Der Tod der fünfjährigen Lea-Sophie

Berliner Parteien auf die Anklagebank

"Wir wollen deutlich machen, ohne Kinder hat Deutschland keine Zukunft." (Koalitionsvereinbarung der aktuellen Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD, 2005)

"Im Interesse der Kinder werden wir die Familienbildung und die Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung zur Bewältigung von Alltagskonflikten sichern." (Koalitionsvereinbarung der vorherigen Bundesregierung aus SPD und Grünen, 1998)

Letzte Woche starb die fünfjährige Lea-Sophie, nachdem sie mit nur noch sieben Kilogramm Gewicht in ein Krankenhaus in Schwerin, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern, eingeliefert worden war.

Der Zustand des kleinen Mädchens lässt die grauenvollen letzten Wochen ihres kurzen Lebens erahnen. Offensichtlich saß die völlig entkräftete Lea-Sophie Tage oder Wochen in der Wohnung ihrer Eltern, in ihren eigenen Fäkalien. Sie hatte dadurch offene Wunden am Körper. Durch die massive Unterernährung seien ihr die Haare büschelweise ausgefallen, berichteten Rechtsmediziner. Außerdem hatte sie so genannte Hungerödeme - Wassereinlagerungen im Körpergewebe, vor allem in der Bauchhöhle. Diese sind für die aufgeblähten Bäuche verantwortlich, die man von Bildern unterernährter Kinder kennt.

Der 26-jährige Vater, der noch den Notarzt gerufen hatte, und die 23-jährige Mutter sitzen in Untersuchungshaft. Der zwei Monate alte Bruder von Lea-Sophie wurde in einer Pflegefamilie untergebracht.

Das Schicksal der kleinen Lea-Sophie ist kein Einzelfall. Meldungen über derartige, teils tödliche Vernachlässigungen häufen sich. Das Bundesfamilienministerium berichtete von einer Zunahme der Anzeigen im Hinblick auf die Verwahrlosung von Kindern.

Wie jedes Mal reagierten die verantwortlichen Politiker im Fall von Lea-Sophie in gleicher Weise. Alle zeigen sich "betroffen", um im gleichen Atemzug den Aufbau von weiteren staatlichen Kontrollen zu fordern. Denn Schuld seien die Eltern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) meldete sich nicht selbst zu Wort, sondern lies ihre "Betroffenheit" durch Vize-Regierungssprecher Thomas Steg mitteilen. Die Kanzlerin sei "sehr tief betroffen und angerührt". Der Tod von Lea-Sophie sei ein weiteres Beispiel dafür, wie aufmerksam die zuständigen Behörden sein müssten.

Das Bundesfamilienministerium rief dazu auf, "potentielle Problemfamilien" möglichst früh zu beobachten und langfristig zu "begleiten", gemeint ist zu kontrollieren. So müsse sich das Jugendamt einschalten, wenn eine Familie der Einladung zu einem Untersuchungstermin nicht nachkomme, sagte die Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU).

Zahlreiche Politiker aus SPD, CDU und CSU forderten ärztliche Pflichtvorsorgeuntersuchungen, auch wenn dies keine Garantie dafür sei, dass künftig schreckliche Fälle wie der in Schwerin verhindert würden. Aber es wäre ja schon einmal ein "Baustein".

Niedersachsens Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) verlangte gar eine vorgeschriebene Sonderuntersuchung auf Misshandlungen beim Kinderarzt.

Schwerins Jugendhilfe-Ausschussvorsitzende Silke Gajek (Grüne) lehnte ausdrücklich jede Verantwortung staatlicher Behörden ab: "Am Ende tragen die Eltern die Verantwortung und damit auch die Schuld."

Niemand stellt die nahe liegende Frage, in welch einer Gesellschaft wir eigentlich leben. Welche gesellschaftlichen Bedingungen sind dafür verantwortlich, dass Eltern ihre Kinder vor den eigenen Augen verhungern lassen?

Armut im Reichtum

Es ist eine Binsenweisheit - und durch zahlreiche Studien bewiesen -, dass Armut krank macht, physisch wie psychisch. Am stärksten sind natürlich die Schwächsten der Gesellschaft betroffen, Kinder, Alte und Kranke. Sozial benachteiligte Kinder ernähren sich ungesünder, da das Geld für gesunde Lebensmittel fehlt. Sie bewegen sich weniger, bleiben immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und ausreichende soziale Unterstützung. Diese Bedingungen programmieren "Armutskarrieren" vor, konstatiert der kürzlich erschienene "Kinderreport Deutschland 2007" des Deutschen Kinderhilfswerks.

Danach steigt die Kinderarmut in Deutschland kontinuierlich an. Seit den Hartz-Reformen und der Einführung des Arbeitslosengeldes II vor knapp drei Jahren habe sich die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Jungen und Mädchen auf mehr als 2,5 Millionen verdoppelt. Mittlerweile gelten 14 Prozent aller Kinder offiziell als arm. In einigen Gebieten der Großstädte, wie in Vierteln des Berliner Stadtteils Wedding, leben 70 Prozent der Kinder in Familien, die auf staatliche Almosen angewiesen sind. Heute ist jedes sechste Kind unter sieben Jahre auf Sozialhilfe angewiesen, 1965 war es nur jedes 75. Kind. Fast 6 Millionen Kinder leben in Haushalten mit einem Jahreseinkommen der Eltern von bis zu 15.300 Euro. Besonders betroffen sind einmal mehr die Kinder aus Einwandererfamilien.

Insbesondere das Hartz-IV-Gesetz, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, hat eine beispiellose Verarmung verursacht. Mitte April verhungerte ein 20-jähriger Hartz-IV-Empfänger, nachdem ihm die Behörde - rechtswidrig, wie sich hinterher herausstellte - die Bezüge gestrichen hatte. Vereinsamung, soziale Ausgrenzung, Demütigungen, Gewalt gegen sich und andere, Depressionen, Apathie, Flucht in Drogen- und Alkoholkonsum sind die zwangsläufigen Begleiter der gesellschaftlichen Bedingungen, die in den letzten zehn Jahren geschaffen wurden. So leben über zwei Millionen Kinder in Deutschland in Familien, in denen mindestens ein Elternteil alkoholabhängig ist.

Der "Kinderreport" prognostiziert verheerende Auswirkungen. Schon 2004 habe jedes dritte Kind bei der Einschulung therapiepflichtige Entwicklungsstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten aufgewiesen. Jedes vierte Schulkind habe die Schule "ohne Beherrschung des Mindestmaßes an Kulturtechnik" verlassen, die selbst Hilfsarbeiten voraussetzen. Da die Tendenz stark steigend war, wird die aktuelle Situation heute noch dramatischer sein.

Gleichzeitig lebt eine kleine Minderheit in Saus und Braus. Die Gewinne der Unternehmen explodieren und die Managergehälter steigen in astronomische Höhen. Margret Suckale beispielsweise, Personalchefin der Deutschen Bahn, die den Lokführern weismachen möchte, dass sie unmöglich 2.500 Euro brutto im Monat verdienen können, erhält im Monat 140.000 Euro, und damit rund ein Achtel vom Gehalt des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann, Deutschlands Spitzenmanager.

Kürzlich berichtete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass der gesamte Reichtum in Deutschland auf 5,4 Billionen Euro angewachsen sei. Eine Billion - in Ziffern 1.000.000.000.000 - sind eintausend Milliarden oder eine Million Millionen! Den Großteil dieser Billionen teilen sich die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung muss ihr gesamtes Einkommen für den unmittelbaren Konsum oder Schulden ausgeben. Das DIW errechnete, wohl eher ungewollt, auch ein stichhaltiges Argument gegen die Behauptung der Regierenden, der "Verteilungsspielraum" werde knapper. Wenn man den vorhandenen Reichtum gleichmäßig auf alle in Deutschland lebenden Menschen ab 17 Jahren aufteilen würde, besäße jeder 81.000 Euro.

Die langzeitarbeitslosen jungen Eltern Lea-Sophies lebten nicht in Saus und Braus, sondern in einer Plattenbausiedlung in Schwerin. Die Landeshauptstadt des ostdeutschen Mecklenburg-Vorpommerns hatte 1988 mit über 130.000 Einwohnern ihren Bevölkerungshöchststand erreicht. Seitdem hat die Stadt wegen der hohen Arbeitslosigkeit, des Geburtenrückgangs und der Abwanderung etwa 34.000 Einwohner verloren.

In der Stadt ist seit 1989 kräftig modernisiert worden: in der Innenstadt. Zwischen Marienplatz und dem goldenen Schloss erstreckt sich das aufgeputzte Schwerin, das Schwerin für Geschäftsleute und Touristen. Die Stadt erhielt in einem bundesweiten Wettbewerb mit dem umständlichen Namen "Erhaltung des historischen Stadtraumes in den neuen Bundesländern 1992-1994" die Goldplakette.

Die Mehrzahl der knapp 100.000 Schweriner wohnt allerdings außerhalb des Stadtkerns. Auf dem Großen Dreesch oder in Lankow (hier lebte die fünfjährige Lea-Sophie) ballen sich die Menschen in den Plattenbauten, die seit DDR-Zeiten stehen.

Im Oktober 2007 waren in Schwerin 14,9 Prozent der erwerbsfähigen Personen arbeitslos gemeldet. Fast jeder fünfte Einwohner Schwerins war 2006 auf staatliche Unterstützungsbeiträge angewiesen. 4.200 Kinder leben in Armut.

Auch die jungen Eltern von Lea-Sophie lebten beide von Hartz-IV. Ihre Mutter brach im Alter von 18 Jahren die Ausbildung zur Bürokauffrau ab, weil sie mit Lea-Sophie schwanger war. Der Vater war damals 21. Die junge Familie wohnte in der ersten Zeit nach Lea-Sophies Geburt bei den Eltern der Mutter. Obwohl das Geld knapp gewesen sei, berichtete der Großvater Lea-Sophies, seien sie später ausgezogen. Die Großeltern hätten noch häufiger Essen vorbeigebracht.

Über die Gründe für das Verhalten der beiden jungen Eltern kann aufgrund der bisherigen Berichte nur spekuliert werden. Doch ohne sie von jeglicher Verantwortung frei zu sprechen: Die Hauptverantwortlichen sitzen in den Parteizentralen von SPD und CDU, nicht zu vergessen die PDS/Linkspartei, die von 1998 bis 2006 gemeinsam mit der SPD in Schwerin die Regierung stellte. Die Tragödie ist eine Folge der massiven Verarmung, die seit 1998 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) und seit zwei Jahren von der Großen Koalition unter Angela Merkel (CDU) verordnet wird.

Die Schweriner Stadtverwaltung schloss nicht aus, dass sich ein Fall wie der Hungertod von Lea-Sophie wiederholen kann. Oberbürgermeister Norbert Claussen (CDU) sagte: "Es hätte in jeder anderen Stadt passieren können, und der, dem es passiert ist, hat in diesem Fall Pech gehabt." Claussen bezog sich damit auf den zuständigen Mitarbeiter des Jugendamts.

Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe

Doch der Beschäftigte des Jugendamts hat nicht einfach "Pech" gehabt. Die Gelder für die Kinder- und Jugendhilfe sind wie kein anderer Bereich zusammengestrichen worden. In den letzten fünf Jahren summieren sich die bundesweiten durchschnittlichen Kürzungen auf 15 Prozent. Dabei wächst aufgrund der Armut die Anzahl der Familien ständig an, die Betreuungsbedarf haben.

Die Jugendämter haben die aufsuchende Jugendhilfe, die Arbeit in den Armenvierteln, weitgehend eingestellt. Auch die Mittel für die dort noch tätigen freien Träger der Jugendhilfe werden zusammengestrichen. Der öffentliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst ist ebenfalls in vielen Städten gekürzt oder ganz abgeschafft worden. Die in die Armut Gedrängten werden regelrecht sich selbst überlassen. Sozialarbeiter des Jugendamts werden so zu Sachbearbeitern. Sie betreuen nicht mehr, sondern verwalten - im Schnitt jeder 150 Familien.

Man kann davon ausgehen, dass diese Kürzungen einen guten Teil dazu beigetragen haben, dass dem Schweriner Jugendamt, das die Familie von Lea-Sophie seit über einem Jahr betreute, ein tragischer und folgenschwerer Fehler unterlaufen ist.

Noch am 13. November, eine Woche vor dem Tod Lea-Sophies, kamen ihre Eltern ins Jugendamt und zeigten dem dortigen Sozialarbeiter ihren zwei Monate alten Bruder. Laut Jugendamt kam es zwischen dem Sozialarbeiter und den Eltern zu einem "umfangreichen Gespräch". Der Säugling erschien dem Jugendamtmitarbeiter "gut versorgt". Als er fragte, wo Lea-Sophie sei, antworteten die Eltern, "bei Bekannten". Der Sozialarbeiter beließ es dabei. Es ist nicht bekannt, wie viele Familien er zu betreuen hat, die durchschnittlichen 150, mehr oder weniger.

Wenn nun also der Sozialminister Mecklenburg-Vorpommerns Erwin Sellering (SPD) oder Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) das Schweriner Jugendamt für den Tod des kleinen Mädchens verantwortlich machen, ist das eine kaum zu überbietende Frechheit. Ihre Parteien stehen für diesen Sparkurs auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Die Leiterin des Schweriner Jugendamts Heike Seifert hatte schon im letzten Jahr im Jugendhilfeausschuss die dort versammelten Politiker vor den Folgen der Kürzungen gewarnt. Sie und ihre Mitarbeiter seien restlos überfordert.

Eine Zeugin, die damalige Stadtelternratsvorsitzende Verena Riemer, berichtet, die Jugendamtsleiterin habe dafür auch eindrucksvolle Zahlen angeführt: dass sie 25 Prozent weniger Mitarbeiter habe als zehn Jahre zuvor, und dass sie frei werdende Stellen nicht neu besetzen dürfe. Seifert habe einen hervorragenden Vortrag gehalten und dann gewarnt: "Ich kann nicht garantieren, dass wir nicht auch in Schwerin ein totes Kind haben". Seiferts Referat sei ein Hilfeschrei gewesen, erinnert sich Verena Riemer. Unter den Zuhörern, darunter die Ausschussvorsitzende Silke Gajek (Grüne), habe es die "üblichen Betroffenheitsbekundungen" gegeben. Dann sei man zum nächsten Tagesordnungspunkt übergegangen.

Laut Zeitungsberichten darf Seifert selbst seit einer Woche nichts sagen, sie habe einen Maulkorb bekommen.

Der tragische Fall in Schwerin verdeutlicht, dass das Problem nicht am Fehlen eines "Frühwarnsystems" oder von ärztlichen Pflichtuntersuchungen liegt. Lea Sophie war, wie alle anderen schrecklichen Fälle der Vergangenheit auch, bereits im Jugendhilfe-System. Notwendig sind das Rückgängigmachen der Kürzungen und die Aufstockung der Mittel in der Kinder- und Jugendhilfe sowie eine weitergehende, wirkliche Armutsbekämpfung.

Doch die Berliner Parteien einschließlich der Linkspartei, die in Berlin gemeinsam mit der SPD die bundesweit größten Kürzungen in der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe durchgesetzt hat (160 Millionen Euro oder 35 Prozent in den letzten fünf Jahren), lehnen dies rigoros ab.

Der jetzige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) sprach für alle, als er bereits Ende 2003 in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit für "eine anders verstandene soziale Gerechtigkeit" eintrat: "Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern."

Die arbeitlosen Eltern von Lea-Sophie und all die anderen Armen gehören nicht dazu.

Siehe auch:
Warum sterben Kinder an Vernachlässigung?
(3. Januar 2007)
Immer mehr Kinder von Hartz IV abhängig
(23. August 2007)
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