Türkei: AKP-Regierung gibt dem Militär freie Hand im Nordirak

Die türkische Regierung hat der Armee am Dienstag freie Hand für grenzüberschreitende Militäraktionen im Irak gegeben. Ein Krisenstab unter Vorsitz von Staatspräsident Abdullah Gül erteilte den Militärs die Erlaubnis, Operationen gegen die kurdisch separatistische PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) im benachbarten Nordirak durchzuführen.

Das Büro von Ministerpräsident Erdogan erklärte dazu, die Regierung habe den Befehl erteilt, "alle legalen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen, einschließlich grenzüberschreitender Operationen zu ergreifen, um die Existenz der Terrorgruppe in Nachbarländern zu beenden". Am kommenden Montag will sich die Regierung außerdem vom Parlament zur Kriegsführung ermächtigen lassen.

Nur wenige Wochen nach ihrem Erfolg bei den Parlamentswahlen und der Übernahme des Präsidentenamtes durch Abdullah Gül hat die gemäßigt islamistische AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) damit vor dem Druck der Generäle kapituliert, die seit langem einen Freibrief für Militäraktionen im Nordirak fordern. Generalstabschef Yasar Büyükanit, der am Treffen des Krisenstabs teilnahm, hat seit Mai entsprechende Vollmachten verlangt.

Mit dem Freibrief, den die AKP-Regierung den Generälen ausgestellt hat, hat sie auch deren die Stellung in der Innenpolitik gestärkt. Die Militärs hatten in den vergangenen Monaten starke Rückschläge hinnehmen müssen.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und sein damaliger Außenminister Abdullah Gül hatten sich dem Drängen von Generalstabschef Yasar Büyükanit nach grenzüberschreitenden Militärschlägen anfangs widersetzt. Als dann die Militärs mit Putschdrohungen zu verhindern suchten, dass Abdullah Gül zum Staatspräsidenten gewählt wurde, setzte die AKP Neuwahlen an und errang einen beeindruckenden Erfolg. Viele Wähler stimmten für die AKP, weil sie diese als demokratisches Gegengewicht zu den Machtansprüchen der Generäle betrachteten. Das hat sich nun als Illusion erwiesen.

Indem sie den Militärs freie Hand für militärische Aktionen im Irak gibt, macht sich die AKP praktisch zu deren Geisel. "Dies ist ein höchst gefährlicher Freibrief, der Premier Tayyip Erdogan in schwere Bedrängnis bringen könnte", kommentiert die Süddeutsche Zeitung.

Bisher ist nicht klar, ob, wann und wie massiv die türkische Armee im Nordirak eingreifen wird. Größere Aktionen hätten aber weitreichende Folgen für den gesamten Mittleren Osten, für den Irak sowie für die Türkei selbst. Die Entscheidung der türkischen Regierung bedeutet weiteres Leid für die Flüchtlinge und Einwohner im Nordirak sowie für die kurdische Bevölkerung im Osten der Türkei. Sie stärkt die Stellung des Militärs in der türkischen Politik und wird das Land direkt in die blutigen Auseinandersetzungen im Irak verwickeln.

Das Nato-Mitglied Türkei verfügt zwar über die größte Armee in der Region, hat aber bisher eine eher zurückhaltende Außenpolitik betrieben. Eine aktivere militärische Rolle der Türkei wird den Kampf mit anderen Regionalmächten um die Vormachtstellung im Mittleren Osten verschärfen, der durch den Irakkrieg völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Die türkischen Generäle wollen nicht nur die PKK zerschlagen, die in den irakischen Bergen angeblich bis zu 3.000 Kämpfer unterhält. Sie wollen auch verhindern, dass im Nordirak ein unabhängiger Kurdenstaat entsteht, was aufgrund des Debakels der amerikanischen Besatzung immer wahrscheinlicher wird. Sie fürchten, dass ein solcher Staat separatistische Tendenzen unter den Kurden in der Türkei stärken und die Integrität des türkischen Staates gefährden könnte.

Beobachter halten daher im Falle eines türkischen Einmarsches auch eine direkte Konfrontation mit Einheiten der nordirakischen Regionalregierung unter Massud Barsani für möglich. Barsani und andere Vertreter der nordirakischen Kurden hatten schon vor Monaten gedroht, sie würden sich mit ihren Truppen jedem türkischen Einmarsch widersetzen.

Die US-Regierung hat sich lange bemüht, die türkische Armee von einer Intervention im Irak abzuhalten. Die irakischen Kurdenführer gehören zu den zuverlässigsten Stützen der amerikanischen Besatzungsmacht, und der kurdische Nordirak galt bisher als relativ stabil. Ein türkischer Einmarsch könnte dem eine Ende setzen und im Irak eine neue Front eröffnen.

In jüngster Zeit haben sich die Beziehungen zwischen Ankara und Washington deutlich abgekühlt. Trotz entsprechenden Zusagen sind bisher weder die USA noch die kurdische Regionalregierung gegen die PKK vorgegangen. Die irakischen Kurdenführer können sich ein gewaltsames Vorgehen gegen die PKK aus innenpolitischen Gründen nicht leisten. Die USA unterstützen außerdem die Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK), eine iranische Kurdenorganisation, der enge Verbindungen zur PKK nachgesagt werden, um das Regime in Teheran zu destabilisieren.

Anlass für den Kurswechsel der türkischen Regierung waren schließlich die schwersten Anschläge der PKK seit zwölf Jahren. Allein am vergangenen Wochenende starben 15 türkische Soldaten bei PKK-Angriffen. Bereits eine Woche zuvor waren zwölf Dorfbewohner, darunter mehrere sogenannte "Dorfschützer", in einem Kleinbus erschossen worden. Dafür hatte die PKK allerdings die Verantwortung abgelehnt.

Die rechten türkischen Medien und Parteien haben auf die Anschläge mit einem chauvinistischen Trommelfeuer reagiert. Tageszeitungen erschienen mit Trauerflor auf der Titelseite. Das Massenblatt Hürriyet warb für den Einmarsch in den Irak. Tausende beteiligten sich an den Trauerfeiern für die getöteten Soldaten. In Ankara und Trabzon organisierten Professoren und Studenten Schweigemärsche. Auch in Istanbul gab es Demonstrationen.

Antiamerikanische Töne waren dabei unüberhörbar. Deniz Baykal, der Führer der kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei), warf den USA vor, sie nutzten die PKK zur Spaltung der Türkei. Der Führer der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) Devlet Bahceli verlangte, das Volk über einen Angriff auf den Nordirak abstimmen zu lassen.

Die Verabschiedung einer Resolution, die das türkische Massaker an den Armeniern vor 92 Jahren als "Völkermord" bezeichnet, durch den Auswärtigen Ausschuss des US-Repräsentantenhauses am vergangenen Mittwoch goss zusätzliches Öl ins nationalistische Feuer. Die umstrittene Resolution soll demnächst dem gesamten Kongress zur Abstimmung vorgelegt werden.

Für die türkischen Nationalisten ist das Massaker an den Armeniern ein Tabu. Wer das Wort "Völkermord" verwendet, muss mit gerichtlicher Verfolgung, mit Gefängnisstrafen und sogar mit Mordanschlägen rechnen. Um die USA an der Annahme der Resolution zu hindern, waren in Ankara sogar Drohungen laut geworden, den Militärstützpunkt von Incirlik zu sperren, über den ein großer Teil des amerikanischen Nachschubs für den Irak läuft. US-Präsident George W. Bush, Außenministerin Condoleezza Rice und Verteidigungsminister Robert Gates versuchten die Annahme der Armenien-Resolution zu verhindern, um die Spannungen mit Ankara nicht weiter anzuheizen.

In Washington wird zwar ein größeres außenpolitische Rolle der Türkei durchaus als Chance für die Durchsetzung der eigenen Interessen in der Region betrachtet.

Ein Artikel in der Juli-August-Ausgabe von Foreign Affairs, der Publikation des einflussreichen Council on Foreign Relations, stellt fest: "Nach Jahrzehnten der Passivität tritt die Türkei nun als wichtiger diplomatischer Akteur im Mittleren Osten in Erscheinung". Wenn dies "richtig gehandhabt" werde, "könnte es durchaus eine Chance für Washington und seine westlichen Verbündeten sein, die Türkei als Brücke zum Mittleren Osten zu nutzen".

Voraussetzung dafür sei allerdings, so der Artikel weiter, dass die Sorgen der Türkei, vor allem bezüglich der PKK, ernst genommen würden.

Doch hier steht die amerikanische Außenpolitik vor einem schwer lösbaren Dilemma. Sie muss sich zwischen den türkischen Militärs und den kurdischen Nationalisten entscheiden, auf deren Unterstützung sie im Irak angewiesen ist. Gibt sie den türkischen Militärs freie Hand gegen die PKK, droht dies den Nordirak zu destabilisieren. Die türkischen Militärs ihrerseits sind nicht bereit, irgendwelche Zugeständnisse an die kurdischen Nationalisten im Irak zu machen.

Ungeachtet der Konflikte zwischen Regierung und Militär entwickelt Ankara zunehmend eigene Interessen, die nicht deckungsgleich mit denen Washingtons sind. Die türkische Regierung stimmt zwar mit Washington in der Ablehnung des iranischen Atomprogramms überein, sucht aber in der Kurdenfrage die Zusammenarbeit mit Teheran und auch mit Syrien, die beide ebenfalls separatistische Bewegungen ihrer jeweiligen kurdischen Minderheiten fürchten.

Es bemüht sich außerdem um enge wirtschaftliche Beziehungen zum Iran. So will die türkische Regierung gegen den Willen der USA die geplante Nabucco-Pipeline, ein Großprojekt, das die Türkei über den Balkan mit Westeuropa verbinden soll, an den Iran anschließen, damit diese mit iranischem Erdgas gespeist werden kann.

Siehe auch:
Türkei: Abdullah Gül übernimmt das Präsidentenamt
(1. September 2007)
Bush condemns House vote on Armenian genocide
( 12. Oktober 2007)
Washington’s proxy war inside Kurdish Iran
( 20. September 2007)
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