Schweiz: Abstimmungsniederlage für Rechtspopulist Blocher

Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) des Milliardärs und Chemieunternehmers Christoph Blocher hat am 1. Juni eine herbe Abstimmungsniederlage erlitten: 63,8 Prozent der Abstimmungsteilnehmer lehnten ihre jüngste Einbürgerungsinitiative ab.

Außer im Kanton Schwyz fiel das Ergebnis in jedem einzelnen Schweizer Kanton negativ aus. Die Neinstimmen übertrafen deutlich die Voraussagen, die zwei Wochen vor der Abstimmung noch mit einer Ablehnung von 56 gegen 44 Prozent gerechnet hatten. Besonders hoch fiel die Ablehnung in der französischen Schweiz und in den großen Städten aus.

Blochers demagogische Initiative "für demokratische Einbürgerungen" sah vor, dass die Gemeinden bei Anträgen auf Staatsangehörigkeit das letzte Wort haben, wobei auch Abstimmungen an der Urne zulässig sein sollten. Das hätte der Willkür Tür und Tor geöffnet. Ausländische Staatsbürger, deren Antrag auf das Bürgerrecht abgelehnt wird, hätten keine Möglichkeit gehabt, ihr Recht vor Gericht einzuklagen.

Die SVP wollte eine Entscheidung des Bundesgerichts von 2003 korrigieren, das Volksentscheide über Einbürgerungsanträge für verfassungswidrig erklärt und vorgeschrieben hatte, dass ablehnende Entscheidungen zu begründen seien und juristisch anfechtbar sein müssten. Das Bundesgericht hatte damals auf eine offensichtliche Willkürentscheidung an der Urne reagiert. In der Luzerner Gemeinde Emmen waren alle Antragsteller aus Italien aufgenommen, jene aus dem Balkan jedoch abgelehnt worden.

Die Schweizer und die internationale Presse haben das Abstimmungsresultat als Ohrfeige für die SVP und Blocher gewertet. Der Standard aus Österreich schrieb, das klare Nein sei "eine schwere Niederlage für die rechtskonservative Volkspartei SVP". Spiegel.online nannte das Ergebnis ein "Debakel für den Volkstribun Blocher", und mehrere Schweizer Zeitungen sprachen von einem "Waterloo" für die SVP. Die Entwicklung zeige "die Umrisse eines politischen Stimmungsumschwungs" (Neue Luzerner Zeitung).

"Braune Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, reichen nicht mehr, um genügend Wählerinnen und Wähler zu emotionalisieren beziehungsweise zu mobilisieren", schrieb die Aargauer Zeitung. Sie spielte damit auf die aufwändige Propagandaschlacht der SVP vor der Abstimmung an, in deren Mittelpunkt ein Plakat stand, auf dem zahlreiche dunkelhäutige Hände nach einem Schweizer Pass greifen.

Zusammen mit der Einbürgerungsinitiative wurden gleichzeitig zwei weitere SVP-Initiativen abgelehnt, die eine "wirtschaftlichere" Gesundheitspolitik und "weniger Behördenpropaganda" forderten. Die Ablehnung von allen drei Initiativen hat eine offene Krise in der SVP ausgelöst.

Einen Tag nach der Abstimmungsniederlage zeichnete sich die Spaltung der SVP ab. Verteidigungsminister Samuel Schmid (SVP) forderte gemeinsam mit 36 prominenten Berner SVP-Mitgliedern den Austritt der Berner Kantonalpartei aus der SVP. Der Grund war der Umgang der Parteiführung um Blocher mit dem zweiten Regierungsmitglied der SVP, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf aus Graubünden.

Frau Widmer-Schlumpf und mit ihr die gesamte SVP Graubünden waren kurz vor der Abstimmung aus der SVP ausgeschlossen worden. Die Bündner Kantonalpartei hatte sich nicht von Frau Widmer-Schlumpf distanziert, nachdem sich diese im vergangenen Dezember an Stelle von Christoph Blocher durch die Bundesversammlung, das Schweizer Parlament, zur Justizministerin hatte wählen lassen.

Am Dienstag forderte der SVP-Nationalrat Peter Spuhler, ein Unternehmer aus dem Kanton Thurgau, Christoph Blocher zum Rücktritt auf. Er erklärte dem Tages-Anzeiger, er hoffe, dass Christoph Blocher "im richtigen Moment den Entscheid trifft, sich zurückzuziehen". Samuel Schmid und die Berner "Dissidenten" sind nach eigenen Angaben bereit, eine neue Partei zu gründen, weil sie im Berner Kantonalverband nur von einer Minderheit unterstützt werden.

Politischer Umschwung

Die Krise der SVP, die noch vor einem halben Jahr bei den Parlamentswahlen die meisten Stimmen hatte verbuchen können, macht einen politischen Umschwung deutlich. Die vormals kleinste der vier Regierungsparteien, verankert vor allem im protestantischern, ländlichen Milieu, hatte sich unter Blocher zur einflussreichsten Schweizer Partei entwickelt, indem sie soziale Ängste in fremdenfeindliche Kanäle lenkte. Nun ist sie erstmals mit einer ausländerfeindlichen Initiative deutlich gescheitert.

Was hat diese Veränderung bewirkt?

Seit Beginn dieses Jahres, vor allem seit Ausbruch der internationalen Bankenkrise, werden soziale Gegensätze, die lange durch die nationale Propaganda verdeckt waren, deutlicher als bisher wahrgenommen.

Mit dem UBS-Skandal sind die Praktiken der Schweizer Großbanken ins Rampenlicht gerückt: Geschützt durch das Bankgeheimnis hat die UBS als Vermögensverwalterin der Superreichen in vielen Ländern Beihilfe zu Steuerhinterziehung geleistet. Die Öffentlichkeit nimmt zur Kenntnis, dass eine privilegierte Oberschicht die Steueroase Schweiz bedenkenlos zum eigenen Profit und auf Kosten der Armen dieser Welt ausnützt. Nicht ganz zufällig ist Christoph Blocher ein guter Freund von Marcel Ospel, dem UBS-Chef, der jetzt zurücktreten musste.

Erstmals brechen Klassenkonflikte wieder offen auf. Im März und April wurden die Bahnwerkstätten von SBB Cargo in Bellinzona (Tessin) vier Wochen lang bestreikt und besetzt, um die Schließung und Massenentlassungen zu verhindern. Die Aktion erfuhr überwältigende Unterstützung in der Bevölkerung. Etwa zur gleichen Zeit streikten Tausende Bauarbeiter auf mehreren Großbaustellen in der Schweiz für die Verteidigung eines Gesamtarbeitsvertrags.

Das Abstimmungsergebnis signalisiert gewissermaßen eine Art von "Jetzt reichts! Bis hierher und nicht weiter". Aber die arbeitende Bevölkerung hat keine politische Vertretung, die ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen und gegen die Profitinteressen der Wirtschaft verteidigen könnte.

Die Sozialdemokratie der Schweiz (SP), die vor genau 120 Jahren als Arbeiterpartei gegründet wurde, ist vollkommen in das bürgerliche Establishment integriert. Von den jüngsten Streikbewegungen wurde sie völlig überrascht. Die Besetzung in Bellinzona wurde am Ende durch ein Eingreifen von SP-Bundesrat und Verkehrsminister Moritz Leuenberger mittels einiger bisher unbestätigter Versprechen abgewürgt.

Weit davon entfernt, für die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse in die Offensive zu gehen, sieht die SP heute ihre Hauptaufgabe darin, die so genannte "Konkordanzdemokratie" zu retten. Dies ist die spezifisch schweizerische Form des sozialen Kompromisses. Ihr Herzstück war seit einem halben Jahrhundert die Allparteienregierung, in der alle bedeutenden politischen Fraktionen - Sozialdemokratie (SP), freisinnige FDP, christdemokratische CVP und SVP - durch einen oder zwei Bundesräte vertreten waren.

Nach Samuel Schmids faktischem Austritt aus der SVP ist diese Partei, die an den letzten Wahlen am meisten Stimmen erhalten hatte, mit keinem von ihr anerkannten Bundesrat mehr in der Regierung vertreten. Dadurch ist die "Konkordanzdemokratie" praktisch am Ende.

Die SP reagiert darauf, indem sie im Namen der "Einheit gegen Blocher" einen noch engeren Schulterschluss mit den liberalen und christdemokratischen Bürgerparteien und den SVP-"Dissidenten" übt. Ihre defensive Haltung äußerte sich schon in ihren Kommentaren zur aktuellen Abstimmung über das Einbürgerungsrecht. Beschwichtigend erklärte der SP-Vertreter Daniel Jositsch: "Hier geht es selbstverständlich nicht um mehr oder weniger Einbürgerungen.... Es spricht kein Mensch von einem Recht auf Einbürgerung."

Der Schulterschluss der SP mit den andern bürgerlichen Parteien nimmt groteske Züge an. Mitte April rief Außenministerin Micheline Calmy-Rey (SP) zu einer Solidaritätskampagne zur Unterstützung der neuen, von Blocher gemobbten Justizministerin Widmer-Schlumpf auf - obwohl diese nach eigener Erklärung die Politik von Blocher fortsetzt und zum Teil noch verschärft.

Nach hundert Tagen im Amt hat Widmer-Schlumpf ausdrücklich erklärt, sie verfolge wie ihr Amtsvorgänger Blocher in der Ausländer- und Asylfrage eine harte Linie und werde im Wesentlichen die bisherige Politik im Justiz- und Polizeidepartement fortsetzen. Hauptpriorität sei die Bekämpfung der Jugendgewalt und die Frage der kriminellen Ausländer, außerdem der Kampf gegen Terrorismus und gewalttätigen Extremismus. Straffällig gewordene Ausländer müssten ausgewiesen werden, Jugendliche sogar zusammen mit ihren Eltern.

Frau Widmer-Schlumpf hebt in keiner Frage die Bestimmungen wieder auf, die Blocher massiv verschärft hatte; sie verspricht im Gegenteil, die Kriterien, unter denen eine Ausweisung als unzumutbar erachtet wird, noch zu verschärfen.

Trotzdem nimmt die Sozialdemokratie aktiv an der Unterstützungskampagne für Widmer-Schlumpf teil, deren Höhepunkt eine Demonstration mit über 12.000 Teilnehmern am 12. April vor dem Berner Bundeshaus war. "Wir begrüßen die Aktion gegen die unschweizerische und undemokratische Art der SVP", sagte Peter Lauener, Sprecher der SP.

Die Regierungskoalition von SP, CVP, FDP und SVP-"Dissidenten" ist in keiner Weise fortschrittlicher als Blochers Rest-SVP, die sich nun in der Opposition befindet. Sie unterscheidet sich von letzterer nur insofern, als sie einige für die Schweizer Stabilität und den Wirtschaftsstandort nützliche Korrekturen anbringt. Zum Beispiel treten die Bundesratsparteien im Gegensatz zu Blocher für die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und für deren Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien ein, weil dies für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts wichtig sei. Das Freizügigkeitsabkommen sei das wirtschaftlich wichtigste bilaterale Abkommen mit der EU, erklärte Eveline Widmer-Schlumpf.

Die Regierung verfolgt eine neo-liberale Politik der Deregulierung und Privatisierung im Interesse der Banken und Konzerne. Die Ausgliederung des Schienengüterverkehrs in die Bahntochter SBB Cargo ist nur eins der bekannteren Beispiele, weitere Beispiele sind die Privatisierungen bei Post und Telekommunikation, der Altenpflege und im Gesundheitswesen.

Im europäischen und internationalen Bereich kann sich die Schweiz einer marktwirtschaftlichen Öffnung überhaupt nicht entziehen, wenn sie nicht vollkommen vom einheitlichen EU-Raum isoliert werden will. Für Banken und Großunternehmen - wie z.B. in der Bauindustrie - bietet die europäische Dienstleistungsfreiheit die Möglichkeit, Arbeiter aus verschiedenen Ländern gegeneinander auszuspielen und Billiglöhne durchzudrücken.

Diese Entwicklung konnte Blochers SVP bisher demagogisch ausnutzen. Während Blocher als milliardenschwerer Chemieunternehmer wirtschaftlich von der Globalisierung profitierte, spaltete er die Arbeiter mit nationalistischen Parolen und mobilisierte rückständige Stimmungen.

Heute jedoch taucht auch die Möglichkeit gemeinsamer europaweiter Kämpfe der Arbeiter gegen Lohndumping und Sozialabbau auf. Dies hat sich in den Streiks der Bauarbeiter, der Eisenbahner und sogar bei den Milchbauern gezeigt, die ihren Milchstreik parallel in mehreren Ländern Europas führten.

Eine solche Entwicklung erfordert den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei, die das offensichtliche gesellschaftliche Bedürfnis nach Veränderung und sozialer Gleichheit politisch zum Ausdruck bringt. Solange sie nicht existiert, können die Manöver hinter den Kulissen, das Hauen und Stechen der Politiker trotz geringer Unterschiede ihrer Programme, nur zu einer neuen, gefährlichen Rechtsentwicklung führen.

Siehe auch:
Schweiz: Rechtspopulist Blocher abgewählt
(14. Dezember 2007)
Rechtsruck und Polarisierung bei Wahlen in der Schweiz
(23. Oktober 2007)
Schweiz: Wahlkampf deckt tiefe Brüche in der Gesellschaft auf
(19. Oktober 2007)
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