Ende der 35-Stunden-Woche in Frankreich

Gewerkschaften und "Links"-parteien servieren Sarkozy Sieg auf dem Tablett

Am späten Abend des 23. Juli verabschiedeten beide Häuser des französischen Parlaments in einer gemeinsamen Sitzung einen ganzen Schwall arbeiterfeindlicher Gesetze. Damit können die französische Bourgeoisie und die konservative Regierung von Präsident Nicolas Sarkozy einen wichtigen Erfolg verbuchen. Gegen die massive Opposition der Bevölkerung haben sie Gesetzesvorhaben durchgesetzt, die eine merkliche Änderung der Klassenbeziehungen in Frankreich darstellen: Die Arbeitszeit wird verlängert, das Arbeitslosengeld gekürzt und Gewerkschafts- und Streikgesetze werden geändert. Industrie und Banken können sich über große Geschenke freuen.

Nationalversammlung und Senat verabschiedeten gemeinsam ein Gesetz, das die "Arbeitszeitbestimmungen reformiert" und "die soziale Demokratie erneuert". Sein Hauptzweck besteht darin, die 35-Stunden-Woche, die von der Sozialistischen Partei (PS) 1998 eingeführt worden war, wieder einzukassieren. Im Mai 2008 hatte das Finanzblatt Les Echos eine Umfrage in Betrieben durchführen lassen, die ergab, dass 79 Prozent der Beschäftigten die Beibehaltung der 35-Stunden-Woche befürworteten. Die Regierung entschied deshalb, die Wochenarbeitszeit formal bei 35 Stunden zu belassen, das Gesetz aber gleichzeitig dadurch auszuhöhlen, dass auch betriebsbezogene Überstundenregelungen, und nicht nur Abkommen für ganze Industriezweige abgeschlossen werden können.

Unternehmer sind jetzt viel eher in der Lage, Arbeiter in individuellen Vertragsverhandlungen unter Druck zu setzen und Lohnkürzungen und noch mehr Überstunden von ihnen zu verlangen. Das Gesetz verletzt den Geist der Kollektivverträge, die auf das Ende des Ersten Weltkriegs 1919 zurückgehen. Demzufolge dürfen Firmen nach der Günstigkeitsklausel keine Einzelabkommen schließen, die Arbeiter schlechter stellen, als in Branchen- oder nationalen Tarifverträgen vorgesehen.

Trotz dieses nominellen Zugeständnisses verkündete Arbeitsminister Xavier Bertrand ungerührt: "Endlich kommen wir von der 35-Stunden-Woche weg."

Arbeiter können jetzt legal gezwungen werden, bis zu 48 Stunden die Woche zu arbeiten. Überstunden müssen mit einem Zuschlag von nur 10 Prozent bezahlt werden, anstatt wie bisher 25 Prozent. Dafür hat man eine Regelung ausgeweitet, die schon im ursprünglichen Gesetz der PS vorhanden war: Um die Unternehmerkosten zu begrenzen, sah man damals vor, dass für die ersten vier Überstunden pro Woche nur ein Zuschlag von 10 Prozent bezahlt werden musste. Hinzu kommt jetzt, dass für die ersten 405 Jahresüberstunden keine Erlaubnis der Arbeitsinspektoren eingeholt werden muss.

Einige besonders drakonische Bestimmungen des Gesetzes betreffen Urlaub und Pausenzeiten. Das Gesetz schafft die automatischen Pausenzeiten ab, die bisher Arbeitern zustehen, wenn sie mehr als die Standardüberstunden arbeiten. Wochenlöhner, die nicht nach Stundenlohn bezahlt werden - d.h. meistens Angestellte - können verpflichtet werden, bis zu 282 Tage im Jahr, anstatt wie bisher 218 Tage, zu arbeiten.

Das Gesetz formuliert die "Gemeinsame Position", die im April von Unternehmerverbänden und den zwei größten französischen Gewerkschaftsverbänden, der CGT und der CFDT, ausgehandelt worden war. Deswegen enthält das Gesetz auch Regelungen, die den Einfluss der größeren Gewerkschaften stärken sollen. Das geltende Arrangement, das auf die Zeit der Befreiung von der Nazi-Besatzung 1945 zurückgeht, gibt den fünf Verbänden CGT, CFDT, FO, CFTC und CGC das Recht, in jeder Firma repräsentiert zu sein und Vereinbarungen mit dem Management abzuschließen.

Das neue Gesetz verlangt von einer Gewerkschaft, bei repräsentativen Wahlen 10 Prozent der Stimmen in einem Unternehmen, bzw. acht Prozent in einer Branche oder landesweit zu erringen, um Vertretungsrechte zu erhalten. Verträge gelten, wenn die an der Ausarbeitung beteiligten Gewerkschaften zusammen mindestens 30 Prozent der Beschäftigten vertreten. Es wird erwartet, dass die kleineren Gewerkschaften sich zügig umgruppieren.

Die Nationalversammlung und der Senat verabschiedeten auch einen Angriff auf das Streikrecht der Lehrer. Vorbild sind die Einschränkungen des Streikrechts im Transport -und Verkehrsbereich, die im Sommer letzten Jahres unter Sarkozys Ägide eingeführt wurden. Das Gesetz verpflichtet Schulen, offen zu bleiben und die Aufsicht der Schüler zu organisieren, wenn mehr als 25 Prozent der Lehrer im Streik sind. Es ist unklar, wie Schulen das dafür notwendige Personal finden sollen. Aber das Gesetz wird Druck auf die Schulen ausüben, Streiks zu begrenzen, um massive Verwaltungs- und Geldstrafen zu vermeiden.

Der Senat hat noch mehrere andere rückschrittliche Gesetze bestätigt, die von der Nationalversammlung schon beschlossen worden waren. Die Reform der Arbeitslosenversicherung - die die Regierung auch mit den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften ausgehandelt hat - soll Arbeitslose zwingen, immer schlechter bezahlte Arbeitsplätze anzunehmen, je länger sie arbeitslos sind. Andernfalls wird ihr Arbeitslosengeld gekürzt.

Den Arbeitslosen werden die Leistungen gestrichen, wenn sie zwei "zumutbare Arbeitsangebote" ablehnen. In den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit ist ein Arbeitsplatz in einem Radius von 100 Kilometern zumutbar, wenn der Lohn 95 Prozent des vorherigen Lohns beträgt, und nach drei Monaten, wenn er 80 Prozent des vorherigen Lohns einbringt, und danach, wenn der neue Lohn höher ist als das Arbeitslosengeld (57,4 Prozent des letzten Lohnes).

Der Senat ließ auch das umfangreiche Gesetz zur Modernisierung der Wirtschaft (LME) passieren, das zwei Monate lang debattiert worden war. Es wurde von 44 auf 173 Paragraphen aufgebläht, 2.500 Änderungsanträge wurden gestellt, und seine Umsetzung wird noch den Erlass von 20 Verordnungen und 123 Dekreten erfordern. Es erlaubt Handelsbanken, die von der amerikanischen Hypothekenkrise erfasst wurden, so genannte "Livret A"-Konten anzubieten. Das "Livret A" ist ein in Frankreich sehr beliebtes Investmentkonto für Kleinsparer. Im Dezember gab es knapp 46 Millionen solcher Konten mit Einlagen von 137 Mrd. Euro.

Das LME weicht Einschränkungen für große Discounter auf, die sie daran gehindert hatten, Lieferanten zu Preissenkungen zu zwingen. Diese Bestimmung wird zur Folge haben, dass kleinere Händler unterboten werden, und sie wird zu einer größeren Konzentration im Einzelhandel führen. Das neue Gesetz senkt auch die Steuern von kleinen Selbstständigen, um Arbeiter und Studenten zu ermutigen, sich selbstständig zu machen. Auch die Steuern von hoch verdienenden Ausländern, die in Frankreich arbeiten, werden gesenkt (30 Prozent der Einkommen sollen von der Steuer befreit werden, statt 20 Prozent wie bisher).

Dass die Regierung solche drastischen Kürzungen durchsetzen kann, ist eine Warnung, die die Arbeiterklasse ernst nehmen muss. Soziale Errungenschaften, die von Generationen von Arbeitern erkämpft wurden, werden von einem Präsidenten in der Luft zerrissen, dessen Politik völlig unpopulär ist. So äußerten sich 61 Prozent der Bevölkerung bei einer kürzlichen Umfrage ablehnend über Sarkozys Politik.

Die rechten Abgeordneten waren selbst überrascht und erleichtert über ihren Sieg. Der Figaro schrieb in einem Artikel vom 25. Juli mit dem Titel "Sarkozy: die Reformen haben das Ziel erreicht": "Beim Dinner für die Abgeordneten der Mehrheitspartei im Petit Palais herrschte eine Stimmung wie am Abend eines Wahlsiegs. ‚Ich habe eine solche Atmosphäre seit langem nicht mehr erlebt’, sagte die Beraterin des Präsidenten, Catherine Pégard."

Der Sieg der Regierung ist lediglich dem Fehlen einer politischen Bewegung geschuldet, die in der Lage wäre, die Feindschaft der Bevölkerung gegen Sarkozys Programm zu mobilisieren. Einige kritische Äußerungen vergleichsweise zweitrangiger Politiker der Sozialistischen Partei und der Grünen nach der Verabschiedung der Gesetze werfen nur ein umso grelleres Licht auf das Schweigen der Führungen der PS und der Grünen.

Ihre grundlegende Übereinstimmung mit Sarkozys Kürzungen wird durch ihre eigene Bilanz untermauert, als sie selbst unter Premierminister Lionel Jospin (PS) von 1997 bis 2002 an der Regierung waren. Sie führten umfangreiche Privatisierungen durch und führten die 35-Stunden-Woche nur unter der Voraussetzung ein, dass die Regierung ihre Kosten für die Wirtschaft durch die Senkung des Arbeitslosengeldes finanzierte.

Auch die Politik der Gewerkschaften zeigt der Arbeiterklasse keinen Weg vorwärts.

An den eintägigen Protestaktionen der Gewerkschaften im Mai und Juni nahmen Hunderttausende und manchmal Millionen Arbeiter und Studenten teil. Aber es gab dabei ein entscheidendes Problem: Sie blieben politisch von der Gewerkschaftsbürokratie dominiert, die die Demonstrationen mit dem zynischen Kalkül organisierte, von ihrer Zusammenarbeit mit Sarkozy hinter den Kulissen abzulenken. CGT und CFDT hatten nicht die Absicht, eine politische Offensive zu eröffnen, um Kürzungen zu stoppen, die sie selbst mit ausgearbeitet hatten.

Darüber hinaus müssen Arbeiter die Lehren aus den Massenprotesten von 1995, 2003, 2006, 2007 und 2008 ziehen, die nur das Vorspiel zu jeweils noch schärferen Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiter waren. Ihr Schwachpunkt war immer ihre Perspektive, die von der Gewerkschaftsbürokratie diktiert wurde. Sie lief darauf hinaus, am Ende immer einer Einigung mit der Regierung zuzustimmen.

Keine der wichtigsten linken Parteien hat versucht, eine politische Opposition gegen die Gaullisten zu organisieren. Stattdessen haben sie ihnen geholfen, ihre Regierungsgewalt zu legitimieren. In 2002 gewann Jacques Chirac die Präsidentschaft in der zweiten Runde gegen den Kandidaten der Neo-Faschisten, Jean-Marie Le Pen, der in der ersten Runde PS-Chef Lionel Jospin knapp aus dem Rennen geworfen hatte. In dem Moment stellten sich die PS, die Grünen und die Kommunistische Partei ohne Ausnahme hinter Chirac. Auch die kleinbürgerliche Ligue Communiste Révolutionnaire schloss sich diesem Kurs an.

Das Ergebnis waren sechs Jahre Sozialkürzungen, denen die aktuellen Gesetze nur die Krone aufsetzen.

Der Verrat der Gewerkschaften und linken Parteien kann und wird zu wichtigen Veränderungen in der politischen Orientierung der französischen Bevölkerung führen. Um die weiteren Angriffe auf den Lebensstandard erfolgreich abzuwehren, die Sarkozy und seine Regierung vorbereiten, muss eine Partei mit einem sozialistischen Programm aufgebaut werden, die den Interessen der Kapitalisten kompromisslos entgegentritt und auf internationaler Ebene für die Verteidigung der Arbeiterklasse kämpft.

Siehe auch:
Frankreich: Sarkozy-Regierung stärkt Vollmachten der Polizei
(25. Juli 2008)
Wie die französischen Gewerkschaften eine Offensive der Arbeiterklasse sabotiert haben
( 5. Juli 2008)
Die Gewerkschaftsreform und das Bündnis zwischen Sarkozy und der CGT
( 2. Mai 2008)
Loading