Ungarns Regierungskoalition zerbricht

Am 27. April hat eine Delegiertenversammlung des liberalen Bunds der Freien Demokraten (SZDSZ) den Austritt aus der Regierungskoalition mit den Sozialisten (MSZP) um Regierungschef Ferenc Gyurcsány beschlossen. Damit hat die MSZP keine Mehrheit mehr im Parlament und Ungarn wird zum ersten Mal seit den Wendejahren 89/90 von einem Minderheitskabinett regiert.

Zwischen Sozialisten und Liberalen existieren keine grundlegenden politischen Differenzen. Seit 2002 bilden beide die Regierung. Sie haben seither einen stramm neoliberalen Kurs verfolgt, der ausschließlich zu Lasten breiter Bevölkerungsschichten ging.

Die Regierung Gyurcsány ist mittlerweile verhasst wie noch keine Regierung vor ihr. Neuesten Umfragen zufolge würden die Sozialisten bei vorgezogenen Neuwahlen nur noch etwa 10 Prozent der Stimmen bekommen, die Liberalen wären mit zwei Prozent nicht einmal mehr im Parlament vertreten. Der oppositionelle Fidesz würde mit über 30 Prozent klar stärkste Kraft werden.

Der Streit zwischen den beiden Regierungsparteien über den weiteren Reformkurs und speziell die Reform des Gesundheitssystems schwelt bereits seit mehreren Wochen. Er gipfelte in der Entlassung der liberalen Gesundheitsministerin Ágnes Horváth durch Gyurcsány.

Beide hatten Anfang Februar gemeinsam das so genannte Krankenversicherungsgesetz durch das Parlament gepeitscht. Es sah eine weitgehende Privatisierung der Gesundheitsversicherung vor. Zuvor hatte die Regierung bereits die Einführung von Studiengebühren beschlossen.

Im März sprachen sich die ungarischen Wähler dann in einem von der Opposition initiierten Referendum mit 84 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Abschaffung der neu eingeführten Gesundheits- und Studiengebühren aus. Die Wahlbeteiligung erreichte mit über 50 Prozent für ungarische Verhältnisse einen Rekord. Selbst an der Abstimmung über den EU-Beitritt hatten sich nur knapp 48 Prozent beteiligt.

Angesichts der breiten Ablehnung sah sich Gyurcsány gezwungen, eine "gemäßigte, verantwortungsvolle Reformpolitik" zu versprechen. Das sollte heißen, dass die Angriffe auf die Bevölkerung langsamer und sorgfältiger dosiert erfolgen. Dem widersprach die SZDSZ. Sie setzte sich für weitere radikale Reformen ein und kündigte so den Bruch mit der MSZP an.

Hintergrund des Austritts dürfte allerdings auch das Kalkül sein, dadurch in der Wählergunst nicht noch tiefer zu fallen. SZDSZ-Chef Janos Koka hat bereits angekündigt, seine Partei werde eine sozialistische Minderheitsregierung "elegant, friedlich und konstruktiv" unterstützen. Seine Partei sei keinesfalls am Sturz der Regierung interessiert.

Das mit dem Bruch der Koalition kein Politikwechsel verbunden ist, zeigt auch die Neubesetzung des Kabinetts. Die wichtigste Veränderung ist die Zusammenlegung dreier Ministerien zum Nationalen Entwicklungs- und Wirtschaftsministerium, das vom bisherigen Minister für Regionalentwicklung, dem Ökonomen Gordon Bajnai, geführt wird. Darüber hinaus werden zwei Ministerien zum Ministerium für Verkehr, Telekommunikation und Energie vereint, das vom bisherigen Chef der Post, Pál Szabó, geleitet wird.

Die neue Kabinettsmitglieder kommen aus dem engsten Umfeld Gyurcsánys und haben, wie Gyurcsány selbst, bereits in hoch dotierten Posten in der Wirtschaft gestanden. Von ihnen ist keine Abkehr vom radikalen Sparkurs zu erwarten.

Wirtschaftliche Probleme und soziale Konflikte

Ungarische und europäische Medien haben besorgt auf den Koalitionsbruch reagiert und vor einem Abbruch des Reformkurses gewarnt.

So kommentierte die Budapester Zeitung : "Ungarn kann sich keine schlafende oder gelähmte Regierung mehr erlauben. Immerhin hat das Land eine länger und länger werdende Aufgabenliste abzuarbeiten. Was wird beispielsweise mit der Gesundheits- und was mit der Steuerreform?"

Und weiter: "Bis auf Populisten, Naivlinge und Ignoranten zweifelt inzwischen kein nüchtern denkender Mensch mehr an der Existenzberechtigung, ja zwingenden Notwendigkeit von Reformen. Sie sind heute so existenziell wichtig für Ungarn wie es Mitte der 90er das schmerzhafte, aber äußerst gesundheitsfördernde ‚Bokros-Paket’ gewesen ist."

Mit dem "gesundheitsfördernden" Bokros-Paket wurde die Wirtschaft radikal umstrukturiert und der Forint abgewertet, was Lohnverlust und Stellenabbau in bis dahin ungekanntem Ausmaß zur Folge hatte. Ähnlich war auch die bisherige Politik der Gyurcsany-Regierung ein einziger Feldzug gegen den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung.

Alleine im öffentlichen Dienst sind seit 2002 50.000 Stellen gestrichen worden. An vielen Schulen herrscht akuter Lehrermangel, die vorhandenen Lehrkräfte sind vollkommen überfordert.

Dutzende Krankenhäuser sind geschlossen worden. Während Geringverdiener noch vor wenigen Jahren von Krankenkassenbeiträgen befreit waren, müssen sie nun für die schlechter gewordene Gesundheitsversorgung bezahlen. Erstmals wies 2007 die staatliche Krankenversicherung OÉP einen Überschuss aus. Nachdem sie auf Kosten der Beitragszahler saniert worden ist, soll sie nun in private Hände überführt werden.

Während die Lebenshaltungskosten immer stärker in die Höhe schnellen, beginnen die Löhne zu sinken. Der durchschnittliche Reallohn ging im Vergleich zum Vorjahr um 4,8 Prozent zurück. Die Arbeitslosigkeit nimmt seit Mitte letzten Jahres kontinuierlich zu. Mittlerweile liegt sie bei acht Prozent. Jeder zweite Arbeitslose ist seit mehr als einem Jahr ohne Stelle.

Geht es nach den Eliten in Politik und Wirtschaft, haben diese Angriffe noch lange kein Ende. Der Gouverneur der ungarischen Nationalbank András Simor forderte unlängst, dass die Ausgaben für Pensionen, Familienbeihilfen und ähnliche Leistungen um zwei Billionen Forint (knapp 8 Milliarden Euro) gekürzt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu erhalten.

Der Chef des ungarischen Wirtschaftsforschungsinstituts Pénzügykutató, László Lengyel, sieht die wirtschaftliche Situation "kritisch wie seit langem nicht mehr".

Während das Land in den Wendejahren in ökonomischen Fragen als "Musterknabe" gehandelt wurde, kritisieren EU und internationale Finanzinstitutionen heute die Regierung und fordern sie zu schärferen Maßnahmen auf. Anfang April erklärte die OECD, die Regierung müsse an "ihrem Plan festhalten, das Staatsdefizit - gegenwärtig das höchste in der OECD - bis zum Jahr 2010 auf unter drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu senken". Zur Zeit liegt das Defizit bei 5,5 Prozent.

Vor diesem Hintergrund warnte der ehemalige Wirtschaftsminister György Matolcsy vor einer wachsenden Radikalisierung der Bevölkerung. Er erwarte, dass in den kommenden Jahren " jede ungarische Regierung mit Demonstrationen und Streiks konfrontiert sein" werde.

Diese Annahme scheint nicht unbegründet. Wie in nahezu allen neuen EU-Mitgliedsstaaten kommt es auch in Ungarn immer häufiger zu Streiks und Protesten. So haben in diesem Jahr die Beschäftigten der Eisenbahn durch Arbeitsniederlegungen fast den gesamten Bahnverkehr lahmgelegt. Dasselbe taten die Beschäftigten des Nahverkehrs in der Hauptstadt Budapest. Eine langfristige und harte Auseinandersetzung blieb den öffentlichen Arbeitgebern nur aufgrund der feigen und kompromissbereiten Politik der Gewerkschaften erspart.

Mangels einer progressiven Alternative beflügelt Gyursanys rechte Politik und die daraus entstandene Krise vor allem die rechten Kräfte im Land. Auch wenn die Minderheitsregierung um Gyurcsany von den Liberalen aus der Opposition heraus unterstützt wird, ist sie extrem schwach. Der oppositionelle Bund Junger Demokraten (Fidesz) um seinen Vorsitzenden Victor Orban wird jede sich bietende Chance nutzen, um die MSZP aus dem Amt zu drängen.

Orban versucht, aus der berechtigten Empörung über die Regierungspolitik Kapital zu schlagen. Der Fidesz sprach sich als einzige politische Kraft im Parlament gegen die Reform der Sozialsysteme aus. Nach dem erfolgreichen Referendum im Mär, kündigte Orban an, weitere einzuleiten, sollte die Regierung wieder Ähnliches vorhaben.

Dabei steht völlig außer Frage, dass die Politik des Fidsz ebenso den Interessen der großen europäischen Banken und Konzerne entspricht. Um die Kriterien für den EU-Beitritt zu erfüllen, hat Orban von 1998 bis 2002 als Regierungschef einen ebenso radikalen Sparkurs verordnet. Er war danach derart unpopulär, dass Gyurcsany 2002 mühelos die Wahlen gewinnen konnte.

Mittlerweile ist der Fidesz noch weiter nach rechts gerückt und treibt ein übles Doppelspiel. Zum einen gibt er sich offen freiheitlich, zum anderen unterhält er enge politische und persönliche Kontakte zur extremen Rechten. Die Proteste ultrarechter und neofaschistischer Gruppen gegen Gyurcsany vor zwei Jahren wurden maßgeblich vom Fidesz unterstützt.

Gegenwärtig versucht Orban, die völlig zersplitterten ultra-konservativen und rechten Formationen zu vereinigen. Dabei bindet er auch offen faschistische Elemente ein, wie die im letzten Jahr gegründete Ungarische Garde und ihren politischen Arm Jobbik. Die Garde marschiert regelmäßig durch Budapester Viertel mit hohem Ausländer- und Romaanteil, um gezielt Ausschreitungen zu provozieren. Der Fidesz enthält sich dabei nicht nur jeder Kritik an den Faschisten, sondern unterhält enge Verbindungen zu ihnen. Auf der Gründungsfeier der Garde waren auch hochrangige Fidesz-Vertreter zugegen.

Siehe auch:
Ungarische Rechtsextreme gründen paramilitärische "Garde"
(15. September 2007)
Lehren aus den Ereignissen in Ungarn
( 29. September 2008)
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