60 Jahre Grundgesetz

Vor 60 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz in Kraft. Vier Jahre nach Kriegsende wurde damit im westlichen Teil Deutschlands die Bundesrepublik gegründet. Etwa mehr als vierzig Jahre später trat auch die bisherige DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Heute ist sich das politische Establishment von links bis rechts im Lob auf das Grundgesetz einig. Es habe "Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie" begründet (Oskar Lafontaine, Linkspartei), sei eine "hervorragende Verfassung" (Gregor Gysi, Linkspartei), eine "Erfolgsgeschichte" (Hans-Christian Ströbele; Grüne) oder gar ein "Dokument des Glücks" (Peter Ramsauer, CSU).

Das kann nur als Pfeifen im Walde gedeutet werden. Im Gründungsjahr der Bundesrepublik begann eine Periode relativer wirtschaftlicher, sozialer und politischer Stabilität des Kapitalismus, die heute vorbei ist. Die demokratische und soziale Fassade des deutschen Kapitalismus wird umso lauter wegen ihrer angeblichen Schönheit gepriesen, je mehr Risse und Sprünge sie aufweist und je einsturzgefährdeter sie ist.

Man kann das Grundgesetz nicht losgelöst von seiner Entstehung bewerten.

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war die herrschende Elite Deutschlands durch die größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte vollkommen diskreditiert. Das galt nicht nur für die wenigen Nazi- und Wirtschaftsgrößen, die in Nürnberg vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, sondern auch für die Bankiers und Großunternehmer, die von Krieg, Arisierung und Sklavenarbeit profitiert, für die Offiziere, die den Vernichtungskrieg im Osten durchgeführt, für die Staatsbeamten, Richter und Polizisten, die für "Ordnung" gesorgt, und für die Professoren, die die Ideologie der Nazis verkündet hatten.

Zehntausende waren in die Verbrechen und Gräuel des Naziregimes verstrickt und gingen, bis auf wenige Ausnahmen, unbehelligt und straffrei davon. Mit Beginn des Kalten Krieges wurden sie wieder gebraucht. Das Grundgesetz diente als demokratische Fassade, die ihnen wieder zu Amt und Würden verhalf. Mit der Gründung der Bundesrepublik schwammen sie wieder obenauf.

Das ging allerdings nicht ohne demokratische und soziale Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, in der antikapitalistische und revolutionäre Stimmungen überwogen. Diese Stimmungen waren so stark, dass sich 1947 selbst die CDU gezwungen sah, in ihrem Ahlener Programm für Vergesellschaftung und Wirtschaftsplanung einzutreten.

In die Staatsordnung der Bundesrepublik ging vieles ein, was die Arbeiterbewegung seit hundert Jahren gefordert und sich teilweise schon im Wilhelminischen Reich und der Weimarer Republik erkämpft hatte: In der Verfassung festgeschriebene, einklagbare Menschen- und Bürgerrechte, allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht, Sozialstaatsprinzip. Gegen den erbitterten Widerstand von Kirchen und Konservativen wurde auch die Gleichberechtigung der Frau im Grundgesetz verankert.

Diese demokratischen Zugeständnisse wurden allerdings mit Vorbehalten versehen, die verhindern sollten, dass sich die Bevölkerung direkt in die Politik einmischt. Sie "schlugen sich in Bindungen des Gesetzgebers und Einschränkungen des Wählerwillens nieder, wie sie es wohl in keiner anderen demokratischen Verfassung gibt", wie der Historiker Heinrich August Winkler schreibt. (1)

Das beginnt damit, dass das Grundgesetz dem Volk bis heute niemals zur Abstimmung vorgelegt wurde und, anders als manche Landesverfassungen, außer bei einer Neugliederung des Bundesgebietes grundsätzlich keine Volksabstimmungen vorsieht. Die Gestaltung der Politik wird ausschließlich den im Bundestag vertretenen Parteien vorbehalten. Kleine Parteien mit weniger als fünf Prozent der Stimmen sind vom Parlament ausgeschlossen, und Artikel 21 des Grundgesetzes sieht ausdrücklich die Möglichkeit eines Verbots "verfassungswidriger" Parteien vor.

Im Urteil von 1956, mit dem die KPD verboten und der Marxismus-Leninismus für unvereinbar mit der "Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung" erklärt wurde, erklärte das Bundesverfassungsgericht ganz ausdrücklich, was bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes im Vordergrund stand: "Der Einbau wirksamer rechtlicher Sicherungen dagegen, dass solche politischen Richtungen jemals wieder Einfluss auf den Staat gewinnen könnten, beherrschte das Denken des Verfassungsgebers."

Damit bezogen sich die Karlsruher Richter zwar gleichermaßen auf Nazis wie Kommunisten. In der Praxis waren damit aber zuallererst marxistische und klassenkämpferische Tendenzen gemeint. Im Kampf gegen sie wurde der gesamte Staats- und Justizapparat des Dritten Reiches im Wesentlichen unverändert übernommen. In der Bundesrepublik gab es nie eine "Stunde Null".

Die alten Nazis waren die zuverlässigsten Kräfte bei der Verfolgung und Unterdrückung der politischen Opposition von links und aus der Arbeiterklasse, die unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik begann. Staatsdoktrin war nicht Freiheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat, sondern Antikommunismus.

Mit dem "Adenauer-Erlass" von 1950 genügte die Mitgliedschaft in einer "kommunistischen" Organisation, um aus dem Öffentlichen Dienst entlassen zu werden. Nazis dagegen, mit Ausnahme von Gestapo-Agenten oder als "Haupttäter" eingestuften, erhielten kurz darauf einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung.

Die KPD-Jugendorganisation FDJ wurde bereits 1951 verboten. Im selben Jahr wurde der größte Teil des politischen Strafrechts wiederbelebt und jeder, der tatsächlich oder angeblich politische Kontakte zur DDR oder zur KPD hatte oder die Wiederaufrüstung ablehnte, wurde kriminalisiert. Zugleich beantragte die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot der KPD, dem 1956, fünf Jahre später, entsprochen wurde.

Ihre Kriminalisierung begann jedoch schon vorher. Schon 1950 wurde Mitgliedern der noch legalen KPD die Reisepässe versagt. Kommunistische Studenten wurden nicht zum Universitätsexamen zugelassen. Eltern wurde wegen ihrer politischen Einstellung die Pflegeerlaubnis für Kinder entzogen, Hinterbliebenen die beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge gestrichen, Entschädigungen wegen erlittenen nationalsozialistischen Unrechts wurden verweigert, aberkannt oder zurückgefordert.

Rund 125.000 Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer "verfassungsverräterischen Vereinigung" (später "Verstoß gegen ein Parteienverbot"), "verfassungsverräterischer Zersetzung" u.ä. wurden eingeleitet, weit mehr als die KPD zum Zeitpunkt des Verbots Mitglieder hatte. Rund 7.000 dieser Verfahren führten zur Verurteilung, teils zu mehreren Jahren Zuchthaus. Mitunter werteten Gerichte es als strafverschärfend, dass der Angeklagte schon im Dritten Reich wegen KPD-Mitgliedschaft eingesperrt worden war. Auch ohne Verurteilung führte ein Verfahren in der Regel zum Verlust des Arbeitsplatzes. Journalisten, Redakteure und Herausgeber trafen Berufsverbote, Zeitungen wurden verboten und beschlagnahmt.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seinem Urteil - nach seitenlangen Zitaten marxistischer Klassiker - den "Marxismus-Leninismus", insbesondere den Sturz der Herrschaft des Kapitals, für unvereinbar mit der "Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes". Verboten wurde nicht nur die KPD selbst, sondern auch jede "Ersatzorganisation". Darunter wurde alles verstanden, was deren "Nah-, Teil- oder Fernziele, kürzere oder längere Zeit, örtlich oder überörtlich, offen oder verhüllt, weiterverfolgt oder weiterverfolgen will". In der Folge wurden hunderte weiterer Organisationen verboten.

Das KPD-Verbot sollte den Aufbau der Bundesrepublik auf die Grundlage von Antikommunismus stellen und als Präzedenzfall für die rücksichtslose Verfolgung aller Strömungen dienen, die sich auf den revolutionären Marxismus berufen und den Kapitalismus bekämpfen. All die schönen Grundrechte, die heute so lyrisch gefeiert werden - Freiheit der Person, Berufsfreiheit, Meinungs-, Presse- und Organisationsfreiheit - können sehr schnell Makulatur werden, wenn die herrschenden Kreise das für sie wichtigste Grundrecht überhaupt in Gefahr wähnen: Die Freiheit des Eigentums an den Produktionsmitteln, garantiert in Artikel 14 des Grundgesetzes und dekoriert mit dem Zusatz, es solle "zugleich" dem Gemeinwohl dienen.

Erleichtert wurde das KPD-Verbot durch die Politik der KPD selbst, die sich nach dem Krieg zum freien Handel und zum Privateigentum bekannt hatte und die stalinistischen Verbrechen in der DDR verteidigte, einschließlich der Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953.

Auf die Wirtschaftskrise der 1960er Jahren reagierte die damalige Große Koalition von SPD und CDU/CSU 1968 mit dem Erlass der Notstandsgesetze. Diese ermöglichen bei Bedarf die Einführung einer Diktatur - auf rechtsstaatliche Weise. Diese Gesetze wurden nicht einmal zur Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit gestellt. Wenige Jahre später folgten die Radikalenerlasse der Regierung Willy Brandts (SPD), die ähnlich wie der Adenauer-Erlass Mitglieder linker Organisationen ein Berufsverbot im Öffentlichen Dienst erteilen. Laut Bundesverfassungsgericht verstoßen sie nicht gegen Grundrechte.

Die Erosion demokratischer Grundrechte schreitet seither systematisch fort.

In den 1970er Jahren wurden als Reaktion auf die Terrorakte der RAF (Rote Armee Fraktion) die Grundsätze des fairen Verfahrens in Staatsschutzprozessen drastisch eingeschränkt. Gleiches galt für die Meinungsfreiheit. Ein kritisches Wort konnte ein Strafverfahren wegen "Sympathiewerbung" für die RAF nach sich ziehen.

In den 1990er Jahre wurden die Grundrechte auf politisches Asyl und Unverletzlichkeit der Wohnung weitgehend abgeschafft, mit Unterstützung der SPD und des Bundesverfassungsgerichts. Die Menschenwürde ist laut Artikel 1 des Grundgesetzes angeblich unantastbar. Die Realität sieht für Billiglöhner, Flüchtlinge in Abschiebegefängnissen, Migranten in Ausländer- und anderen Behörden und Arbeitslose in Jobcentern jedoch zumeist anders aus.

Hatte das Bundesverfassungsgericht im KPD-Verbotsurteil die Marxisten noch belehrt, der Staat sei "ein Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung", die "freiheitliche Demokratie" sehe es "als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichendem Lohn zu unterbinden", sorgt der Staat heute mit der Agenda 2010 und Hartz IV für das Gegenteil.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird auch das Folterverbot zunehmend in Frage gestellt. Als der Vizepräsident der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, einem Kindesentführer Folter androhen ließ und dies öffentlich verteidigte, erhielt er prominente Unterstützung aus der Politik, unter anderem von Oskar Lafontaine. Manche Verfassungsrechtler fordern sogar mehr oder weniger ausdrücklich die Zulassung von "Rettungsfolter" im Rahmen der "Terrorismusbekämpfung".

Und während das Grundgesetz angeblich verhindern sollte, dass von Deutschlands Boden je wieder Krieg ausgeht, werden Deutschlands Interessen heute von der Bundeswehr am Hindukusch "verteidigt". Nachdem solche Auslandseinsätze der Bundeswehr jahrzehntelang als unvereinbar mit dem Grundgesetz gegolten hatten, gelangte das Bundesverfassungsgericht plötzlich zur entgegengesetzten Interpretation - ohne dass der Buchstabe der Verfassung deshalb geändert werden musste.

In Deutschland sind demokratische und soziale Rechte und Prinzipien immer nur von der Arbeiterklasse erkämpft und verteidigt worden. Dies hat auch im Grundgesetz seinen Niederschlag gefunden. Die Zeit des Klassenkompromisses ist aber heute vorbei. Während das Grundgesetz mythisch überhöht wird, gerät alles, was es an Fortschritt beinhaltet, unter Beschuss.

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(1) Heinrich August Winkler, "Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom ‚Dritten Reich’ bis zur Wiedervereinigung", München 2000, S.133

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