Das zionistische Projekt und sein Ergebnis: eine wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe

Diesen Bericht zu Israel und Palästina gab Jean Shaoul anlässlich einer erweiterten Redaktionskonferenz der World Socialist Web Site vom 22. bis 26. Januar 2006 in Sydney. Shaoul ist Korrespondentin der WSWS und Mitglied der Socialist Equality Party in Großbritannien.

Die gegenwärtigen ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in Israel und Palästina beweisen das Scheitern des zionistischen Projekts. Der Nationalstaat ist unfähig, die Unterdrückung der Juden zu beenden. Der zionistische Staat sollte eine Antwort auf die Verfolgung der Juden in Europa sein - ein Staat, in dem die Juden eine sichere Bleibe, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit finden sollten.

Er wurde Wirklichkeit als kapitalistischer Staat, geschaffen durch die Enteignung eines anderen Volkes und aufrechterhalten durch Krieg und Repression sowie soziale Ungleichheit im Inneren. In Laufe der Geschichte waren jüdische Menschen in jeder fortschrittlichen Bewegung vertreten und spielten nicht zuletzt in der internationalen sozialistischen Bewegung eine bedeutende Rolle. Doch heute kommt man nicht umhin festzustellen, dass sie in breiten Kreisen als blutige Unterdrücker angesehen werden.

Die Vierte Internationale und Palästina im Jahr 1948

Ich möchte daran erinnern, was die Vierte Internationale im Jahre 1947/48 zu Palästina schrieb. Liest man die Erklärung Gegen den Strom, die vor beinahe sechzig Jahren verfasst wurde, ist man verblüfft, wie weitsichtig die Warnung der Trotzkisten damals war. Die Vierte Internationale betonte den sowohl utopischen als auch rückschrittlichen Charakter des Zionismus und verurteilte die Entscheidung der Vereinten Nationen (UN) von 1947, Palästina in zwei winzige Staaten zu teilen.

"Durch die Teilung wird ein Keil zwischen die arabischen und jüdischen Arbeiter getrieben. Der zionistische Staat mit seinen provokativen Demarkationslinien wird Rachegelüste auf beiden Seiten anheizen. Innerhalb der historischen Grenzen von Eretz Israel [hebr. ‘Land Israel’] wird es Kämpfe für ein ‘arabisches Palästina’ und einen ‘jüdischen Staat’ geben. Die so geschaffene chauvinistische Atmosphäre wird schließlich die arabische Welt im Nahen Osten vergiften und den antiimperialistischen Kampf der Massen behindern, während zionistische und arabische Feudalherren um die Gunst der Imperialisten buhlen."

Weiter schrieb die Vierte Internationale: "Der jüdische Staat, dieses Geschenk von Truman und Bevin, verschafft der kapitalistischen Wirtschaft der Zionisten eine Atempause. Diese Wirtschaft beruht auf einem schwachen Fundament. Ihre Produkte sind auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Ihre einzige Hoffnung ist der Binnenmarkt, von dem arabische Waren ausgeschlossen werden. [...] Der anhaltende Strom jüdischer Einwanderer, die mit dem Rest ihrer Habseligkeiten ankommen, kann zu einem Anstieg der Warenproduktion führen. Die bürgerlichen Produzenten können dann ihre teuren Waren absetzen. Massen von Einwanderern können auch gut dazu benutzt werden, die Löhne nach unten zu treiben, die auf der jüdischen Industrie ‘so schwer lasten’. Ein Staat, der unvermeidlich in militärische Konflikte verwickelt ist, bringt Aufträge von Seiten der Armee und ist damit eine Quelle von Profiten, die nicht unterschätzt werden darf. Ein eigener Staat ist ein behaglicher Ort für Tausende altgediente zionistische Funktionäre."

Jüdische Arbeiter mussten den Preis dafür in Form von hohen Preisen und Steuern zahlen. Getrennt von ihren arabischen Brüdern und Schwestern und gehindert, als vereinte Klasse zu kämpfen, waren sie ihren Klassenfeinden, dem Imperialismus und der zionistischen Bourgeoisie, ausgeliefert. Chaim Weitzman, der erste Präsident des neuen Staates, drückte es so aus: "Der jüdische Staat wird dem kommunistischen Einfluss entgegentreten."

"Was darf man vom jüdischen Staat erwarten? Bedeutet er wirklich einen Schritt vorwärts bei der Lösung des jüdischen Problems?" fragte die Vierte Internationale und warnte: "Die Teilung geschieht nicht in der Absicht, das Elend der Juden zu beseitigen, und dies wird sie auch in Zukunft sicher nicht bewirken. Dieser Zwergstaat, der zu klein ist, um die jüdischen Massen aufzunehmen, kann nicht einmal die Probleme seiner Bürger lösen. Der hebräische Staat kann nur den arabischen Osten mit Antisemitismus erfüllen und kann sich leicht, wie Trotzki sagte, als blutige Falle für Hunderttausende von Juden erweisen."

Für die feudalen Führer der arabischen Staaten war das UN-Votum für die Gründung Israels ein Geschenk des Himmels. Mit ihrer Kriegserklärung an den neu geschaffenen zionistischen Staat gelang es ihnen, die Massen von einem vereinten Klassenkampf und jeder Möglichkeit zur internationalen Solidarität abzulenken. Der militärische Konflikt und das einhergehende Blutbad - alles im Namen des Antiimperialismus - trugen ebenfalls dazu bei, die Arbeiterbewegung auf beiden Seiten zu zerschlagen, die Arbeiterklasse zu schwächen und den Imperialismus zu stärken.

Die Vierte Internationale hob hervor, dass der Zionismus eine reaktionäre und utopische Bewegung war. Utopisch war die Annahme, dass

1. die harmonische Entwicklung einer isolierten, abgeschlossenen Wirtschaft inmitten einer kapitalistischen Welt möglich sei. Ohne eine wirtschaftliche Weiterentwicklung konnten Millionen von jüdischen Einwanderern nicht aufgenommen werden.

2. ein jüdischer Staat existieren könne, der inmitten einer offen feindseligen arabischen Bevölkerung gegründet wurde. Die arabische Bevölkerung zählte nicht nur zig Millionen sondern wuchs auch mindestens ebenso schnell wie die Zahl der jüdischen Einwanderer.

3. Israel erfolgreich zwischen den rivalisierenden imperialistischen Mächten manövrieren könne, während diese wiederum das Land benutzten, um ihre eigenen strategischen Interessen in der Region zu vertreten.

4. der Antisemitismus einfach durch einen eigenen Staat für die Juden ausgemerzt werden könne, ohne seine sozialen, historischen und ideologischen Wurzeln zu berücksichtigen.

Reaktionär ist der Zionismus, weil er

1. die imperialistische Herrschaft unterstützt, indem er ihr die Funktion eines angeblichen Mittlers zwischen Juden und Arabern zuweist.

2. eine nationalistische Reaktion von Seiten der arabischen Massen provoziert und somit die Spaltung der internationalen Arbeiterklasse entlang rassistischer Linie sowie die nationale "Identität" von Juden und Arabern verstärkt.

3. als nationalistische Kraft jüdische Arbeiter davon abhält, am weltweiten Klassenkampf teilzunehmen. Er trennt die arbeitende jüdische Bevölkerung vom Weltproletariat, indem er ihnen andere, ihre eigenen exklusiven Ziele vorgibt und vor allem die Illusion schürt, sie könnte ihr Los im Rahmen des Kapitalismus verbessern.

Die Vierte Internationale warnte, dass Krieg von keiner der beiden Seiten im arabisch-zionistischen Konflikt einen fortschrittlichen Charakter haben könne: Er diente nur dazu, die Klassengegensätze zu verdecken und nationalistischen Exzessen Tür und Tor zu öffnen, das Proletariat zu schwächen und den Imperialismus in beiden Lagern zu stärken. Die Vierte Internationale rief die arbeitende Bevölkerung auf beiden Seiten auf, sich zu vereinen und gemeinsam gegen den Imperialismus und seine Helfershelfer zu kämpfen. Sie warnte die jüdischen Arbeiter, dass sie erst dann frei und sicher wären, wenn sie mit nationaler Diskriminierung, Isolationismus und Loyalität zum Imperialismus gebrochen hätten.

Welche Verhältnisse herrschen heute im zionistischen Staat?

Überspringen wir fast 60 Jahre und fragen wir uns: Was ist aus dem zionistischen Weg zur Sicherheit für das jüdische Volk geworden? Was waren die hauptsächlichen Entwicklungstendenzen, auf die wir die Arbeit an unseren Perspektiven gründen sollten?

Als erstes ist zu sagen, dass Israel von Beginn an mit einer schweren ökonomischen, sozialen und politischen Krise konfrontiert war.

Es wurde als einer von fünf Staaten (Israel, Palästina, Jordanien, Libanon und Syrien) aus dem Gebiet der ehemaligen syrischen Provinz des Osmanischen Reiches herausgeschnitten. Die kapitalistische Wirtschaft eines so kleinen Staates war zu keinem Zeitpunkt lebensfähig - und umso weniger unter den gegebenen Bedingungen der Rohstoff- und Wasserknappheit, umgeben von feindlichen Staaten und ohne Anbindung an den Wirtschaftskreislauf der Region. Von Beginn an weigerten sich die arabischen Staaten, mit Israel Handel zu treiben und boykottierten die Unternehmen, die dies taten.

Dies war zumindest ein Grund, warum eine israelische Regierung nach der anderen danach strebte, die Staatsgrenzen zu erweitern und folglich die Ausgaben für das Militär und die Siedlungen erhöhte. So erklärt sich, weshalb Israel seit seinem Bestehen von einer Wirtschaftskrise in die nächste schlittert und so stark auf Hilfe von Außen angewiesen ist. Dies hat seine Rolle in der Welt und seine Politik im Innern unweigerlich beeinflusst.

In den Anfangsjahren war es die Diaspora, die Israels Existenz sicherte. Vor 1967 trug sie jährlich 200 Millionen Dollar bei, in den sechs Jahren danach gewaltige 700 Millionen Dollar pro Jahr. Auch heute noch erhält Israel 1,5 Milliarden Dollar jährlich in Form privater Spenden aus den USA. In den 1950er Jahren bildeten die Reparationszahlungen Westdeutschlands eine weitere wichtige Einnahmequelle: 125 Millionen Dollar jährlich vor 1966. Auch als die Reparationszahlungen eingestellt wurden, kam weiterhin Geld aus der Bundesrepublik, und zwar höhere Beträge als zuvor.

Die bei weitem wichtigste wirtschaftliche Unterstützung kam aus den Vereinigten Staaten. Vor 1967 stellten die USA gerade mal 50 Millionen Dollar jährlich bereit; dieser Betrag stieg bis 1986 auf gewaltige 3 Milliarden Dollar jährlich (aufgeteilt auf 1,2 Milliarden Dollar Wirtschafts- und 1,8 Milliarden Dollar Militärhilfe). Dazu kamen jährlich noch etwa 500 Millionen Dollar aus anderen Posten des US-Haushalts und manchmal auch staatliche Gelder, die nicht offiziell im Haushalt ausgewiesen waren. Seither sind die Unterstützungszahlungen auf dieser Höhe verblieben, womit Israel gemessen an seiner Bevölkerungszahl am meisten US-Hilfe weltweit erhält.

Diese Hilfe für Israel unterschied sich allerdings von den Hilfszahlungen der USA an die meisten anderen Länder. Zunächst ist es üblicherweise so, dass US-Hilfe an spezifische Projekte und den Kauf amerikanischer Waren und Dienstleistungen gebunden ist. Die Kontrolle darüber übt die Regierungsbehörde USAID aus. Der Großteil der Hilfe für Israel geht jedoch direkt als Barüberweisung ans israelische Finanzministerium. Schließlich ist der Begriff ‘Hilfe’ etwas irreführend. Normalerweise wird Hilfe als Kredit gewährt, woran Zinszahlungen und Rückzahlungsverpflichtungen gekoppelt sind. Der Großteil der Militärhilfe wurde jedoch in nicht rückzahlbare Darlehen umgewandelt, der Rest vom Kongress erlassen. Nur die Wirtschaftshilfe musste verzinst zurückgezahlt werden.

Zum Vergleich: Die finanzielle Direkthilfe der USA an Israel ist mehr als sechsmal so hoch wie die gesamten amerikanischen Hilfszahlungen an alle afrikanischen Länder südlich der Sahara. Doch selbst bei diesen Hilfsleistungen in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar ließ man es nicht bewenden. Von 1992 bis 1996 unterstützten die USA Israel mit 10 Milliarden Dollar an Kreditgarantien, in den Jahren 2002/03 stellten sie einen ähnlich hohen Betrag bereit. Ohne diese Zusagen wäre Israel bankrott gewesen. Die Auslandsschulden des Landes sind inzwischen größer als sein Bruttoinlandsprodukt.

Neben den Rettungsmaßnahmen für die israelische Wirtschaft gaben die USA auch ihr Einverständnis für die Ausdehnung des Siedlungsbaus. Nach außen zog Clinton die Ausgaben für den Siedlungsbau von der Gesamtsumme der US-Hilfszahlungen ab, sorgte jedoch dafür, dass identische Beträge aus anderen Quellen als Darlehen zur Verfügung gestellt wurden. So subventionierten die USA im Endeffekt den Siedlungsbau.

99 Prozent der amerikanischen Militärhilfe für Israel erfolgten erst, als die israelische Armee alle arabischen Armeen übertrumpft und die palästinensische Bevölkerung unterworfen hatte. Nach jeder militärischen Intervention und Unterdrückungsmaßnahme gegen die Palästinenser erhöhte sich die Militärhilfe. Sie stieg nach den Osloer Friedensverhandlungen und wurde nach deren Scheitern noch einmal aufgestockt. Sie wird heute, wo Israel keiner militärischen Bedrohung ausgesetzt ist, weiterhin geleistet, und dient der Sicherung militärischer Überlegenheit. Ähnliches gilt für die Wirtschaftshilfe: Die USA stützen die Ökonomie dieses Landes, obwohl das Bruttoinlandsprodukt Israels weitaus größer ist als die Summe der Bruttoinlandsprodukte seiner arabischen Nachbarn einschließlich Ägypten und obwohl Israel nur sechs Millionen Einwohner im Vergleich zu den 100 Millionen der Nachbarländer hat.

Neben wirtschaftlicher Hilfe geben die USA Israel seit jeher auch politische Rückendeckung in der UNO. Von 1972 bis 2001 legten sie gegen 39 Resolutionen des Sicherheitsrates ihr Veto ein, um Kritik an Israels Politik und Vorgehen in den Besetzten Gebieten abzublocken. Sie benutzten ihr Vetorecht bei zahlreichen anderen Gelegenheiten, damit Resolutionen zurückgezogen oder abgeschwächt wurden. So erreichten die USA, dass Israel niemals wegen der Missachtung von UN-Resolutionen oder der Entwicklung von Nuklearwaffen zur Rechenschaft gezogen wurde.

Worin bestand die Gegenleistung Israels an die USA?

Israel verhinderte Siege der Palästinenser und ihrer Verbündeten außerhalb der Grenzen Israels: 1970 in Jordanien, im Libanon 1976-82, und in den Besetzten Gebieten. Auf diese Weise half Israel dabei, die arabische Arbeiterklasse zu unterdrücken und heruntergekommene Regimes an der Macht zu halten. Während des Kalten Krieges half Israel die stalinistische Bürokratie Moskaus in Schach zu halten: 1967 und erneut 1973 siegte die israelische Armee im Krieg gegen Ägypten und Syrien, die beide von der Sowjetunion mit Waffen und Geld unterstützt wurden. Israel nahm zugunsten des US-Imperialismus praktisch die Rolle der Ordnungsmacht im Nahen Osten ein, die vor der Suez-Krise Großbritannien gespielt hatte.

Die zahlreichen Kriege, die Israel führte, boten den USA die Gelegenheit des Ernstfalls, um neue Waffen im Einsatz zu testen, die oft direkt gegen sowjetische Waffen bestehen mussten. Mit seinen Atomwaffen konnte Israel die Sowjetunion erreichen. Es verhinderte mit der Bombardierung des irakischen Atomreaktors im Jahr 1981, dass der Irak zur Atommacht aufstieg.

Auch als Mittelsmann und Handlanger leistete Israel den Vereinigten Staaten wertvolle Dienste. Das Land diente als Unterhändler für amerikanische Waffenlieferungen an Regimes, deren Unterstützung durch die USA der Öffentlichkeit verborgen bleiben sollte: das Apartheid-Regime in Südafrika, Khomeinis Iran während des Iran-Irak-Kriegs, zahlreiche Militärdiktaturen und rechtsgerichtete Rebellengruppen insbesondere in Lateinamerika. Der israelische Geheimdienst Mossad versorgt die USA mit Informationen und führt illegale und verdeckte Operationen zugunsten der Vereinigten Staaten durch, die die USA selbst nicht ausführen oder mit denen sie nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Israel erprobte neue Verhör- und Foltermethoden, die später im Irak angewandt wurden.

Israel agiert also als Söldner für den US-Imperialismus. Israelische Kommentatoren haben dafür den Vergleich mit dem "Laufburschen des Paten" gewählt. Israel führt die "Drecksarbeit" für den Paten aus, der "immer als Chef eines großen und angesehenen Unternehmens erscheinen will". Ein israelischer Intellektueller bemerkte einmal, der Staat habe drei Millionen Juden nach Israel geholt und sie zum "Schmarotzerdasein am Wirtstier Amerika" verurteilt.

Das Anwachsen von Antisemitismus

Zweifellos gehören die brutalen Methoden der israelischen Regierung zu den stärksten Ursachen für das heutige Wiederaufflammen des Antisemitismus. Ein Regime im Nahen Osten nach dem anderen hat dies mit beträchtlichem Erfolg ausgenutzt, um den Antisemitismus anzuheizen und so von seinem eigenen politischen Scheitern abzulenken. In der gegenwärtigen Situation politischer Verwirrung hat die israelische Politik zum Anwachsen des islamischen Fundamentalismus beigetragen, der populistische Formen des Antisemitismus benutzt, um politische Unzufriedenheit zu manipulieren.

Vor zwei Jahren gelangte ein Bericht der EU an die Öffentlichkeit, der auf eine wachsende Zahl von Angriffen junger europäischer Muslime auf Juden hinwies. Er brachte diese Angriffe mit den Ereignissen im Nahen Osten in Verbindung, insbesondere mit dem Beginn der Intifada im September 2000 und mit Israels Angriff auf die Stadt Jenin im Westjordanland im April 2002. Diese Tatsache anzuerkennen bedeutet nicht, antisemitische Ansichten gutzuheißen oder diejenigen zu verteidigen, die sie vertreten. Man darf aber die politische Grundlage für die gefährliche Wiedergeburt des Antisemitismus unter politisch oft ungebildeten arabischen und afrikanischen Immigranten der zweiten Generation nicht ignorieren.

Israel selbst wirft die legitime Ablehnung des Vorgehens gegen die Palästinenser in einen Topf mit Antisemitismus. Jede objektive Bewertung des israelischen Handelns wird als Antisemitismus bezeichnet. Dies dient eindeutig dem Zweck, politische Verwirrung zu stiften.

Ausbruch aus nationaler Autarkie

Was der Zionismus für die Lösung seiner wirtschaftlichen Probleme gehalten hat - die Erweiterung der israelischen Staatsgrenzen - hat sich als gar keine Lösung erwiesen. Der Grund dafür ist nicht nur darin zu finden, dass Israel international für diese Politik geächtet wird und sich mit enormen Militärausgaben belastet. Vielmehr hat die Entwicklung der Globalisierung eine nationalstaatlich orientierte Wirtschaftspolitik, wie sie Israel in der Zeit unmittelbar nach den Zweiten Weltkrieg betrieben hat, unmöglich gemacht. Israel musste versuche, seine Wirtschaft in die des Nahen Ostens zu integrieren.

Die Politik der Privatisierungen, des Wirtschaftsliberalismus und drastischer Abwertungen der israelischen Währung, wie von der Likud-Regierung nach 1985 betrieben, zerstörte viele traditionelle israelische Unternehmen, griff tief in die nationale Wirtschaft ein und öffnete sie für die Weltwirtschaft. Ausländische Kapitalanleger erwarben immer größere Anteile an Aktiengesellschaften, die an der Börse von Tel Aviv gehandelt werden. Die Aktien vieler führender israelischer High-Tech-Unternehmen wurden plötzlich an der New Yorker Börse gehandelt und diese Unternehmen auch außerhalb Israels aktiv.

Diese Maßnahmen veränderten auch die soziale Zusammensetzung der israelischen Geschäftswelt. Die Wende zur Internationalisierung zerstörte das frühere Gleichgewicht zwischen Großkapital und militärischem Establishment. Nutznießer war eine neue Elite, die aus dem High-Tech-Sektor, der Informationstechnologie und der Pharmaindustrie kam. Ein Friede Israels mit seinen arabischen Nachbarn hätte die Isolation des Landes beendet und die Aussicht auf viel größere Absatzmöglichkeiten eröffnet, als Israel im Belagerungszustand jemals zu bieten hatte. Doch der Preis für eine größere regionale Rolle und neue Märkte, die Israel zu einer regionalen Wirtschaftsmacht machen konnten, war irgendeine Form von Übereinkunft mit Arafat und den Palästinensern - möglichst ohne einen vollständigen Rückzug aus den Besetzten Gebieten und Jerusalem, den das Völkerrecht und UN-Resolutionen forderten.

Das Abkommen von Oslo 1993 war dieser Preis. Shimon Peres, Führer der Arbeitspartei, erklärte 1992 in einem Zeitungsinterview: "Die ganze Welt ist organisiert wie ein Haus mit zwei Stockwerken: im Erdgeschoss die regionalen Vereinbarungen, im Obergeschoss die multinationalen Unternehmen". Dann wurde er deutlicher: "Wir streben keinen Frieden zwischen Nationen an. Wir wollen Frieden zwischen Märkten."

Mit anderen Worten, denn dies wird gerne vergessen: Hinter all der Rhetorik und dem aufpolierten Image der Arbeitspartei als der Friedenspartei lag das Bestreben Israels, die ökonomisch vorherrschende Macht im Nahen Osten zu werden. Verträge mit einem palästinensischen Mini-Staat sollten einen Zugang zu den Märkten der EU und der arabischen Welt schaffen, gleichzeitig die Palästinenser vom israelischen Arbeitsmarkt ausschließen und in Israel selbst für eine jüdische Bevölkerungsmehrheit sorgen.

Ein derartiger "Friede", der im September 1993 mit großem Pomp auf dem Rasen des Weißen Hauses verkündet wurde, konnte niemals mehr als ein Phantom sein. Die erschreckende soziale Lage der Palästinenser konnte er nicht lindern - und sollte es wohl auch nicht. Israel machte seine Grenzen gegenüber den Palästinensern dicht und ersetzte schlecht bezahlte Palästinenser einfach durch Arbeitskräfte aus Asien. Diese zugewanderten Arbeiter sind billiger und haben sogar noch weniger Rechte als palästinensische Arbeiter. Ihre absolute Zahl erscheint zwar gering, doch im internationalen Vergleich sind sie in Israel relativ am stärksten vertreten. Diese Politik hatte eine große Wirkung, drückte die Löhne und Sozialleistungen in Israel und verschärfte die Armut in Palästina.

Das Osloer Abkommen musste also trotz der Kapitulation der PLO auf Widerstand stoßen.

Hinzu kam, dass das Abkommen in Israel von genau den sozialen Kräften abgelehnt wurde, die durch die Expansion Israels entfesselt worden waren - von den Siedlern und Ultrareligiösen sowie Sharon, Netanyahu und dem Likud. Auf ihr Drängen hin wurde der Siedlungsbau ausgedehnt.

Das Scheitern der Osloer Vereinbarungen, die ab September 2000 folgende Intifada, die Kosten für die militärische Unterdrückung der Palästinenser - gegenwärtig 1,4 Milliarden Dollar jährlich - und die fortdauernde Ausdehnung der Siedlungen waren für das zionistische Kapital und die Arbeitspartei eine einzige Katastrophe. Mit dem Zusammenbruch des Tourismus - Hauptquelle von Deviseneinnahmen und größter Arbeitgeber - und dem massiven Rückgang ausländischer Investitionen stürzte Israel in seine bis dahin tiefste Rezession.

Die Politik des Groß-Israels - Ausdehnung der Siedlungen und mörderischer Krieg gegen die Palästinenser - kam der israelischen Arbeiterklasse teuer zu stehen. Zunächst ernannte Sharon den früheren Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Gouverneur der israelischen Zentralbank und seinen Erzrivalen Netanyahu zum Finanzminister. Gemeinsam führten sie eine ganze Reihe von Markt-"Reformen" durch:

* Privatisierungen,

* Öffnung des israelischen Bankensystems für den Wettbewerb,

* Kürzung sozialer Leistungen wie Arbeitslosengeld, Kindergeld und Versicherungsleistungen sowie Hilfe zum Lebensunterhalt,

* Einfrieren der Sozialleistungen, die ab 2006 nicht mehr an die Löhne, sondern an den Verbraucherpreisindex gekoppelt sein sollen,

* Erhöhung des Rentenalters,

* Senkung der Unternehmenssteuern und der Einkommenssteuer für die Reichen,

* Anti-Gewerkschaftsgesetze, Einschränkungen des Streikrechts und ein Streikverbot im öffentlichen Dienst.

Dieses Maßnahmenbündel sollte weniger das staatliche Defizit verringern als vielmehr die soziale Sicherheit unterhöhlen und "Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt" schaffen. Die Ausgaben für das Militär und die Siedlungen sowie deren Straßen und Infrastruktur wurden erhöht. Diese Maßnahmen stürzten eine wachsende Anzahl von Arbeitern samt ihrer Familien in dauerndes Elend, Arbeitslosigkeit und Armut.

Der Preis dafür, dass die USA grünes Licht für den Landraub Sharons gaben - einschließlich des zusätzlichen Bodens, der durch den Sicherheitszaun an Israel fällt, auch wenn dieser Zaun nun doch nicht so groß wird, wie es Sharon gerne gehabt hätte - bestand darin, dass Sharon nach außen für den Eindruck sorgen musste, einige kleinere Zugeständnisse an die Palästinenser zu machen. So erklärt sich Sharons einseitiger "Abzug" aus dem Gazastreifen, den er gegen den erbitterten Widerstand von Ultranationalisten und religiösen Kräften durchsetzte und für den er von der Weltpresse zum "Mann des Friedens" hochstilisiert wurde.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist der Abzug jedoch tatsächlich Teil eines Plans, die Isolation der Palästinenser zu verstärken und für ihre vollständige Abtrennung von Israel in einem schön geredeten Militärghetto zu sorgen. Die Exporte aus dem Gazastreifen sind um die Hälfte zurückgegangen. Sharon beabsichtigte, den Anteil palästinensischer Arbeitskräfte in Israel drastisch zu reduzieren. Dies führt zwangsläufig zu weiteren Angriffen auf israelische Löhne und Sozialleistungen, wenn Israel auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein will.

Im Gesamtergebnis haben diese Faktoren - eine kleine, nicht lebensfähige und autarke Wirtschaft; das Scheitern der ökonomischen Perspektive, die Oslo zugrunde lag; die Intifada; die Kosten für Militär und Siedlungen; billige ausländische Arbeitskräfte; Arbeitslosigkeit und Einschnitte bei den Sozialleistungen - zu einem starken Rückgang des Lebensstandards von israelischen Arbeitern und ihrer Familien geführt. Der zionistische Traum einer nationalen Heimat für die Juden und vom Ende von Unterdrückung und Verfolgung in Israel hat sich in sein Gegenteil verkehrt.

Werfen wir einen Blick auf die sozialen Verhältnisse in Israel. Zunächst einige Zahlen:

Obwohl sich die wirtschaftliche Lage durch den Rückgang terroristischer Aktivitäten im vergangenen Jahr leicht verbessert hat, liegt die Arbeitslosigkeit bei beinahe neun Prozent.

Der jüngste Bericht der staatlichen israelischen Rentenversicherungsanstalt vom August 2005 zeigt:

* Mehr als 1,5 Millionen Israelis leben unter der Armutsgrenze, das entspricht einem Viertel der Gesamtbevölkerung von 6 Millionen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Zunahme um 119.000.

* 23 Prozent der Rentner leben unter der Armutsgrenze.

* Die Kinderarmut hat seit 1988 um 50 Prozent zugenommen.

* 714.000 Kinder leiden täglich Hunger, das entspricht einem Fünftel aller Minderjährigen in Israel.

Eine Untersuchung aus dem Jahr 2004 kam zu dem schockierenden Ergebnis, dass 40 Prozent der Kinder in Armut, Vernachlässigung und Kriminalität leben und dass sich weitere 30 Prozent an der Grenze zu einem solchen Schicksal befinden. Der Direktor des Nationalen Kinderrates Yitzhak Kadman erklärte: "Die israelische Gesellschaft macht sich was vor, wenn sie in der Vorstellung lebt, dass sie 40 Prozent ihrer Kinder, ihre zukünftigen Bürger, aufgeben kann. [...] Es ist nicht vorstellbar, dass die israelische Gesellschaft in 20 Jahren noch fortbestehen kann, wenn sie auf den spindeldürren Beinchen von 30 Prozent ihrer Kinder steht. Die kriminelle Vernachlässigung eines beträchtlichen Teils der israelischen Kinder, die arm, krank und vernachlässigt leben, wird den Staat auf alle Fälle teuer zu stehen kommen."

* Der Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung fiel von 39 Prozent im Jahr 1970 auf 33 Prozent im Jahr 2002.

* Die durchschnittliche Kinderzahl pro Familie ist konstant gefallen, von 2,7 im Jahr 1980 auf 2,3 im Jahr 2002. Gleichzeitig verdoppelte sich die Zahl der Familien mit Einzelkindern.

* Jährlich werden 50.000 Abtreibungen vorgenommen, vorwiegend aus finanziellen Gründen.

Und all das in einem Land, dessen zukünftige Existenz als Staat eng an die Bevölkerungsentwicklung geknüpft ist.

Über 140.000 Kinder, die in Israel leben, genießen nicht die volle israelische Staatsbürgerschaft.

* 71 Prozent von ihnen leben in Ostjerusalem.

* 29 Prozent sind Kinder von legalen Gastarbeitern in Israel, Immigrantenkinder mit ungeklärtem Status und Kinder aus Ehen zwischen israelischen Arabern und Palästinensern.

Nach einer jüngsten Umfrage stufen sich 80 Prozent der Israelis als "arm" ein.

Der Leiter der Rentenversicherungsanstalt Yohanan Stessmann warnte: "Ohne Sozialleistungen würde die israelische Gesellschaft zerfallen und an den Rand des Bürgerkriegs getrieben." Oppositionspolitiker haben die Scharon-Regierung mit folgenden Worten angegriffen: "Die Armut und Ungleichheit und nicht unsere Nachbarn entwickeln sich zur ernstesten strategischen Bedrohung unseres Landes." Eli Yishai, der Führer der ultraorthodoxen Schas-Partei, sagte: "Die Regierungspolitik untergräbt den gesellschaftlichen Zusammenhalt", und verwies auf die Kürzungen bei der Sozialhilfe und auf Steuersenkungen für die Reichen, die unter Finanzminister Benyamin Netanyahu durchgeführt wurden.

Das Vakuum, das durch den Rückzug der Regierung aus den Sozialleistungen entstanden ist, wird mit Suppenküchen gefüllt. Religiöse Netzwerke und Hilfsorganisationen spenden Nahrung für die Armen. Zehnjährige Kinder werden verhaftet, weil sie vor Hunger Nahrungsmittel stehlen. Es gab Zeitungsberichte über alleinerziehende Mütter in Beer Scheva, deren Bezüge um 40 Prozent gekürzt worden waren und die Supermarktleiter darum baten, ihre Einkaufswagen ohne Bezahlung füllen zu dürfen. Die Manager griffen nicht ein und ließen sie gewähren. "Es sind so viele, wir hindern sie nicht", sagte einer.

Obwohl mehr als 40 Prozent derjenigen, die als arm gelten, erwerbstätig sind, ist die Regierung entschlossen, die Löhne weiter zu senken, um Israel "international konkurrenzfähig" zu machen.

Dies ist der Hintergrund der ständigen Streiks und drohenden Arbeitskämpfe. In vielen Fällen verfolgen die Arbeiter nicht vorrangig das Ziel, die Löhne zu heben und Arbeitsbedingungen zu verbessern, sondern sie wollen schlicht überhaupt ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass städtische und andere Arbeiter des öffentlichen Dienstes, einschließlich Lehrer, monatelang keine Bezahlung erhalten.

Diese wirtschaftlichen und sozialen Zustände erklären unter anderem, weshalb es für die unter solchen Härten leidenden Israelis interessant ist, in eine Siedlung zu ziehen. Die Zentralregierung vergibt durchschnittlich doppelt so viele Gelder pro Kopf an die Regionalverwaltungen in den Besetzten Gebieten. Die Investitionen in den Wohnungsbau liegen um das 5,3fache höher als in Israel.

Ein israelischer Wissenschaftler berichtete, dass nur 50.000 der 450.000 Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem überzeugte Expansionisten sind. Die meisten seien dorthin gezogen "wegen der Lebensqualität, der Steuervorteile und günstigeren Hypotheken. [...] Viele wollen wieder wegziehen, aber niemand wird ihnen die Häuser abkaufen." Nach einer Umfrage der Friedensorganisation Peace Now würde die Mehrheit wegziehen, wenn man ihnen eine Entschädigung böte.

Die jüdische Gesellschaft in Israel ist nicht nur in Arm und Reich gespalten. Sie weist auch zahlreiche ethnische und religiöse Bruchlinien auf. Juden aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika haben die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze, während Juden aus Europa im Allgemeinen besser bezahlt werden. Im Durchschnitt erhalten sie das 1,5fache des Verdienstes derjenigen, die aus dem Nahen Osten oder Nordafrika stammen.

Israel ist auch in religiösen Fragen gespalten, zwischen gläubigen und säkularen Juden. Da die religiösen Autoritäten eine ständig zunehmende Kontrolle über Fragen der Heirat, Scheidung und Reisen am Samstag für sich beanspruchen, können sich säkular orientierte Juden kaum mehr in Jerusalem ansiedeln.

Wenn die Lage schon für den Durchschnittsisraeli furchtbar ist, so ist sie noch schlimmer für arabische Israelis:

* Ihre Durchschnittslöhne betragen weniger als die Hälfte der Löhne, welche die aus Europa stammenden Juden erhalten.

* 42 Prozent der arabischen Familien leben unter der Armutsgrenze.

* Jedes zweite arabische Kind lebt unter Armutsbedingungen, in Bezug auf die Gesamtbevölkerung trifft dies nur auf jedes vierte Kind zu.

* Die Arbeitslosigkeit ist überdurchschnittlich hoch. Während die Arbeitslosigkeit bei Juden zwischen 1996 und 2001 um 53 Prozent anstieg, nahm sie in der gleichen Periode bei den israelischen Arabern um 126 Prozent zu.

* Im Jahr 2003 berichtete die Orr-Kommission über "jahrzehntelange Diskriminierung der israelisch-arabischen Minderheit". Sie stellte fest, dass die etwa eine Million Menschen umfassende Gruppe der arabischen Israelis einem Muster von Vorurteilen, Benachteiligung und Diskriminierung ausgesetzt seien. Es handelt sich bei dieser ethnischen Minderheit um Palästinenser, die zur Zeit der Gründung des israelischen Staates 1948 nicht aus ihrer alten Heimat vertrieben wurden. Gemeinden mit vorwiegend arabischstämmiger Bevölkerung werden finanziell ausgehungert und bekommen keine Industrieförderung durch die Regierung.

* Ihre Bildungseinrichtungen sind viel ärmlicher ausgestattet als entsprechende Einrichtungen für die jüdische Bevölkerung.

* Viele seit Langem existierende Gemeinden werden vom Staat nicht anerkannt, die Bereitstellung aller öffentlichen Dienste wird ihnen verweigert, einschließlich Wasser- und Elektrizitätsversorgung, ihren Häusern droht der Abriss.

* Arabische Israelis werden häufiger Opfer physischer oder verbaler Übergriffe durch Polizei oder Sicherheitsdienste, es wird öfter gegen sie ermittelt und sie werden schneller vor Gericht gestellt.

Das relativ hohe Durchschnittseinkommen in Israel, nach dem das Land zu den 25 Staaten mit den höchsten Einkommen weltweit zählt, vermittelt einen falschen Eindruck: Das Durchschnittseinkommen verdeckt die extreme und ständig ansteigende Ungleichheit innerhalb des Landes.

* Trotz der Rezession 2003 wurden die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung noch reicher.

* 1994 verdienten Spitzenmanager das 30fache des Mindestlohns, 2002 verdienten sie das 36fache.

* Im gleichen Zeitraum stieg ihr Anteil am Gesamteinkommen um 5,6 Prozent, während der Anteil der unteren 80 Prozent der Bevölkerung um 0,4 bis 0,8 Prozent abnahm.

* Das durchschnittliche Jahreseinkommen der obersten 10 Prozent der Haushalte lag bei 42.000 Schekel (NIS), das der ärmsten 10 Prozent bei nur 3.000 NIS. Das bedeutet, dass die reichsten Haushalte über das 14fache dessen verfügten, was den ärmsten als Einkommen zufiel.

* Der Gini-Koeffizient , ein geläufiges Maß zur Erfassung von Einkommensunterschieden liegt bei 0,38. Das bedeutet, dass Israel eine der höchsten Ungleichheitsraten der Welt aufweist. Unter den Industrieländern liegt Israel damit auf Platz 2, direkt hinter den USA.

Wie überall zielen die Streichungen und Reformen, die die Regierung durchführt, auf eine weitere Bereicherung der privilegierten Schichten ab. Der Zerfall der Arbeiterbewegung hat sie von allen Beschränkungen befreit. Während der zionistische Staat im Jahrzehnt nach 1950 ein Niveau an sozialer Gleichheit bot, das mit Schweden vergleichbar war, und ab 1960 bis zum Ende der 1980er Jahre einen Lebensstandard auf Höhe der Industrieländer gewährleistete, blieb von dieser Perspektive nichts als ein Scherbenhaufen übrig. Diese ökonomischen und sozialen Bedingungen haben zu Instabilität und zu schnell wechselnden politischen Allianzen in Israel geführt.

Die politische Lage in Israel

Früher galt das Land als einzige liberale Demokratie in der Nahostregion, doch inzwischen befindet sich das politische Leben in Israel im Stadium fortgeschrittener Fäulnis. In Israel droht die reale Gefahr innerer Unruhen - und zwar nicht nur zwischen Juden und Arabern. Nach dem Krieg von 1967 begann der hauptsächlich von den USA finanzierte Aufstieg ultrareligiöser und nationalistischer Kräfte, die trotz ihrer geringen Zahl eine Schlüsselrolle dabei spielten, die israelische Politik scharf nach rechts zu drücken. Ihr wichtigster politischer Schirmherr war bis vor kurzem Ariel Sharon.

Israels politisches System besteht aus einer Vielzahl politischer Parteien. Sie wechseln regelmäßig ihre Bündnispartner und ständig entstehen neue politische Formationen. Noch nie war die stärkste Partei in der Lage, alleine zu regieren. Koalitionen sind unvermeidlich und dadurch üben die kleinen rechten Parteien einen enormen Einfluss aus.

Während der ersten dreißig Jahre beherrschte die Arbeitspartei die politische Bühne. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung und die Ausdehnung des israelischen Territoriums nach 1967 erforderten aber eine andere Art von Regierung. 1977 kam dann eine rechte Likud-Regierung ins Amt und seit dieser Zeit war der Likud-Block die bestimmende Partei und in nicht weniger als 23 von 29 Jahren an der Regierung beteiligt.

Ruft euch die Ministerpräsidenten des Likud in Erinnerung. Menachem Begin sprengte 1946 als Chef der Terrorgruppe Irgun das britische Hauptquartier im König David Hotel in die Luft und war für das Massaker an 256 palästinensischen Zivilisten in Deir Yassin verantwortlich. Yitzak Shamir, Führer der terroristischen Stern-Bande war für eine ganze Reihe von Terroranschlägen verantwortlich, unter anderem für den Mord am britischen Militärgouverneur Lord Moynes im Jahre 1944. Ariel Sharon ist ein Kriegsverbrecher, dem nie der Prozess gemacht wurde. Ministerpräsident Ehud Barak von der Arbeitspartei ordnete in den 1980ern Mordanschläge auf die PLO-Führung in Tunis an, die ihren Höhepunkt in der Ermordung von Abu Jihad fanden. Kein Land der Erde ist von so vielen berüchtigten Verbrechern regiert und gelenkt worden.

Das israelische Führungspersonal in Politik und Wirtschaft ist tief in Korruption verstrickt. Tel Aviv ist seit einigen Jahrzehnten die führende Stadt für Geldwäsche und das Verschieben von gestohlenen Diamanten. Zwei der größten Wirtschaftskrimis in der israelischen Geschichte - es handelte sich um Geldwäsche und Industriespionage - ereigneten sich im Jahre 2005. Sharon und seine Vorgänger Ehud Barak, Benyamin Netanyahu und Yitzak Rabin standen alle unter dem Verdacht der Bestechlichkeit, aber gegen keinen wurde letztlich Anklage erhoben.

Zu seiner Zeit als Ministerpräsident sah es einmal so aus, als würde Sharon wegen einem Bestechungsfall aus seiner Zeit als Außenminister angeklagt. In diese Geschichte war auch sein Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten Ehud Olmert verwickelt, bis das neu besetzte Justizministerium die Ermittlungen einschlafen ließ. Sharons Sohn steht zudem vor Gericht, weil er als Wahlkampfmanager seines Vaters illegale Spenden angenommen hatte, als 1999 der Kampf um die Führungsposition im Likud entbrannt war.

Nachdem sie kurz und erfolglos versucht hatte, sich als Friedenspartei zu verkaufen, liegt die Perspektive der Arbeitspartei nun in Scherben. Daher überließ sie Sharon und dem Likud die Macht, trat später dann in seine Regierung ein, um die Likud-Koalition zu stützen, und half dabei einen großen Teil des Westjordanlands auf militärischem Wege zu annektieren. Sie gab ihren Segen zu Sharons Palästinenserpolitik - Völkermord und ethnische Säuberung - die an Stelle der Zweistaatenlösung trat, die in dem Osloer Abkommen 1993 festgelegt worden war. Das ist die unausweichliche Logik ihres nationalistischen Programms, das die Arbeitspartei trotz sozialistischer Rhetorik schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts verfolgt.

Diese wirtschaftlichen und sozialen Spannungen haben zu einer politischen Umorientierung geführt. Im vergangenen November führte der Sieg des vorgeblichen "Linken" Amir Peretz über den 82jährigen Shimon Peres im Rennen um die Führung der Arbeitspartei zu einer Neuausrichtung der israelischen Politik. Peretz zog die Minister der Arbeitspartei aus Sharons Kabinett zurück, das schon durch den Rückzug aus dem Gazastreifen schwer unter Druck stand. Dies führte dann zu vorgezogenen Neuwahlen, die für den 28. März festgesetzt wurden.

Peretz konnte sich als Parteiführer durchsetzen, weil er versprach, den Konflikt mit den Palästinensern durch eine Verhandlungslösung zu beenden, und sich um die Interessen israelischen Familien zu kümmern, die Sharons Politik hart getroffen hat. Aber schon bald ließ er seine linke Rhetorik fallen.

In der Palästinenserfrage besteht er inzwischen darauf, dass Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels bleibt, und er lehnt das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge in ihre alte Heimat in Israel ab. Solche Vorbedingungen machen jedoch jede Möglichkeit für eine Übereinkunft mit den Palästinensern zunichte.

In der Sozial- und Wirtschaftspolitik verspricht Peretz nur noch geringfügige Änderungen zur Marktpolitik der Regierung und eine Anhebung des Mindestlohns. "Ich habe nicht vor, den freien Markt und Wettbewerb einzuschränken", erklärte er. "Aber ich beabsichtige, dafür zu sorgen, dass der Markt in Israel den Menschen dient und dass der Wettbewerb fair ist." Mit anderen Worten: Er stellt die grundlegenden Interessen der herrschenden Kapitalistenklasse keineswegs in Frage.

Der Sprecher der Arbeitspartei in Finanzfragen, ein ehemaliger Weltbankökonom, versicherte den internationalen Finanzinstitutionen beim Weltwirtschaftsforum in Davos, dass Israel eine marktwirtschaftliche Politik betreiben und weder die Steuern noch die Staatsschulden erhöhen werde. "Wir werden konkurrenzfähiger sein", sagte er.

Als die Likud-Koalition wegen der Opposition der Siedler und religiösen Parteien gegen den Abzug aus dem Gazastreifen nicht mehr zu halten war, trat Sharon aus dem Likud aus, den er 1977 mitbegründet hatte. Gemeinsam mit vierzehn seiner Likud-Kollegen und einigen führenden Abgeordneten der Arbeitspartei wie Shimon Peres und Haim Ramon gründete er die Kadima-Partei. Bis zu Sharons Schlaganfall wurde allgemein erwartet, dass Kadima die Mehrheit der Sitze im nächsten Parlament gewinnen würde, allerdings nicht genug, um allein zu regieren.

Insoweit Kadima als Zentrumspartei hingestellt wird, belegt dies nur den extrem rechten Charakter der der israelischen Politik. Sie erfüllt eine dreifache Aufgabe.

* Erstens soll sie die Entstehung einer Opposition im eigenen Land gegen die Annexion eines großen Teils des Westjordanlandes und Ostjerusalems verhindern. Sharon Rückzug aus dem Gazastreifen wurde als großes Zugeständnis an die Palästinenser verkauft, um im gleichen Zug mit dem Segen der Vereinigten Staaten die Besetzungen im Westjordanland zu forcieren.

* Zweitens soll sie einen Konsens für Sharons rechte Wirtschafts- und Sozialpolitik aus der Zeit der Likud-Regierung herstellen.

* Drittens soll sie den Einfluss der Siedlerbewegung und der ultrareligiösen Parteien zurückdrängen, die im Likud die Oberhand gewonnen hatten.

Was die Wirtschaft und die internationalen Kommentatoren betrifft, sind diese ultrarechten Kräfte ein Hindernis für die Konsolidierung der Grenzen eines erheblich vergrößerten israelischen Staates, für die Beseitigung der letzten Reste des Sozialstaats und für die rationellere Verwendung der Militärausgaben, von denen ein erheblicher Teil für den Schutz der Siedler aufgewendet wird.

Kadima hat bedeutende Unterstützung beim politischen Establishment Israels und bei der Bush-Regierung gewonnen. Ihre Unterstützung in der Bevölkerung hängt aber davon ab, inwiefern das so genannte Friedenslager die Illusion schüren kann, dass Kadima zur Beendigung des militärischen Konflikts bereit sei. Die liberalen Medien in Israel und das dazugehörige politisches Establishment sind in die Bresche gesprungen, unter ihnen die Architekten von Oslo, Peres und Yossi Beilin, obwohl Sharons "Friedensperspektive" - die auch von seinen Nachfolger in Kadima geteilt wird - darin besteht, die Palästinenser in ein gut bewachtes und verarmtes Getto zu sperren. Kadimas Palästinenserpolitik ist also keineswegs eine Lösung, sondern vielmehr eine Garantie für anhaltende Konflikte mit den Palästinensern, während ihre neoliberale Wirtschaftspolitik innere Unruhen verspricht.

Alles zusammen bedeutet dies, dass die arbeitende Bevölkerung in Israel keine Partei hat, die ihre Interessen vertritt.

In Kürze: Israel ist trotz aller kulturellen Vorteile, der gut ausgebildeten Arbeitskräfte und der massiven Auslandshilfe eine ökonomische und politische Katastrophe und als Land geschlagen mit enormer sozialer Ungleichheit. Die israelische Regierung vertritt nicht die Interessen der Mehrheit des jüdischen Volkes in Israel, ganz zu schweigen von den Juden in aller Welt. Sie ist die politische Vertreterin eines Teils der israelischen Finanzelite, einer korrupten Clique internationaler Gangster, die im Namen ihrer Washingtoner Meister handelt.

Die Zukunft verspricht verschärfte Konflikte innerhalb Israels und mit den Palästinensern. Außerdem bedeutet die Rolle Israels als Unterhändler des US-Imperialismus immer höhere Militärausgaben und Angriffe auf die Nachbarländer, und die Verfolgung der israelischen sowie amerikanischen Interessen werden zunehmend zu politischer und militärischer Instabilität führen wird. Zwar haben die israelischen Arbeiter bisher einen höheren Lebensstandard genossen als ihre arabischen Nachbarn, aber das muss keineswegs so bleiben.

Das alles ist weit von der sicheren ökonomischen Zukunft entfernt, die der zionistische Traum dem jüdischen Volk zu versprechen schien.

Dieser kurze Überblick hat den prinzipiellen Standpunkt bestätigt, den die Vierte Internationale vor 60 Jahren gegenüber der Situation in Palästina eingenommen hat. Die heutige Lage in Israel, Palästina, ja im ganzen Nahen Osten unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was die Vierte Internationale vorausgesagt hat.

Die zentrale Lehre, die wir aus dieser strategischen Erfahrung ziehen müssen, betrifft die entscheidende Verantwortung der Marxisten. Unsere Aufgabe besteht im Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien der Arbeiterklasse als Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die über eine unnachgiebige Stärke und Festigkeit in theoretischen Fragen verfügen und der Arbeiterklasse die Wahrheit sagen.

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