Italien: Der Fall Eluana Englaro

Die Ausbeutung einer persönlichen Tragödie und die politischen Folgen

Im Januar 1992 erlitt Eluana Englaro im Alter von zwanzig Jahren einen schlimmen Autounfall. Er hatte zur Folge, dass sie in einen dauerhaft vegetativen Zustand verfiel. Die Großhirnrinde der jungen Italienerin war zerstört, und ein Jahr später erklärten die Ärzte ihren Zustand übereinstimmend als irreversibel.

In den darauf folgenden 17 Jahren war ihr ganzes Leben auf Nahrungsaufnahme mittels einer Sonde durch die Nase und auf unbewusste motorische Tätigkeiten wie Lippenzittern, Augenöffnen und -schließen und spastische Arm- und Beinbewegungen beschränkt. Sie erhielt frühmorgens einen Einlauf und wurde dann für ein paar Stunden in einen Rollstuhl gesetzt und zum Schutz vor dem Hinausfallen festgezurrt.

Ihr Vater Beppino appellierte mehrmals in einem Offenen Brief an führende Politiker, um die Erlaubnis zu erhalten, seine schwierigste und traurigste Aufgabe auszuführen, nämlich den Wunsch seiner Tochter zu respektieren und dieses Nicht-Leben zu beenden. Nicht ein einziger Politiker gab ihm eine positive Antwort.

Herr Englaro nahm einen langwierigen juristischen Streit auf, der schließlich zur Entscheidung des Mailänder Appellationsgerichts vom Juli 2008 führte und vom italienischen Obersten Gericht im Oktober 2008 bestätigt wurde. Diese Entscheidung erlaubte die Entfernung der Nahrungsmittelsonde.

Die Gerichtsentscheidung stützte sich auf zwei wesentliche Sachverhalte: Erstens kam die Wissenschaft zum Schluss, dass die physische Kondition sich nicht mehr bessern konnte, und zweitens wurde der Nachweis erbracht, dass Eluana, wäre sie bei Bewusstsein gewesen, die Fortsetzung der lebensverlängernden Maßnahmen abgelehnt hätte. Dies hatte sie schon vor dem Unfall ihren Eltern gegenüber klar und deutlich geäußert.

Diese vollkommen vernünftige und menschliche Gerichtsentscheidung löste einen Kreuzzug der Rechten aus, an deren Spitze die Regierung von Silvio Berlusconi und der Vatikan standen. Die Medien sekundierten diesem Kampf gegen das Gericht und gegen Eluanas Vater und bliesen zur Hexenjagd gegen den letzteren. Der Gipfel war der Vorwurf, der Vater bringe seine eigene Tochter um.

Im Oktober 2008 erlitt Eluana einen inneren Blutsturz, und ihr vegetativer Zustand verschlechterte sich weiter. Am 9. Februar dieses Jahres, wenige Tage nach Entfernung der Nahrungsmittelsonde, starb sie.

Unter politisch normalen Umständen würde so eine traurige Begebenheit als Privatsache der Familie betrachtet. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der italienischen herrschenden Kreise, dass diese Tragödie in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt und für ein erbärmliches politisches Manöver benutzt wurde.

Die öffentliche Meinung steht überwiegend auf Seiten des Vaters, und das Mitleid mit dessen schwerer Entscheidung steht in grellem Kontrast zur reaktionären Einstellung der Regierung. Meinungsumfragen zeigen, dass 81 Prozent der Befragten ein Ende der künstlichen Ernährung befürworteten. Die meisten Italiener waren überzeugt, dass Eluanas Eltern jede Möglichkeit ausgeschöpft hatten, um ihre geliebte Tochter zu retten. Für die meisten Italiener wog das Recht, ein Nicht-Leben zu beenden, wie auch die Frage der Lebensqualität weit schwerer als ein unerbittliches Lebenserhaltungsprinzip.

Der Fall Eluana wirft die Frage nach dem verfassungsmäßigen Recht jeder Person auf, ungewollte lebensverlängernde Maßnahmen abzulehnen. Stefano Rodotà, ein Professor für Verfassungsrecht, betont, dass mehrere Urteile auch heute schon den Schutz dieses Rechts bekräftigen, auch ohne ein ausdrücklich formuliertes Gesetz. Er stützt sich in erster Linie auf ein Urteil des Kassationsgerichts vom Oktober 2007, das vollkommen auf den Fall Eluana anwendbar ist. Dieses Urteil verteidigt das Recht einer Person, "medizinische Hilfe abzulehnen und in Würde zu sterben".

Nach dem Berufungsgerichtsurteil vom Juli 2008 entfachten zahlreiche Politiker und katholische Geistliche eine wütende Kampagne mit dem Ziel, aus religiösen Gründen jede passive Sterbehilfe zu verhindern.

Der Vatikan beschuldigte den Vater und den Staat des Mordes an Eluana. Derweil stellte Berlusconi seine Ignoranz und Feindschaft gegen die Wissenschaft unter Beweis, als er erklärte, Eluana sei nicht nur völlig lebendig, sondern sogar noch fähig, ein Kind zur Welt zu bringen.

Der Gouverneur der Lombardei (wo Eluana gepflegt wurde) verfügte in offener Missachtung des Gerichtsurteils, kein Krankenhaus in seiner Region werde die juristische Entscheidung umsetzen. So waren die Eltern gezwungen, Eluana am frühen Morgen des 3. Februar in eine Einrichtung in Udine zu verlegen, wo das Gerichtsurteil durchgeführt und die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden konnten.

Als man Eluana die Nahrungsmittelsonde entfernte, verhängte Berlusconi ein Eildekret, um den Prozess aufzuhalten und die Sonde wieder einzuführen. Gegen dieses Dekret legte Präsident Giorgio Napolitano sein Veto wegen Verfassungswidrigkeit ein. In seiner Antwort an Berlusconi rührte Napolitano an eine wichtige Frage des Verfassungsrechts. Er warf dem Premierminister eine Verletzung der Gewaltenteilung vor. Berlusconi hatte ein Regierungsdekret erlassen, um eine juristische Entscheidung außer Kraft zu setzen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die italienische Verfassung Eluanas Recht und das ihrer Eltern schützt, und dass die große Mehrheit der Bevölkerung in der ethischen Frage einer Meinung war, stellt sich die Frage, warum die Regierung in so aggressiver Weise Eluanas Recht angriff, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden.

Es gibt nur eine Erklärung: Der Staat hat in diese äußerst intime Angelegenheit bewusst eingegriffen, was einen Frontalangriff auf das demokratische Recht auf Privatsphäre darstellt. Indem hier religiöse Standards vor das Recht eines Individuums gestellt werden, wird zudem die Trennung von Kirche und Staat offen zurück gewiesen. Die Gesellschaft läuft Gefahr, in die dunklen Zeiten vor der Aufklärung zurückgeworfen zu werden.

In Berlusconis rechter Regierungskoalition vertrat Gianfranco Fini, der Chef der neofaschistischen Alleanza Nazionale, eine etwas andere Position als der Premierminister. Fini bestand darauf, nur Eluanas Eltern (und somit nicht sie selbst) hätten das Recht, über ihr Leben zu bestimmen.

Eine ähnliche Episode ereignete sich im März 2002 in den Vereinigten Staaten, als die Bush-Regierung und die religiöse Rechte versuchten, den Fall Terri Schiavo auszuschlachten. Terri Schiavo lebte fünfzehn Jahre lang in einem vegetativen Zustand, bis ihr Ehemann nach langem und schwierigem juristischem Kampf ein Gerichtsurteil erreichte, das ihm erlaubte, die lebenserhaltenden Maßnahmen abzubrechen.

Der Fall Terri Schiavo war ein innenpolitisches Ereignis, das den extrem rechten Charakter der Bush-Regierung beleuchtete und sie noch unbeliebter als zuvor machte.

Warum also musste Berlusconi sich unbedingt auf diese unpopuläre Angelegenheit stürzen? Seit Jahren drängt er auf eine Justiz-"Reform", die den Weg für einen autoritären Staat ebnen würde. Darin würde die Exekutive das Parlament (das er mit seiner aktuellen parlamentarischen Mehrheit schon kontrolliert) und die Justiz vollkommen in den Hintergrund drängen. (Siehe: "Italien: Staatspräsident Ciampi stoppt Berlusconis Justizreform")

Unmittelbar nach Napolitanos Veto erklärte Berlusconi seine Absicht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen - eine Erklärung, die er später in der für ihn typischen Weise wieder zurücknahm.

Berlusconi verkörpert die halbkriminelle Neureichenschicht, die für Rechtsstaatlichkeit nur Verachtung übrig hat. Er ist mit einem Vermögen von zehn Milliarden Dollar der reichste Mann Italiens. Sein Medien- und Finanzimperium ist aus Jahrzehnte langen korrupten Deals und Manövern im politischen Establishment entstanden. Seine Mitgliedschaft in der faschistoiden Freimaurerloge Propaganda 2 (oder P2) verschaffte ihm die mächtigen Beziehungen, die oft mit der Mafia in Verbindung gebracht werden, und die seinen unternehmerischen Ambitionen sehr förderlich waren. Er war mit Bettino Craxi befreundet, dem Führer der Sozialistischen Partei Italiens und zweimaligen Premierminister, der später wegen Korruption verurteilt wurde. Diese Freundschaft ermöglichte es Berlusconi schließlich, Italiens erster Medienmogul zu werden.

In diesem Licht betrachtet, ist der Angriff des Premierministers auf die Justiz zweifellos ein Akt des Selbstschutzes. Er konnte bisher zahllosen Prozessen und Gerichtsurteilen ausweichen. Berlusconi hat es geschafft, sich aus jeder gerichtlichen Rechenschaftslegung herauszuhalten, indem er im vergangenen Juli ein Immunitätsgesetz verabschieden ließ, das den vier höchsten staatlichen Würdenträgern "Unantastbarkeit" verlieh. Dies wird nicht für immer dauern, da seine Intrigen in der Bevölkerung große Opposition hervorrufen.

Doch die Sache hat noch einen weiteren Aspekt: Als Medientycoon hat Berlusconi die Möglichkeit, die öffentliche Meinung zu verwirren und einzuschüchtern, um eine gesellschaftlich reaktionäre Politik zu betreiben, und sich so eine Mehrheit für die Einführung autoritärer Maßnahmen zu schaffen. Sein Ziel ist ein Polizeistaat.

Es ist kein Zufall, dass diese Offensive gegen die Verfassung im Kontext einer immer tieferen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise stattfindet. Banken wie Unicredit, Intesa und MPS konnten sich bisher nur dank Kapitalspritzen von arabischen Investoren, hauptsächlich aus Libyen, und staatlichen Bürgschaften, die sich aktuell auf bis zu achtzig Milliarden Euro belaufen könnten, über Wasser halten.

Die Berlusconi-Regierung reagiert auf die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit einer Reihe von repressiven Maßnahmen, die in ihrem so genannten, jüngst vom Senat verabschiedeten, "Sicherheitsgesetz" enthalten sind.

Darin steht, dass Einwanderer, die einen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung stellen, dafür jetzt 80 bis 200 Euro bezahlen müssen. Ärzte sind verpflichtet, "illegale" Migranten zu denunzieren und damit der Abschiebung preiszugeben. Obdachlose müssen sich in einem Personenregister erfassen lassen, und private Bürgerpatrouillen werden legalisiert.

Doch es geht noch weiter. Auf der Grundlage eines reinen Verdachts auf Begünstigung einer "terroristischen Vereinigung" kann die Regierung Moscheen und andere soziale Zentren schließen. Das neue Gesetz hat es auch auf Websites abgesehen, die in den Augen des Innenministers zu einem "kriminellen und illegalen Verhalten" anstiften. Diese Maßnahme zielt eindeutig auf politischen Widerstand ab.

Dieser Angriff auf demokratische Rechte geht Hand in Hand mit einer rechten religiösen Demagogie, die das Ziel hat, die öffentliche Aufmerksamkeit von unpopulären Maßnahmen abzulenken. Beides sind Vorbereitungen auf eine massive Offensive gegen die Arbeiterklasse. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Fall Eluana eine klare und beunruhigend reaktionäre Dimension.

Siehe auch:
Italien: Staatspräsident Ciampi stoppt Berlusconis Justizreform
(23. Dezember 2004)
Rechte Propaganda und wissenschaftliche Tatsachen im Fall Terri Schiavo
( 1. April 2005)
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