Die politischen Lehren der Proteste in Thailand

Auch wenn es der Armee vergangene Woche gelungen ist, die regierungsfeindlichen Proteste in den Straßen von Bangkok zu zerschlagen, bleiben die sozialen Spannungen und die ihnen zugrunde liegenden politischen Probleme ungelöst. Früher oder später werden sie in neuer Gestalt wieder aufbrechen.

Nach vier Jahren erbitterter Auseinandersetzungen in Thailands herrschender Klasse riefen die Anhänger des ehemaligen Premierministers Thaksin Shinawatra Mitte März zu den Protesten auf, um ihre Gegner und die Regierung von Premierminister Abhisit Vejjajiva zurückzuschlagen. Die scharfen Spaltungen im politischen Establishment öffneten aber einer breiteren Bewegung die Tür, die von Demonstranten aus dem ländlichen Norden und Nordosten bestimmt war.

Je länger die Demonstrationen andauerten, desto besser gelang es den Bauern, Händlern und kleinen Geschäftsleuten, ihre eigenen Interessen auszudrücken. Die "Rothemden" wiesen auf die Kluft zwischen ihrem Leben und dem Leben der Reichen hin, die in Bangkoks Wirtschaftszentrum arbeiten und leben. Sie forderten die traditionellen Eliten Thailands heraus: die Armee, die Staatsbürokratie und die Monarchie. Diese hatten Thaksin entmachtet, den die Massen in den Wahlen unterstützt hatten, und den sie, wenn auch zu Unrecht, als den Vertreter ihrer Interessen betrachteten.

Die Demonstranten zeigten Mut und Entschlossenheit. Mit kaum mehr als Steinschleudern und Molotow-Cocktails bewaffnet, trieben sie am 10. April Soldaten zurück, die ein Protestlager auflösen wollten. Trotz immer neuen Todesopfern hielten Tausende selbst dann stand, als die Armee sie von der Versorgung abschnitt und Truppen und gepanzerte Fahrzeuge für eine letzte Konfrontation zusammenzog. Als die Armee dann vorrückte, gaben Demonstrantengruppen den Führern der "Rothemden", die sich ergeben hatten, die Schuld. Sie fackelten Gebäude ab, die sie als Symbole von Reichtum und Privilegien betrachteten. Dieses ziellose Randalieren enthüllt aber nur die entscheidende Schwäche der Bewegung: Sie hat weder Programm noch Perspektiven, mit denen sie ihre Interessen tatsächlich durchsetzen könnte.

Die Ereignisse in Bangkok bestätigen überzeugend die Theorie der Permanenten Revolution, die Leo Trotzki vor mehr als einem Jahrhundert ausgearbeitet hatte. Ausgehend von den Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 zog Trotzki weitgehende Schlussfolgerungen. Erstens, dass die Bourgeoisie in rückständigen kapitalistischen Ländern organisch unfähig ist, einen wirklichen Kampf für demokratische Rechte zu führen oder die Interessen der Bauernschaft zu vertreten; zweitens, dass die Bauernschaft keine unabhängige politische Rolle spielen kann und entweder der Bourgeoisie oder der Arbeiterklasse folgt, und drittens, dass die Arbeiterklasse die einzige gesellschaftliche Kraft ist, die die Bauernschaft im Kampf gegen den Zaren anführen kann. Nach der Machteroberung werde die Arbeiterklasse gezwungen sein, das Privateigentum anzugreifen, und sich als integralen Bestandteil der sozialistischen Weltrevolution verstehen. Die Theorie bestand ihren ersten und entscheidenden Test 1917 in der Oktoberrevolution, als in Russland der erste Arbeiterstaat der Welt gegründet wurde.

Vieles hat sich in den letzten 100 Jahren verändert, aber die grundlegende Klassendynamik im überlebten Profitsystem ist gleich geblieben. Weil es keine politisch bewusste Bewegung der Arbeiterklasse gab, strömten die Bauern, Kleineigentümer und Armen vom Land unter dem Banner Thaksins und seiner Vereinten Front für Demokratie und gegen Diktatur (UDD) nach Bangkok. So viel sich Thaksin auch demagogisch über "Demokratie" ausbreitet, so war doch sein Ziel auf vorgezogene Neuwahlen und eine Regierung beschränkt, die seinen Interessen mehr entsprechen würde. Als er selbst an der Regierung war, zeigte er mehrfach seine Verachtung für demokratische Rechte: Journalisten wurden bedroht, in seinem "Anti-Drogenkrieg" wurden Hunderte ohne Prozess umgebracht, und seine Regierung verstärkte das militärische Vorgehen gegen die islamischen Separatisten im Süden.

Der Telekom-Milliardär Thaksin ist genauso wenig in der Lage, die soziale Krise der ländlichen Massen Thailands zu lösen, wie der Oxford-Zögling Abhisit. Thaksins begrenzte Zugeständnisse und die billige Gesundheitsversorgung waren Teil des Programms seiner Regierung, nach der verheerenden asiatischen Finanzkrise von 1997-98 die thailändische Wirtschaft zu stimulieren. Thaksin und die UDD-Führer sind unerschütterliche Verteidiger des kapitalistischen Systems, das die Ursache der finanziellen Unsicherheit und der Verschuldung der Bauern und der kleinen Geschäftsleute ist. Wie nicht anders zu erwarten, hat die UDD die Demonstrationen begrenzt und am Ende abgebrochen, als sich die Konfrontation mit dem Staatsapparat verschärfte, anstatt sie auszuweiten.

Gleichzeitig wurden die sozialen Anliegen der verschiedenen Protestgruppen nie zu einem politischen Programm zusammengefasst, und das war auch gar nicht möglich. Trotzkis wies schon darauf hin, dass die Bauernschaft keine homogene Klasse ist. Ihre oberen Schichten haben Verbindungen zur Bourgeoisie, während ihre unteren Schichten sich mit dem Landproletariat vermischen. Im Unterschied zur Arbeiterklasse, die mit der Ausdehnung des Kapitalismus anwächst, ist diese Klasse von Kleinbesitzern mit der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung langfristig zum Untergang verurteilt. In Thailand ist der Anteil der Bauern von 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Jahre 1980 auf heute 40 Prozent zurückgegangen.

Nur die Arbeiterklasse kann den ländlichen Massen helfen, indem sie das Profitsystem abschafft, das die Quelle ihrer Unterdrückung ist, und finanzielle und technische Hilfestellung leistet. In den jüngsten Ereignissen in Thailand hat die Arbeiterklasse keine unabhängige Rolle gespielt. Wenn Arbeiter an den Protesten teilnahmen, dann taten sie es individuell unter dem Banner der UDD. Gegner des Marxismus werden das zweifellos als weiteren Beweis dafür anführen, dass die Arbeiterklasse keine revolutionäre Klasse sei. Aber die Verwandlung der Arbeiterklasse aus einer ausgebeuteten Masse in eine revolutionäre gesellschaftliche Kraft erfordert vor allem ein Bewusstsein ihrer Klasseninteressen und ist ohne eine Partei unmöglich, die sie ausbildet, mobilisiert und in den Kampf führt. Dass es eine solche Partei in Thailand zurzeit nicht gibt, ist das Erbe der Verrätereien des Stalinismus und seiner Anhängsel, und dieses muss jetzt überwunden werden.

Die stalinistische Bürokratie, die die Arbeiterklasse in der Sowjetunion von der Macht verdrängt hatte, verbreitete das reaktionäre Programm des "Sozialismus in einem Land" und verurteilte Trotzki und den sozialistischen Internationalismus. In Asien holte Stalin die diskreditierte Zwei-Stadien-Theorie wieder hervor, die der nationalen Bourgeoisie eine progressive Rolle zuwies. Das hatte in der chinesischen Revolution katastrophale Folgen. Während Trotzkis Permanente Revolution unter einem Berg von Lügen und Verleumdungen begraben wurde, wurde der banale Bauernradikalismus Mao Zedongs als Marxismus und der Guerillakrieg als Ausweg für Länder wie Thailand präsentiert.

Der Bankrott des Maoismus wird vor allem durch seinen "Erfolg" in China belegt, wo Maos politische Abkömmlinge das Land in ein Billiglohnland für den Weltkapitalismus verwandelt haben. Das Scheitern von maoistischen Guerillaprojekten ist in der ganzen Region zu begutachten. In Thailand wandte sich die inzwischen verschwundene Kommunistische Partei in den 1960er Jahren dem Guerillakrieg zu. In den 1970er Jahren wurden Studenten durch das unruhige politische Klima radikalisiert, das schließlich 1976 mit dem Massaker an der Thammasat-Universität seinen Höhepunkt fand. Die Studenten wurden aber nicht auf die Arbeiterklasse orientiert, sondern auf das Land. Viele wurden dadurch völlig desillusioniert. Die damaligen Maoisten sind inzwischen Teil des thailändischen Establishments geworden. Einige von ihnen sind heute "linke" Berater der UDD, und andere gehören zu ihren Gegnern.

Thailand wird, wie die übrige Welt auch, durch die Krise des globalen Kapitalismus in eine neue Periode revolutionärer Umwälzungen geworfen. Die Proteste in Bangkok sind ein erstes Wetterleuchten der Ereignisse, die die Arbeiterklasse in Thailand und international in den Kampf bringen werden. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts steckte das Proletariat in ganz Asien noch in den Kinderschuhen. Seitdem ist es ungeheuer gewachsen und in globale Produktionsprozesse integriert. Das globale Kapital hat Thailand zum zehntgrößten Autoexporteur der Welt gemacht. Etwa 400.000 Arbeiter arbeiten dort in der Autoindustrie.

Arbeiter und Jugendliche in Thailand stehen vor der Aufgabe, eine politische Partei aufzubauen, die für das Programm des sozialistischen Internationalismus kämpft und die Arbeiterklasse in den bevorstehenden Kämpfen führen kann. Das bedeutet vor allem, Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und die strategischen Schlüsselerfahrungen der Arbeiterklasse in Thailand und international im zwanzigsten Jahrhundert zu studieren. Das ist nur als Teil der trotzkistischen Weltbewegung möglich, des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Siehe auch:
Der Klassenkampf in Thailand
(16. April 2010)
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