssel mobilisiert.

Eine Funktionärin der belgischen sozialistischen Gewerkschaft FGTB rief unter Beifall: "Kollegen, wir müssen jetzt unsere Wut und Revolte in Energie und Entschlossenheit verwandeln. Der Kampf fängt jetzt erst an. Es ist ein Kampf um die Arbeit." Diese Worte sind pure Heuchelei angesichts der Tatsache, dass die Gewerkschaften die Verlagerung der Golf-Produktion aus Brüssel schon akzeptiert haben.

Für VW-Brüssel wird zur Zeit über ein Modell verhandelt, bei dem ab dem Jahr 2009 der Audi A1 und möglicherweise ab dem nächsten Jahr (2007) der A3 in Brüssel gebaut werden soll - ein Vorschlag, der Arbeitsplätze in Spanien und Portugal vernichten würde. An dem Abwandern der Golfproduktion in die deutschen Werke Mosel und Wolfsburg wird nicht mehr gerüttelt. Für rund tausend Arbeiter wird ein Altersteilzeitmodell diskutiert, weitere tausend werden entlassen.

"Wir müssen so viele Arbeitsplätze wie möglich retten", formulierte die FGTB-Sprecherin auf der Kundgebung. Das war eine klare Aussage, dass die Gewerkschaften darauf verzichten, prinzipiell jeden Arbeitsplatz zu verteidigen. (Von der Schaffung neuer Arbeitsplätze für die Jugend sprechen sie schon lange nicht mehr.)

Ein Team verteilte einen Aufruf der World Socialist Web Site. Er ruft dazu auf, Verteidigungskomitees unabhängig von Betriebsrat und Gewerkschaft aufzubauen, und vertritt den Standpunkt, dass eine prinzipielle Verteidigung aller Arbeitsplätze an allen Standorten nur in Verbindung mit einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive möglich ist.

Viele Arbeiter, die den Aufruf lasen, reagierten aufgeschlossen und interessiert. Viele sagten, internationale Verteidigungskomitees unabhängig von den bürokratischen Apparaten seien eine gute Idee, hatten jedoch viele Fragen, wie dies in die Tat umgesetzt werden könne. Mehrere äußerten die Ansicht, dass die Gewerkschaften mit der Globalisierung nicht Schritt gehalten hätten. Hier im Folgenden einige Stimmen von Arbeitern:

J. M. Waroquier: "Ich bin selbst VW-Arbeiter aus dem Werk in Forest, ich arbeite im Blechwalzwerk: Dort sind wir zu 99 Prozent sicher, unsere Arbeit zu verlieren. Vor knapp zwei Wochen haben wir zum erstenmal erfahren, was für eine soziale Katastrophe da auf uns zukommt. Wir hoffen, dass die Gewerkschaften ihre Sache gut machen. Für uns ist es schwer, objektiv zu beurteilen, was sie eigentlich machen, denn es wird ja immer alles geheim gehalten."

Auf die Frage nach einem internationalen Arbeitskampf sagte Waroquier: "Ich denke das wäre genial, aber leider ist es ein wenig utopisch. Wir sehen ja schon, wie schwierig es in Belgien ist, die Wallonen und Flamen zusammen zu bringen. Ob es weltweit gelingt, da habe ich meine Zweifel. Wenn es gelingen würde, wäre es großartig, denn die Arbeiter haben überall die gleichen Probleme."

Lucien ist Lehrer im staatlichen Schulwesen: "Ich denke, die Aktion muss weitergehen, es muss sich ausbreiten. Nur kann man dabei nicht auf die Gewerkschaftsführungen zählen. Das Mindeste ist, dass sich das ganze Land bewegt, aber besser wäre eine europäische Solidarität und darüber hinaus." Zum Irakkrieg, meinte er: "Das ganze kapitalistische System muss in Frage gestellt werden. Dafür fehlt im Moment die berühmte Vorhut, die Arbeiterpartei."

Najar arbeitet seit 20 Jahren bei Philips-Belgien und ist mit einer ganzen Betriebsdelegation angereist : "Ich arbeite in der gleichen Sparte wie die VW Arbeiter. Wir sind aus Solidarität mit den VW-Arbeitern hergekommen, die ihre Arbeit verlieren werden. Ich kenne viele Leute, die bei VW arbeiten. Außerdem befürworten wir ein soziales Europa, in dem das Individuum im Mittelpunkt des Interesses steht. Es reicht jetzt wirklich mit den Standortverlagerungen, die Leute bleiben auf der Strecke, und ganze Familien fliegen auf die Strasse. Das geschieht alles nur für den Profit. Wir sind mit der Regierung unzufrieden, die das alles geschehen lässt. Sie bietet gegen Konzerne und Unternehmer etc. keinen Schutz."

Ulric: "Ich arbeite überhaupt nicht in der Automobilindustrie, im Gegenteil. Ich arbeite für eine ökologische Alternative, das Fahrrad. Das hindert mich aber nicht, hier zu sein und meine Unterstützung zum Ausdruck zu bringen: für ein soziales Europa und für Investitionen, damit Arbeitsplätze hier, für uns, aber auch auf internationaler Ebene garantiert werden. Was heute hier stattfindet, geht darauf zurück, dass man vielleicht früher nicht genug auf die Auswirkungen der Globalisierung auf die Wirtschaft geachtet hat, und was sie konkret für uns heute bedeutet, aber auch für jeden anderen, in Indien, in China oder in Afrika."

Zur Frage der Gewerkschaften meinte er: "Ich denke, die Gewerkschaften sind nicht vorausschauend genug. Daher benötigen wir eine Reorganisation. Die Rolle der Gewerkschaften ist, historisch betrachtet, ganz wesentlich. Ich weiß, dass ich heute auch Nutzen davon ziehe, dass Leute vorher gekämpft haben. Aber die Gewerkschaften haben viel zu lange nicht global gedacht. Ein Beispiel ist die Umweltfrage, die doch für die Zukunft wichtig ist. Es betrifft uns und die gesamte Welt."

Adil P. ist Sudanese und lebt seit zehn Jahren als Sans-Papiers in Belgien : "Ich bin mit meinen Kameraden gekommen, um die VW-Arbeiter zu unterstützen. Da ich keine Papiere habe - und das schon seit zehn Jahren - leide ich genau so wie sie. Deswegen bin ich hier. Ich will sie unterstützen, damit wir alle eine Arbeit haben und ein ordentliches Leben führen können. Wir möchten, dass die Regierung ihre Politik ändert, damit wir alle einen Job und gute Bedingungen zum Leben haben. Ganz Europa muss dafür kämpfen, es ist wirklich ein großes Problem. Ohne Arbeit zu leben, ist genauso schwer, wie ohne Papiere zu leben; es ist das Gleiche."

Kristof van Baarle machte eine Umfrage für die Universität von Antwerpen: "Natürlich bin ich aus Solidarität mit den Leuten, die entlassen werden, hier. Ich finde es gut, was bei der Demo stattfindet, und es wurde auch in meinen Umfragen hier bei der Demonstration bestätigt, dass viele Leute, die nicht bei VW beschäftigt sind, mit den VW-Arbeitern solidarisch sind, und das ist wichtig."

Joseph Dammicco, arbeitet bei der Kraft Food Belgium Gruppe, deren Kaffee-Sparte zur Zeit aus Lüttich nach Frankreich und Berlin verlagert wird:

"Unser Standort wird auch geschlossen, er wird nach Lavérune und nach Berlin verlagert. Wir sind in der gleichen Lage wie die VW-Arbeiter in Forest. Es handelt sich um eine Standortverlagerung, obwohl der Betrieb bedeutende Profite macht. Die Gewerkschaften werden von der Globalisierung überholt, denn die transnationalen Konzerne geben den Ton an. Es geht einzig und allein um die Profite, und das ist bedauerlich. Daher ist eine maximale Mobilisierung an der Basis erforderlich. Man muss versuchen, die Gewerkschaften anzuspornen, damit sie die Bosse zwingen, Stellung zu nehmen und ihren Verpflichtungen nachzukommen. Diese Situation dauert schon an, seitdem es das Europa der Bosse und der Konzerne gibt. Wenn wir nicht für ein soziales Europa kämpfen, dann steuern wir auf eine Katastrophe zu. Es ist notwendig, dass die Arbeiter sich organisieren, und dass es einen gemeinsamen Aktionsplan gibt, der für alle in Europa der gleiche ist, das ist die einzige Lösung."
Siehe auch:
Unterstützt den Kampf der VW-Arbeiter in Brüssel! Baut Verteidigungskomitees unabhängig von Betriebsrat und Gewerkschaft auf
(25. November 2006)
Streik und Besetzung bei VW in Belgien
( 23. November 2006)
Belgisches VW-Werk rund um die Uhr besetzt
( 25. November 2006 2. Dezember 2006)
Wolfsburger VW-Arbeiter solidarisch mit Brüsseler Kollegen
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