Französischer Eisenbahnerstreik verraten

Den französischen Gewerkschaften ist es gelungen, den Eisenbahnerstreik für die Verteidigung der Sonderrentenregelungen zu isolieren und zu verraten. Mangels einer tragfähigen Perspektive für einen konsequenten Kampf gegen die Regierung von Präsident Sarkozy wurde nach zehn Streiktagen auf Generalversammlungen in ganz Frankreich beschlossen, die Arbeit wieder aufzunehmen. In einigen Bereichen gab es heftigen Widerstand gegen diese Beschlüsse, und zehn Prozent der Eisenbahner, also ungefähr 14.000 Arbeiter setzten den Streik fort.

Von Anfang an nutzten die Gewerkschaften den massiven eintägigen Streik von mehr als einer Million Arbeitern und die Demonstrationen von Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes am Dienstag voriger Woche, bei denen ungefähr 700.000 gemeinsam mit den Eisenbahnern auf der Straße gingen, als Ventil, um einem ernsthaften und einheitlichen politischen Angriff auf Sarkozys Politik des Sozialabbaus auszuweichen.

In den folgenden Tagen unterhöhlten die Gewerkschaften den Streik und isolierten die militantesten Arbeiter, indem sie Gesprächen mit der Regierung und dem Management für Mittwoch ohne vorherige Rücknahme der geplanten Angriffe auf die Rentenrechte zustimmten. An dieser Entscheidung waren auch die CGT (die von der Kommunistischen Partei kontrolliert wird) und SUD-Rail (Abteilung Bahn der Gewerkschaft Solidarität, Einheit, Demokratie)beteiligt

Die Gewerkschaft SUD, in der viele radikale Gruppen aktiv sind, unter anderem auch die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), hatte anfangs eine Teilnahme an Verhandlungen ohne vorherige Rücknahme der Reformpläne der Regierung abgelehnt. Besonders die drei wesentlichen Bestandteile der Reform wurden dabei angesprochen: die Verlängerung der für die Vollrente erforderliche Beitragszeit von 37,5 auf 40 Jahre, deutliche Rentenkürzung im Fall der Frühverrentung (décote) und die Koppelung des Rentenindex’ an die Preis-, statt an die Lohnentwicklung.

SUD-Rail erklärte ihr Einverständnis, an den Gesprächen am runden Tisch mit der Regierung, der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF und der Geschäftsleitung der Pariser Verkehrsbetriebe RATP teilzunehmen. Trotz Sarkozys Feststellung, in den zentralen Fragen nicht verhandlungswillig zu sein, setzte sich die Gewerkschaftsbürokratie bei den Generalversammlungen der Arbeiter in ganz Frankreich für eine Teilnahme an diesen Verhandlungen ein.

Als der Streik Wirkung zeigte und begann, Sarkozys Hintermännern in der Wirtschaft Kopfzerbrechen zu bereiten, wurden die Attacken schärfer. Laurence Parisot, Präsident der wichtigsten Arbeitgebervereinigung MEDEF erklärte in Radio RTL: "Eine wirkliche Katastrophe für unsere Wirtschaft...Für mich ist es ein Erdbeben", sagte er. "Die Streikkosten sind nicht kalkulierbar...Wer kann sagen, wie viele Investoren ihr in Frankreich geplantes Projekt aufgegeben haben?"

Nach Angaben der Regierung kostete der Streik die Wirtschaft täglich 400 Millionen Euro. Der Economist kommentierte: "Die Dauer und Intensität des Streiks hat selbst langjährige Beobachter aus der Fassung gebracht."

Sakozy hatte die Befürchtung, dass die Gewerkschaften die Eisenbahnarbeiter nicht unter Kontrolle halten könnten. Ein Artikel der konservativen Tageszeitung Figaro vom 22. November trug die Überschrift: "Das Staatsoberhaupt wünscht keine Unterstützung durch die Gewerkschaften solange der Streik noch nicht vorbei ist."

Ein nicht namentlich genannter Berater des Präsidenten wird zitiert: "Wir rechneten damit, dass der Streik gestern beendet werden würde, und beobachteten die Lage, in der Hoffnung bald ‘weißen Rauch’ aufsteigen zu sehen."

Der Artikel weiter: "Das Staatsoberhaupt möchte seinen Ton gegenüber den Gewerkschaften nicht verschärfen, da sie Probleme mit ihrer Basis haben. Er weiß, dass er sie braucht, um seine Reformen fortzusetzen: Das Arbeitsrecht, die Zusammenfassung der Arbeitsämter mit den für die Auszahlung des Arbeitslosengeldes zuständigen Behörden, die Renten in der Privatwirtschaft und die Berufsausbildung. ‚Die Sonderrentenregelungen sind nur der Aperitif für die anderen Reformen. Wir werden verantwortungsbewusste Gewerkschaften benötigen’ argumentiert David Martignon, ein Sprecher des Präsidenten im Elysée-Palast."

Sarkozy ist über den Abwärtstrend seiner Popularitätswerte beunruhigt. Diese Entwicklung ist durch den Anstieg der Lebenshaltungskosten bedingt, die als Hohn auf seine wichtigste Wahlkampfparole "Mehr arbeiten und mehr verdienen" gesehen wird. Der Figaro führt an, dass im Elysée schon erwartet wird, dass die französische Bevölkerung den Gürtel enger schnallt: "’Wir haben das Budget schon beschlossen und können nicht zaubern’ stellt das Elysée fest". Ein Minister gestand dem Figaro : "Was wir auch vorschlagen, es ist ungenügend. Er ist auf der Suche nach dem Stein des Weisen, findet ihn aber nicht."

Sarkozy war immer der Ansicht, dass die Umgestaltung der französischen Gesellschaft in ein Paradies für reiche Eliten und Investoren nur mit Unterstützung der Gewerkschaften machbar ist.

Die Gewerkschaft SUD bezeichnete sich und all die radikalen Gruppen unter ihrem Dach immer als oppositionelle Tendenz. Doch nun kollaborierte sie eng mit den anderen Gewerkschaften bei der Vorbereitung des Ausverkaufs. Die Financial Times berichtete am 22. November: "Selbst örtliche Komitees der hart gesottenen Gewerkschaft SUD votierten am Donnerstag für die Beendigung ihrer Aktionen. Mitglieder riefen seit den Gesprächen am Mittwoch zum Abbruch des Streiks auf. ‚Wir müssen der Realität ins Auge sehen’ sagte Philippe Touzet, ein Vertreter der Gewerkschaft SUD beim Pariser Nahverkehr RATP in einem Interview. ‚Seit den Verhandlungen gestern haben sich die Verhältnisse geändert. Streik ist keine Lösung mehr. Wir können mit einer Streikstrategie nicht mehr gewinnen.’"

Am Donnerstag veröffentlichte die für die RATP zuständige Abteilung der SUD eine Stellungnahme, in der es hieß, dass sie den Streik "nicht aus Überzeugung, sondern aus Respekt vor den Mitgliedern, die diese Aktion weiter verfolgen" fortsetze.

Eine Presseerklärung der SUD-Rail vom 22. November bekräftigte die Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit mit den Verrätern am Verkehrsstreik. Darin hieß es: "Wir werden eine neue einheitlichere Mobilisierung abwarten. Das ist die einzige Möglichkeit, die Reform der Sonderregelungen abzuwehren - um dann die Arbeiter von Neuem zu Aktionen aufzurufen."

Didier Le Reste von der CGT gab keine Empfehlung für eine Fortsetzung des Streiks und überließ es untergeordneten Rängen der Bürokratie, politischen Aktivisten der Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Partei und ausgesuchten linken Radikalen in den Generalversammlungen formell auf einen Beschluss zur Beendigung des Streiks hin zu wirken. Die nächsten Verhandlungen mit der SNCF beginnen am 29. November und enden am 18. Dezember, mit der RATP laufen sie vom 26. November bis zum 13. Dezember. Der Vorsitzende der CGT, Bernard Thibault, sagte, dass seine Organisation nicht wünsche, nach den Verhandlungen die Ferienzeit zu stören.

Die kommunistische Tageszeitung L’Humanité stellte die Wirklichkeit auf den Kopf, als sie auf ihrer Titelseite behauptete: "Im Verkehrsbereich haben die Verhandlungen begonnen. Sie wurden in langen, harten Streiktagen errungen, und stellen einen ersten Fortschritt für die SNCF und die SNCF-Beschäftigten dar."

Olivier Besancenot von der LCR hat den Verrat des Streiks durch die Gewerkschaften gebilligt und gedeckt. In einer Ansprache sagte er am Donnerstag zur Wiederaufnahme der Arbeit: "Es ist keine Niederlage, weder moralisch, noch in der Sache selbst, auch wenn die ursprüngliche Forderung der Eisenbahner nicht durchgesetzt wurde." Er erklärte sich "solidarisch mit den Beschlüssen der Generalversammlungen der Eisenbahnarbeiter."

Im Gegensatz dazu bekommt man in der Zeitung Liberation vom 23. November einen Eindruck davon, wie verraten sich die Eisenbahner fühlen: Ein Mitglied von SUD, das sich in Marseille am Streik beteiligt hatte, sagte: "Irre...Dafür acht Tage Streik. Ein Hauch von einem Angebot. Einfach lächerlich."

Am Bahnhof "Gare de Lyon", einer Hochburg der CGT, stimmten zwei von drei Versammlungen für die Fortsetzung des Streiks, "sehr zum Verdruss der CGT-Vertreter", berichtete Liberation.

Schon vor dem Ausverkauf bei der SNCF waren Arbeiter, die Einfluss auf das Treffen zwischen RATP-Gewerkschaften, Betriebsleitung und Regierung am Mittwoch nehmen wollten, voller Wut. Liberation berichtete: "Pfiffe. Dann Buh-Rufe. In der Eingangshalle des Verwaltungsgebäudes der RATP... konnte der CGT-Vertreter, der aus den dreiseitigen Verhandlungen kommend, die Treppen hinab kam, seinen Bericht kaum zu Ende führen. ‚Verräter’, ‚Ausverkauf’ rief die Mehrheit der Menge, obwohl hauptsächlich CGT-Mitglieder. Eine spannungsgeladene Atmosphäre. Es bildeten sich kleine, heiß diskutierende Gruppen. Der abseits sitzende Jean-Pierre sagt ‚ es ist zum Kotzen’."

Siehe auch:
Streik bei Verkehrsbetrieben bringt Frankreich zum Stillstand
(20. Oktober 2007)
Französische Arbeiter brauchen eine neue politische Strategie
(20. November 2007)
Frankreich: Widerstand der Basis vereitelt Streikabbruch bei der Eisenbahn
(17. November 2007)
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