OECD: Wachsende soziale Ungleichheit und Armut in Deutschland

In Deutschland sind in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit und die Armut auch im Vergleich zu anderen Ländern extrem stark angewachsen. Dies geht aus einer Studie hervor, die am Dienstag die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) vorstellte.

"Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land", heißt es in einer Zusammenfassung zu den deutschen Ergebnissen der Studie. "Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985 - 2000)."

Von 1998 bis 2005 haben in Deutschland SPD und Grüne unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) regiert. Ihre Steuergeschenke an Unternehmen und Reiche und ihre Leistungskürzungen für Arbeitslose und Arme - insbesondere die Einführung eines Niedriglohnsektors und die Hartz-Arbeitsmarktreformen - haben zu diesem Ergebnis geführt.

Die Studie mit dem Titel "Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? Einkommensverteilung und Armut in OECD Ländern" untersucht die relative Armut in jedem einzelnen Land. Die Einkommen der Superreichen wurden nicht mit in die Studie einbezogen, da "sie mit den üblichen Datenquellen zur Einkommensverteilung nicht hinreichend erfasst werden können".

Diese relativen Zahlen lassen nur bedingt einen Vergleich zwischen dem konkreten Ausmaß und den Folgen der Armut in den einzelnen Ländern zu. Es ist mit Sicherheit etwas anderes, in Mexiko, der Türkei oder in den USA arm zu sein, als in Schweden, der Schweiz oder in Österreich. So ist die materielle Entbehrung, das Fehlen grundlegender Güter z.B. im Bereich Wohnen in Deutschland trotz starkem Anstiegs der Ungleichheit (noch) weniger stark verbreitet als im OECD-Mittel.

Dennoch enthält die Studie wichtige Erkenntnisse, die das Ausmaß der sozialen Krise erahnen lassen und die politische Entwicklung in den einzelnen Ländern vergleichbar machen. Die Autoren der Studie weisen daraufhin, dass die Verwendung eines anderen Ungleichheitsmaßes kaum Auswirkungen auf die Länderrangliste gehabt hätte.

Die Studie beobachtet den Zeitraum von 1985 bis 2005. Menschen gelten als arm, wenn sie weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens haben. Dieses wird nach dem Medianwert festgelegt, wobei die Bevölkerung in zwei gleich große Teile gespalten wird. Die Einkommensgrenze zwischen der oberen und der unteren Hälfte bildet den Median.

Danach ist die Einkommensungleichheit seit 2000 in Deutschland, Kanada, den USA, Norwegen, Italien und Finnland erheblich gestiegen. Sie hat vor allem deshalb zugenommen, weil die Einkommen der reichen Haushalte im Vergleich zu den Haushalten im mittleren und unteren Verteilungsbereich überproportional zugenommen haben. Über die Hälfte der Armen lebt in Haushalten mit mindestens einem Arbeitseinkommen. Sie sind trotzdem arm, weil es sich dabei um Teilzeit- und Niederlohnjobs handelt.

Deutschland

In den Jahren 2000 bis 2005 stieg die Armut in Deutschland wie in keinem anderen beobachteten Land. Im gesamten Beobachtungszeitraum von 1985 bis 2005 wuchs nur in Irland die Ungleichheit rasanter als in Deutschland.

In Deutschland liegt die zugrunde gelegte Armutsgrenze bei einem Jahreseinkommen von 9.100 Euro Netto für einen Single. 11 Prozent der Bevölkerung leben nach diesem Maßstab in Armut. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 10,6 Prozent, die höchste Armutsquote hat das sozial ungleichste Land, die USA, mit 17,1 Prozent vorzuweisen. Anfang der 1990er Jahre war die Armutsquote in Deutschland noch rund ein Viertel geringer als der OECD-Durchschnitt.

Deutschland gehört mit Tschechien, Kanada und Neuseeland auch zu den Ländern, in denen die Kinderarmut am stärksten gewachsen ist. 16 Prozent der Kinder in Deutschland leben in armen Familien. Bei Kindern Alleinerziehender weist Deutschland nach Japan, Irland, USA, Kanada und Polen die fünfthöchste Armutsquote auf.

Inzwischen haben die Einkommensunterschiede in Deutschland, die lange Zeit im internationalen Vergleich eher gering waren, fast das OECD-Niveau erreicht. Insbesondere seit 1995 nahm die Schere bei Löhnen und Gehältern drastisch zu. Gleichzeitig nahm die Anzahl der Haushalte ohne jedes Arbeitseinkommen von 15,2 auf 19,4 Prozent zu. Fast jeder fünfte Haushalt ist allein von staatlichen Leistungen abhängig, das ist der höchste Wert innerhalb der OECD-Länder. Auch der Zuwachs war, abgesehen von Ungarn und der Türkei, in keinem anderen Land schneller.

In Deutschland erhalten die zehn Prozent Spitzenverdiener im Durchschnitt etwa acht Mal so viel wie die untersten zehn Prozent. Sie sacken sich ein Viertel des Gesamteinkommens ein.

Das Vermögen ist in Deutschland noch ungleicher verteilt. Die obersten 10 Prozent besitzen etwa die Hälfte des Gesamtvermögens. Der letzte Armut- und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegte, dass die untere Hälfte der Haushalte nur zwei Prozent des Gesamtvermögens besitzt. Inzwischen sind über drei Millionen Haushalte in Deutschland überschuldet. Menschen, die zu einer Schuldnerberatung gegangen sind, standen durchschnittlich mit 23.000 Euro im Minus, bei einem Einkommen von weniger als 900 Euro im Monat.

Die OECD-Studie verweist auch darauf, dass in Deutschland mehr als in anderen Ländern Beruf und Einkommen der Eltern die Bildungserfolge der Kinder bedingen. Schüler, deren Eltern einen hohen Berufsstatus genießen, erreichen oberste PISA-Niveaus, Schüler, deren Eltern einen niedrigen Berufsstatus haben, rangieren mit ihren Leistungen am unteren Ende der Skala.

Nationale Studien belegen dies. Nur 14 Prozent der Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss schaffen den Sprung auf das Gymnasium, bei Kindern von Eltern mit Abitur liegt die Quote bei 68 Prozent. Die Kinder von Eltern mit niedrigerem Schulabschluss, die es aufs Gymnasium geschafft haben, werden dort dann schnell wieder aussortiert - jedes Dritte von ihnen. Hat mindestens ein Elternteil das Abitur, liegt die Abbrecherquote am Gymnasium bei 20 Prozent.

Experten erwarten in diesem Jahr eine Zunahme der Ungleichheit. So erklärte Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) der Presse, die Arbeitsmarktstrukturen in Deutschland hätten sich in den vergangenen zehn Jahren mit der Zunahme von Leih- und Zeitarbeit sowie geringfügiger Beschäftigung stark verändert. Die so Beschäftigten würden "jetzt im Rahmen des konjunkturellen Abschwungs relativ schnell aus dem Arbeitsmarkt hinauskatapultiert werden".

Die Etablierung eines Niedriglohnsektors war das erklärte Ziel der Regierung Schröder. Der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach, hat noch vor einem Monat in der Frankfurter Rundschau die Hartz-Reformen mit den Worten verteidigt: "Es ist immer besser, zu niedrigen Löhnen zu arbeiten als nicht zu arbeiten."

Mit der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und dem Arbeitsplatzabbau in der Industrie wurde in den letzten zehn bis 15 Jahren ein riesiges Heer von Arbeitslosen geschaffen. Die Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung durch die Hartzgesetzgebung, vor allem die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV), hat dann den Druck auf die Arbeitslosen erhöht, jede Arbeit anzunehmen. Sie hat die Beschäftigten gezwungen, Lohnkürzungen und schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen.

All das hat dazu geführt, dass Millionen gezwungen sind, sich mit Teilzeit- und Billiglohnarbeit durchs Leben zu schlagen. Inzwischen werden auch in Deutschland Brutto-Stundenlöhne von 3 bis 5 Euro gezahlt - auch tarifliche!

Zudem nimmt die Zahl der Vollzeit-Stellen in Deutschland rapide ab, innerhalb der letzten zehn Jahre um 1,5 Millionen. Stark gestiegen (um 2,6 Millionen Stellen) ist im gleichen Zeitraum dagegen die atypische Beschäftigung. Als atypisch gelten Minijobs, Leiharbeit, befristete Stellen und Teilzeitstellen mit 20 oder weniger Wochenstunden.

Der Anteil der atypisch Beschäftigten an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer ist auf 26 Prozent gestiegen. Die meisten davon sind Frauen, nämlich 71 Prozent. Mehr als verdreifacht hat sich die Zahl der Zeitarbeiter, nämlich auf über 730.000 Menschen. Sie ersetzen zum Teil reguläre Beschäftigung. Dabei erweisen sich die Behauptungen der Bundesregierung, die Niedriglohnjobs seien der Ausgangspunkt für einen Aufstieg in der Arbeitswelt, als unwahr.

Nur 15 Prozent der Leiharbeiter finden im Laufe eines Jahres einen regulären Job bei einem Unternehmen, in dem sie zuvor als Leiharbeitnehmer tätig waren. Vollzeitbeschäftigten Niedriglöhnern gelingt es in noch geringerem Ausmaß, ihre Lage zu verbessern. In der jüngsten Vergangenheit schaffte es nur noch jeder zwölfte, dem Niedriglohnbereich zu entkommen.

Teilzeit-, Billiglohn-, Leih- und Zeitarbeit sind auf dem Vormarsch. Das "Normalarbeitsverhältnis" (unbefristet in Vollzeit) ist in Deutschland im Aussterben begriffen. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet noch unter solchen Bedingungen.

Das ist das Erbe der Regierung Schröder, das von der Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) fortgeführt wird. Die OECD-Studie hat dies noch einmal aus internationaler Sicht bestätigt.

Siehe auch:
Aufschwung nur für Reiche
(3. September 2008)
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Schere zwischen Arm und Reich erneut gewachsen
( 23. Mai 2008)
Sinkende Reallöhne in Deutschland
( 4. Oktober 2007)
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