Soziale Kämpfe in Frankreich

Wo steht die LCR?

Der folgende Text wurde am Donnerstag als Flugblatt vor einer Versammlung der LCR in der Pariser Mutualité verteilt.

Zehn Tage nach Beginn des Streiks bei der französischen Eisenbahn besteht die akute Gefahr eines Ausverkaufs. Alle acht Gewerkschaften sitzen seit Mittwoch in der Konzernzentrale der SNCF und verhandeln mit Regierungsvertretern und dem Management.

Verhandelt wird nicht über die Rücknahme der Reform der "régimes spéciaux" - der Erhöhung der Lebensarbeitszeit von 37,5 auf 40 Jahre und der damit verbundenen Verminderung der Renten - sondern über den Preis des Ausverkaufs. Die SNCF hat den Gewerkschaften einige Krümel im Wert von 80 Millionen Euro angeboten, damit sie die Reform schlucken, die der Bahn Einsparungen in Milliardenhöhe bringt. Ähnliche Verhandlungen laufen zur Zeit bei der Pariser Metro und bei den Gas- und Elektrizitätswerken.

Sollten die Verhandlungen Erfolg haben und die Gewerkschaften die Reform akzeptieren, würde Präsident Sarkozy dies als Sieg feiern. Er hätte damit grünes Licht für weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse. Pläne für die Erhöhung der Lebensarbeitszeit von 40 auf 42 Jahre für alle anderen Berufskategorien liegen bereits fertig in der Schublade.

Sarkozys Strategie, die militantesten Teile der Arbeiterklasse zu isolieren, ihnen eine entscheidende Niederlage zuzufügen und dann rücksichtslose Angriffe auf den Rest der Bevölkerung durchzuführen, wäre aufgegangen, dank der Feigheit und Nachgiebigkeit der Gewerkschaften, die eine politische Konfrontation mit seiner Regierung um jeden Preis vermeiden wollen.

Inzwischen haben einige Gewerkschaften, wie die CFDT, zum Abbruch des Streiks aufgerufen, während andere sich jeder Stellungsnahme enthalten. Didier Le Reste, Generalsekretär der CGT-Eisenbahner, ruft nicht zur Fortsetzung des Streiks auf, überlässt aber die Entscheidung über den Abbruch den Generalversammlungen der Streikenden. Die Gefahren sind abzusehen: Bröckelt der Streik weiter ab, wird der Druck auf die Streikenden wachsen, die militantesten Arbeiter können isoliert und zur Zielscheibe von Angriffen und Provokationen werden. Die jüngsten Sabotageakte an Bahnanlagen sind in dieser Hinsicht ein Warnsignal.

Es ist notwendig, gegen diesen Verrat anzukämpfen. Es darf nicht zugelassen werden, dass die Gewerkschaften den Streik ausverkaufen und Sarkozy zum Sieg verhelfen.

Die massive Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen vom 20. November und die Protestwelle an den Universitäten und Gymnasien zeigen, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung Sarkozys Politik im Interesse der Reichen ablehnt. Doch um sie zu mobilisieren, muss der Verrat der Gewerkschaften als solcher gebrandmarkt und die Initiative aus den Händen der gewerkschaftlichen Apparate genommen werden.

Es ist notwendig, Aktionskomitees aufzubauen, die völlig unabhängig von den Gewerkschaften handeln. Sie müssen die Fortsetzung des Streiks in die Hand nehmen, die notwendige Unterstützung in allen Schichten der Arbeiterklasse mobilisieren, die Bewegung auf nationaler Ebene koordinieren und international vernetzen. Nur die umfassende Mobilisierung der gesamten Arbeiterklasse kann die Isolation der Streikenden verhindern und zukünftige Angriffe auf Renten, Arbeitsplätze und Ausbildung verhindern. Eine solche Mobilisierung erfordert ein politisches Ziel: Den Sturz der gaullistischen Regierung und ihre Ablösung durch eine wahrhaft demokratische Arbeiterregierung.

Der Ligue Communiste Révolutionnaire fällt unter diesen Bedingungen eine große Verantwortung zu. Sie hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, weil sie mit der revolutionären Perspektive des Trotzkismus identifiziert wird und sich von der rechten Politik der offiziellen "Linken" abhebt. In der ersten Runde der Präsidentenwahl stimmten 1,5 Millionen für Olivier Besancenot. Seither ist der Sprecher der LCR in Meinungsumfragen auf Augenhöhe mit der sozialistischen Kandidatin Ségolène Royal gerückt. 40 Prozent der Befragten waren jüngst der Ansicht, er solle eine wichtigere Rolle im politischen Leben Frankreichs spielen. Die Zeitung Libération zitiert einen UMP-Abgeordneten mit den Worten: "Zwischen Sarko und Besancenot gibt es niemanden mehr".

Doch bisher gibt es nicht das geringste Anzeichen, dass die LCR gegen den vor sich gehenden Verrat mobilisiert. In ihren Verlautbarungen sucht man vergebens nach Kritik an den Gewerkschaften oder nach Initiativen, die den lähmenden Einfluss dieser Organisationen überwinden könnten. Vor Ort gebärden sich die Mitglieder der LCR als loyale Gewerkschafter und verbreiten die Illusion, die Basis bestimme den Kurs der bürokratischen Apparate.

Olivier Besancenot selbst wird nicht müde, die Sozialistische und die Kommunistische Partei zu gemeinsamen Versammlungen zur Unterstützung der Streikenden aufzurufen, obwohl er weiß, dass die Sozialistische Partei in der Frage der "Reformen" nicht nur bei den "régimes spéciaux" auf der Seite der Regierung steht.

Der Ausgang des französischen Eisenbahnerstreiks ist für ganz Europa von Bedeutung. Hinter Sarkozy stehen die Brüsseler EU-Kommission und sämtliche europäischen Regierungen. Sie drängen drauf, dass Sarkozy ein Exempel statuiert und der Widerborstigkeit der französischen Arbeiter ein Ende setzt. "Es steht mehr als die Zukunft Frankreichs auf dem Spiel," schreibt der britische Economist. "Es wäre übertrieben zu sagen, es handle sich um Frankreichs letzte Chance zur Veränderung. Aber da der Appetit auf Wirtschaftsreformen in ganz Europa schwindet, ist es wahrscheinlich für lange Zeit die letzte."

In Deutschland stehen die Lokführer seit einem halben Jahr in einem erbitterten Kampf für bessere Löhne. Dabei kämpfen sie nicht nur gegen die Deutsche Bahn, die Bundesregierung und die EU-Kommission, sondern auch gegen den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Bahn-Gewerkschaft Transnet, die offen als Streikbrecher fungieren. Und selbst in Osteuropa und Russland erholt sich die Arbeiterklasse vom Schock der kapitalistischen Restauration und beginnt, sich gegen deren Auswirkungen zur Wehr zu setzen. Streiks und Protestaktionen häufen sich.

Es ist notwendig, diese Kämpfe unter einer gemeinsamen, sozialistischen Perspektive zu vereinen. Dafür kämpft die Partei für Soziale Gleichheit, die deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Die LCR will im Januar eine neue anti-kapitalistische Partei gründen. Aber was wird die Rolle dieser Partei sein, wenn sie auf den Trümmern des größten Verrats der jüngeren französischen Geschichte entsteht und die LCR diesen Verrat passiv hingenommen hat?

Und warum lässt die neue Partei jeden Hinweis auf den Trotzkismus fallen, während sich die Arbeiterklasse nach links und in Richtung einer revolutionären Konfrontation bewegt?

Das ist keine Etikettenfrage. Der Trotzkismus verkörpert die historischen Erfahrungen der gesamten internationalen Arbeiterbewegung, deren Verständnis für den Erfolg zukünftiger Kämpfe entscheidend ist.

Gerade Trotzkis Schriften zu Frankreich, insbesondere sein Kampf gegen die Volksfront der 1930er Jahre, sind heute wieder von brennender Aktualität. Man kann dort nachlesen, was Trotzki zu Besancenots Offerten an die Sozialistische Partei gesagt hätte: "Er glaubt, in der Epoche einer großen sozialen Krise könne man das Bündnis mit den in Bewegung gekommenen Massen durch einen Block mit der kompromittierten und dem Untergang geweihten parlamentarischen Clique ersetzen." ("Wohin geht Frankreich?")

Trotzki bezog sich damals auf die Volksfront, das Bündnis der Sozialdemokraten und Kommunisten mit der Radikalen Partei, das eine Generalstreiksbewegung der Arbeiterklasse erstickte und so den Weg für den Zweiten Weltkrieg und das Vichy-Regime ebnete.

Diese Erbe will die LCR über Bord werfen. Sie betrachtet es als unnötigen Ballast, der ihrer zukünftigen Politik im Wege steht. Sie will nicht, dass sich die Mitglieder der neuen Partei mit Trotzkis unversöhnlichem Kampf gegen Volksfront und Zentrismus vertraut machen.

Man kann daraus nur schließen, dass die LCR denselben Weg gehen will wie ihre Gesinnungsgenossen in Brasilien und Italien, die den bürgerlichen Regierungen Inacio Lulas und - über Rifondazione Comunista - Romano Prodis beigetreten sind und ihnen als linkes Feigenblatt dienen.

Die Partei für Soziale Gleichheit hat tiefgehende politische Differenzen mit der LCR, die bis auf das Jahr 1953 zurückgehen. Damals wurde das Internatonale Komitee gegründet, um die Anpassung des Vereinigten Sekretariats, dem die LCR angehört, an die stalinistische Bürokratie und kleinbürgerlich nationalistische Strömungen zu bekämpfen. Dennoch glauben wir nicht, dass sich alle Mitglieder der LCR dieser vorgeblich trotzkistischen Organisation angeschlossen haben, um neue Niederlagen der Arbeiterklasse vorzubereiten.

Es ist höchste Zeit, innezuhalten und den Kurs zu korrigieren. Die LCR muss sich dem Ausverkauf der Gewerkschaften entgegenstellen und die Initiative für den Aufbau von Aktionskomitees ergreifen.

Dabei geht es nicht nur um den gegenwärtigen Streik, sondern auch um die kommenden Auseinandersetzungen. Die Streiks und Proteste, die Frankreich erschüttern, kündigen heftige Klassenkämpfe in ganz Europa an. Wachsende Teile der Arbeiterklasse und der Jugend haben die Hoffnung auf eine friedliche Verbesserung ihrer Lage verloren. Der Mut und die Hartnäckigkeit, mit denen die französischen Bahnarbeiter ihren Streik eine Woche lang gegen massiven öffentlichen Druck aufrecht erhalten haben, zeigen dies.

Die herrschende Klasse ist ihrerseits entschlossen, die sozialen Zugeständnisse der vergangenen Jahrzehnte restlos zu beseitigen. Die Ursache dieser Offensive gegen die Arbeiterklasse liegt in grundlegenden Veränderungen in der Struktur des Weltkapitalismus. Die Globalisierung der Produktion und die Vorherrschaft des internationalen Finanzkapitals über jeden Aspekt des nationalen Wirtschaftslebens hat den Spielraum für soziale Kompromisse beseitigt. Großmachtpolitik und Militarismus vertragen sich nicht mit staatlich finanzierten Sozialprogrammen, der globale Wettbewerb nicht mit hohen Steuer- und Sozialabgaben. Alle Hindernisse, die der ungehemmten Vorherrschaft des Profitprinzips im Wege stehen, müssen aus dem Weg geräumt werden.

Revolutionäre Auseinandersetzungen von europäischem Ausmaß sind in der kommenden Periode absolut unvermeidlich. Darauf gilt es sich vorzubereiten. Der Aufbau einer neuen revolutionären Führung der Arbeiterklasse, die sich auf das historische Erbe des Trotzkismus und ein internationales sozialistisches Programm stützt, ist jetzt zur dringendsten praktischen Aufgabe geworden.

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