Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Teil 3

Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.

VIII. Die deutsche Linke Opposition und der Leninbund

50. In der KPD galt Trotzki nach 1923 als Rechter, weil er sich weigerte, den Parteivorsitzenden Heinrich Brandler zum alleinigen Sündenbock für die Oktoberniederlage zu stempeln. Ruth Fischer und Arkadi Maslow, zwei Vertreter des linken Flügels, die Brandler an der Parteispitze ablösten, waren Anhänger Sinowjews und unterdrückten die Dokumente der Linken Opposition. Erst als sich Sinowjew mit Stalin überwarf und mit der Linken Opposition verbündete, entbrannte auch in der KPD ein heftiger Fraktionskampf. Fischer und Maslow wurden auf Betreiben Moskaus abgelöst und aus der Partei ausgeschlossen. An ihre Stelle trat Ernst Thälmann, der sich zum treuen Erfüllungsgehilfen Stalins entwickelte. Am 1. September 1926 bezogen 700 prominente KPD-Mitglieder in einem Brief öffentlich Stellung für die russische Vereinigte Opposition. Sie wiesen die Theorie des "Sozialismus in einem Land" zurück und forderten eine offene Diskussion über die russische Frage in den Reihen der KPD. Im April 1928 gründeten sie den Leninbund.

51. Trotzkis Unterstützer bildeten im Leninbund die Minderheit. Die Mehrheit, einschließlich des Führers Hugo Urbahns, bestand aus Anhängern Sinowjews. Im Leninbund lebten viele der ultralinken Standpunkte weiter, die die Komintern unter Lenin und Trotzki bekämpft hatte. Er neigte zu kleinbürgerlicher Ungeduld und prinzipienlosen Manövern, stellte nebensächliches Gezänk über Grundsatzfragen und entschied internationale Fragen nach nationalen Kriterien. 1929/30 kam es zum Bruch zwischen dem Leninbund und der Linken Opposition. Als Trotzki den Leninbund offen kritisierte, schloss dieser seine Anhänger aus. Im Mittelpunkt der Differenzen standen der Klassencharakter der Sowjetunion und die internationale Orientierung der Opposition.

52. Der Leninbund vertrat die Auffassung, die Konterrevolution habe in der Sowjetunion bereits gesiegt. Trotzki lehnte diese defätistische Haltung ab, die den Kampf für einen Kurswechsel der KPdSU und der Kommunistischen Internationale von vornherein verloren gab. Er bezeichnete den Wortradikalismus der Urbahns-Gruppe, die Stalins Herrschaft mit der Rückkehr der Bourgeoisie an die Macht gleichsetzte, als "umgedrehten Reformismus". Schon die französische Bourgeoisie habe im Thermidor des Jahres 1794 den Plebejern die Macht nur durch einen Bürgerkrieg entreißen können, schrieb Trotzki, "wie kann man dann annehmen oder glauben, die Macht des russischen Proletariats könne auf friedlichem, ruhigem, unmerklichem, bürokratischem Wege an die Bourgeoisie übergehen?" Er wies darauf hin, dass die wichtigsten Errungenschaften der Oktoberrevolution unangetastet blieben: "Die Produktionsmittel, die einst den Kapitalisten gehörten, sind bis heute in den Händen des Sowjetstaats. Der Boden ist nationalisiert. Die Ausbeuter sind noch immer von den Sowjets und der Armee ausgeschlossen. Das Außenhandelsmonopol bleibt ein Bollwerk gegen die ökonomische Intervention des Kapitalismus." Daraus folgerte Trotzki: "Der Kampf geht weiter, die Klassen haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen." [25] Der Leninbund war der Vorläufer einer ganzen Reihe politischer Tendenzen, deren Abwendung vom Marxismus mit der Weigerung begann, die Sowjetunion - trotz und gegen das stalinistische Regime - als Arbeiterstaat zu verteidigen.

53. Der zweite Streitpunkt mit der Urbahns-Gruppe betraf die Frage des Internationalismus. Sie beurteilte internationale Fragen nach nationalen Gesichtspunkten und tat sich im Kampf gegen Trotzki mit internationalen Gruppierungen zusammen, mit denen sie in keiner grundsätzlichen Frage übereinstimmte. Trotzki bemerkte, ihr "Internationalismus" sei nichts weiter als "die arithmetische Summe nationaler opportunistischer Taktiken". In einem Offenen Brief an die Mitglieder des Leninbunds betonte Trotzki, dass sich die Linke Opposition nur als internationale Organisation entwickeln könne: "Wer glaubt, die Internationale Linke werde irgendwann als Summe nationaler Gruppen Gestalt annehmen und der internationale Zusammenschluss könne daher auf unbestimmte Zeit verschoben werden, bis die nationalen Gruppen ‚erstarkt sind’, schreibt dem internationalen Faktor nur eine zweitrangige Bedeutung zu und beschreitet gerade deshalb den Weg des nationalen Opportunismus. Jedes Land besitzt unbestreitbar große Besonderheiten, aber in unserer Epoche können diese Besonderheiten nur von einem internationalistischen Standpunkt her richtig bewertet und ausgenutzt werden. Andererseits kann nur eine internationale Organisation Träger der internationalen Ideologie sein. Kann jemand ernsthaft glauben, isolierte nationale Oppositionsgruppen, die unter sich gespalten und auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen sind, könnten von sich aus den richtigen Weg finden? Nein, das ist der sichere Weg zur nationalen Degeneration, zum Sektierertum und zum Ruin. Die Internationale Opposition steht vor enorm schwierigen Aufgaben. Nur wenn sie untrennbar miteinander verbunden sind, nur wenn sie auf alle gegenwärtigen Probleme gemeinsame Antworten ausarbeiten, nur wenn sie ihre internationale Plattform entwickeln, nur wenn sie gegenseitig jeden ihrer Schritte überprüfen, das heißt, nur wenn sie sich in einer einzigen internationalen Organisation zusammenschließen, werden die nationalen Gruppen der Opposition ihren historischen Aufgaben gewachsen sein." [26]

54. Die Urbahns-Gruppe rechtfertigte die Ablehnung einer internationalen Disziplin mit ihrem Recht auf innerparteiliche Demokratie. Trotzki wandte sich gegen diesen Versuch, "unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Bürokratismus der Dritten Internationale die Tendenzen und Praktiken der Zweiten Internationale einzuschmuggeln". Er antwortete: "Wir stehen nicht für Demokratie im Allgemeinen, sondern für zentralistische Demokratie. Eben aus diesem Grund stellen wir die nationale Führung über die lokale und die internationale Führung über die nationale. Die revolutionäre Partei hat nichts mit einem Diskussionsclub gemein, zu dem jeder hinkommt wie zu einem Café. Die Partei ist eine Organisation zum Handeln. Die Einheit der Ideen der Partei wird durch demokratische Kanäle gesichert, aber der ideologische Rahmen der Partei muss strikt abgegrenzt werden." Das gelte umso mehr für eine Fraktion, die "durch die engst mögliche Auswahl und Konsolidierung ihrer Gesinnungsgenossen" die Kommunistische Partei und andere Organisationen beeinflussen wolle. "Es wäre fantastisch und absurd, von der Linken Opposition zu verlangen, dass sie zu einer Vereinigung aller möglichen nationaler Gruppen und Grüppchen wird, die unzufrieden, beleidigt und voller Protest sind und nicht wissen, was sie wollen." [27]

55. Die aus dem Leninbund ausgestoßenen Trotzkisten formierten sich im Frühjahr 1930 zur deutschen Linken Opposition. Sie führten einen mutigen politischen Kampf, um den falschen Kurs der Kommunistischen Partei zu korrigieren und den kommunistischen Einfluss in der Arbeiterklasse zu stärken. In einer Grußbotschaft an die erste Reichskonferenz der Linken Opposition im September 1930 wandte sich Trotzki gegen die "grundfalsche Einschätzung", ein Anwachsen des Einflusses der KPD stärke die stalinistische Parteileitung. Das sei "die Grundlage jeder Art ultralinken und pseudolinken Sektierertums". Vielmehr werde "eine wirkliche Radikalisierung der Massen und ein Zustrom von Arbeitern unter das Banner des Kommunismus nicht die Festigung des bürokratischen Apparats, sondern seine Erschütterung, seine Schwächung bedeuten". "Was die Opposition zugrunde richten könnte", warnte Trotzki, sei "die Mentalität einer Winkelgassensekte, die von Schadenfreude und Defätismus lebt, ohne Hoffnung und Perspektiven." [28]

56. Die deutsche Linke Opposition arbeitete unter enormem politischem Druck und großen materiellen Schwierigkeiten. Der schmerzhafte Zerfallsprozess der KPD hatte auch in ihren Reihen Spuren hinterlassen, die sich in heftigen subjektiven Spannungen äußerten und mit destruktiven, bürokratischen Methoden ausgetragen wurden. Trotzki bemühte sich in zahlreichen persönlichen Briefen, diese Konflikte zu überwinden. Im Februar 1931 nahm er schließlich in einem Brief an alle Sektionen der Internationalen Linken Opposition zur Krise der deutschen Linksopposition Stellung. Er führte die Probleme auf die Zerstörung zurück, die "das administrative Verhalten der Epigonen [d.h. der Stalinisten] auf dem Gebiet der Grundsätze, Ideen und Methoden des Marxismus" seit 1923 angerichtet habe. Die Linke Opposition müsse auf einem Boden aufgebaut werden, "der mit den Überbleibseln und Trümmern früherer Zusammenbrüche übersät" sei. In scharfem Ton geißelte Trotzki dann das in der deutschen Sektion vorherrschende Cliquenwesen. "Der Geist der Zirkelmentalität (du für mich und ich für dich) ist die verachtenswürdigste organisatorische Krankheit", schrieb er. "Mit Hilfe dieser Mentalität kann man eine Clique um sich sammeln, aber keine Gruppe von Gesinnungsgenossen." Er wandte sich gegen "das Herumspielen mit Grundsätzen, journalistische Oberflächlichkeit, moralische Laxheit und ‚Pseudounversöhnlichkeit‘ im Namen persönlicher Launen." Nach Trotzkis Auffassung konnte die Krise der deutschen Linksopposition nur mit "aktiver internationaler Hilfe" gelöst werden. Er forderte den sofortigen Stopp aller organisatorischen Vergeltungsmaßnahmen sowie die Einsetzung einer Kontrollkommission und die Vorbereitung einer Parteikonferenz in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Sekretariat. Die Gruppe um Kurt Landau, die in der Berliner Reichsführung die Mehrheit hatte, war nicht bereit, ihre Cliqueninteressen dem Internationalen Sekretariat unterzuordnen. Sie lehnte Trotzkis Brief rundweg ab, schloss ihre Rivalen nach und nach aus und brach schließlich selbst mit der internationalen Organisation. [29]

57. Die Spannungen in der deutschen Linksopposition wurden durch Agenten des stalinistischen Geheimdiensts GPU ausgenutzt und verschärft. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die aus Litauen stammenden Brüder Ruvin und Abraham Sobolevicius, die unter den Parteinamen Roman Well und Adolf Senin eine führende Rolle in der Leipziger Gruppe spielten, die in scharfem Konflikt zur Berliner Gruppe um Kurt Landau stand. Beide arbeiteten damals für die GPU, wie Senin drei Jahrzehnte später vor einem New Yorker Untersuchungsrichter zu Protokoll gab, nachdem er unter dem Namen Jack Soble als sowjetischer Agent enttarnt worden war. Sie betätigten sich sowohl als Informanten wie als Agents provocateurs. So übermittelten sie Trotzki regelmäßig ihre Version der Konflikte in der deutschen Linksopposition und verschafften sich Zugang zu sensiblen Informationen aus seinem Umfeld und dem seines Sohnes Leon Sedov. Als sich die politische Krise in Deutschland Mitte 1932 zuspitzte, bekannten sie sich offen zum stalinistischen Lager und veröffentlichten - zehn Tage vor Hitlers Machtübernahme - eine gefälschte Ausgabe der Zeitung Permanente Revolution, die den Bruch der deutschen Linksopposition mit Trotzki verkündete und von der stalinistischen Presse begeistert aufgegriffen wurde.

58. Trotzki äußerte sich unter dem Titel "Ernste Lehren aus einer unernsten Sache" zum "Fall Well". Er vermutete eine direkte Verbindung zum stalinistischen Geheimdienst, maß dem Fall aber auch eine weitergehende politische Bedeutung zu. Senin und Well, schrieb er, "gehören zu jenem unter der schwankenden Intelligenz und Halbintelligenz ziemlich verbreiteten Typus, für den die Ideen und Prinzipien an zweiter Stelle stehen und an erster die Sorge um die persönliche ‚Unabhängigkeit‘, die auf einem bestimmten Stadium in die Sorge um die persönliche Karriere übergeht." Während es dem Arbeiter schwer falle, sich aus einem Land ins andere zu bewegen, Fremdsprachen zu beherrschen und Artikel zu schreiben, setze sich "der leichtbewegliche Intellektuelle, der weder durch Erfahrungen noch durch Kenntnisse beschwert ist, dafür aber ‚alles‘ und ‚alle‘ kennt, überall anwesend und imstande ist, mit dem linken Fuß Artikel über alles zu schreiben, sich nicht selten der Arbeiterorganisation auf den Hals". Trotzki schloss daraus, die Linke Opposition müsse sich ernsthaft "der Vorbereitung und Schulung neuer Kader aus der proletarischen Jugend" widmen. "Hand in Hand mit dem politischen Kampf" müsse "eine systematische theoretisch-erzieherische Arbeit" über die revolutionäre Konzeption, die Geschichte und die Tradition der Linken Opposition geleistet werden. "Nur auf dieser Grundlage kann man einen wirklichen proletarischen Revolutionär erziehen. Zwei, drei vulgarisierte Losungen wie ‚Massenarbeit‘, demokratischer Zentralismus‘, ‚Einheitsfront‘ usw. - das genügt vielleicht für die Brandlerianer oder für die SAP, aber nicht für uns." [30]

59. Trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche, der wütenden Verfolgung durch die stalinistische KPD-Führung, der zerstörerischen Arbeit stalinistischer Provokateure in ihren Reihen und Unterdrückungsmaßnahmen des bürgerlichen Staats fand die deutsche Linke Opposition beachtliches Gehör. Sie baute Ortsgruppen in mehreren Dutzend Städten auf und gewann Einfluss in Betrieben. Trotzkis Schriften fanden großen Absatz unter Mitgliedern der KDP, der SPD und der SAP. So erreichten die Broschüren Soll der Faschismus wirklich siegen? und Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen 1932 Auflagen von jeweils über 30.000 Stück.

IX. Der Nationalsozialismus und der Holocaust

60. Der Erste Weltkrieg löste keines der Probleme, die ihn verursacht hatten. Europa blieb in verfeindete Mächte gespalten. Der deutsche Imperialismus, der versucht hatte, Europa nach seinen Bedürfnissen neu zu organisieren, war durch den Versailler Vertrag geknebelt, England und Frankreich durch den Krieg ausgeblutet. Die aufsteigende amerikanische Großmacht setzte Europa auf Rationen. Der europäische Kapitalismus litt an ständigen Fieberattacken in Form von Inflation, Börseneinbrüchen, politischen Krisen und Klassenkämpfen. Ihre bösartigste Form fand seine Krankheit im Wachstum des Nationalsozialismus.

61. Der Nationalsozialismus war Ausdruck der reaktionärsten und brutalsten Tendenzen des deutschen Kapitalismus. Das ist der Schlüssel zu seinem Verständnis. Die soziale Zusammensetzung und Psychologie seiner Anhänger kann Hitlers Aufstieg aus einem Wiener Obdachlosenasyl und den Schützengräben des Weltkriegs zum größenwahnsinnigen Diktator nicht erklären. Er verdankte seine Macht der herrschenden Elite, die ihn an die Spitze des Staates setzte. Die Millionenbeträge, die Thyssen, Krupp, Flick und andere Großindustrielle an die NSDAP spendeten, Hitlers Ernennung zum Kanzler durch Hindenburg, die Symbolfigur des Heeres, und schließlich die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien zum Ermächtigungsgesetz legen beredtes Zeugnis ab, dass sich die große Mehrheit der herrschenden Elite hinter Hitler stellte, als alle anderen Mechanismen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse versagten.

62. Was die Nationalsozialisten von den anderen bürgerlichen Parteien unterschied, war ihre Fähigkeit, die Verzweiflung des ruinierten Kleinbürgertums und die Wut des Lumpenproletariats zum Rammbock gegen die organisierte Arbeiterbewegung zu machen und in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen. "Um zu versuchen, einen neuen Ausweg zu finden, muss sich die Bourgeoisie vollends des Drucks der Arbeiterorganisationen entledigen, sie hinwegräumen, zertrümmern, zersplittern", warnte Trotzki 1932. "Hier setzt die historische Funktion des Faschismus ein. Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über das Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen gestürzt zu werden, organisiert und militarisiert sie unter Deckung des offiziellen Staates mit den Mitteln des Finanzkapitals und treibt sie zur Zertrümmerung der proletarischen Organisationen, der revolutionären wie der gemäßigten." [31]

63. Der Nationalsozialismus konnte sich nicht damit begnügen, die Kommunistische Partei zu unterdrücken: "Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei." [32]

64. Die Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung stammten - zumindest bis zu ihrer Machtübernahme - fast ausschließlich aus den Mittelklassen. Sie rekrutierten sich aus den Handwerkern, Krämern, Angestellten und Bauern, denen Krieg, Inflation und Krise den Glauben an den demokratischen Parlamentarismus geraubt hatten und die sich nach Ordnung und einer eisernen Hand sehnten. An der Spitze der Bewegung standen Offiziere und Unteroffiziere des alten Heeres, die sich nicht mit der Niederlage im Weltkrieg abfinden wollten. Das Programm der nationalsozialistischen Bewegung war dagegen alles andere als kleinbürgerlich. Es übersetzte die Grundbedürfnisse des deutschen Imperialismus in die Sprache der Mythologie und der Rassentheorie. Der Traum vom "tausendjährigen Reich" und der Hunger nach "Lebensraum im Osten" verliehen dem Expansionsdrang des deutschen Kapitals Ausdruck, dessen dynamische Produktivkräfte durch das engmaschige Staatensystem Europas erwürgt wurden. Der Rassenwahn tröstete den deutschen Kleinbürger über seine reale Ohnmacht hinweg und bereitete ihn auf den Vernichtungskrieg vor.

65. Selbst der Antisemitismus der Nazis hatte einen rationalen Kern. Die systematische Vernichtung von mehr als sechs Millionen Juden, Sinti und Roma durch Hitlers Regime wird oft als historisch "einzigartig" bezeichnet. Soweit damit das Ausmaß der kriminellen Energie gemeint ist, die systematische, industriell durchorganisierte, unter Einsatz von Teilen des Staatsapparats geplante Massenvernichtung, trifft diese Charakterisierung ohne Zweifel zu. Soll damit aber gesagt werden, der Holocaust sei unerklärlich und keiner historisch-materialistischen Analyse zugänglich, ist sie falsch. Auch wenn die antisemitischen Vorurteile, deren sich Hitler bediente, teilweise auf das Mittelalter zurückgingen, war der Antisemitismus der Nazis ein modernes Phänomen. Er war untrennbar mit der Zerstörung der Arbeiterbewegung und dem Krieg gegen den Sozialismus verbunden.

66. Hitlers eigener Antisemitismus stand in engem Zusammenhang mit seinem Hass auf die sozialistische Bewegung. "Die Arbeiterbewegung stieß ihn nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten", schreibt der Historiker Konrad Heiden. "Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist schürten Adolf Hitlers Antisemitismus." [33] Hitler hatte in Wien persönlich erfahren, dass viele Juden in der Führung der Arbeiterbewegung aktiv waren. Ebenfalls in Wien lernte er die Christlichsoziale Partei Karl Luegers kennen und bewundern, die den Antisemitismus gezielt einsetzte, um einen Keil zwischen die Arbeiterbewegung und das verunsicherte Kleinbürgertum zu treiben. Lueger gewann mit einer Mischung von Antisemitismus und antikapitalistischer Rhetorik eine große Anhängerschaft im kleinen und mittleren Bürgertum und war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien.

67. Völlig abwegig ist die Behauptung, der Holocaust sei das Endprodukt eines in der gesamten deutschen Bevölkerung weit verbreiteten, latenten Antisemitismus, wie sie vor allem der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" vertritt. Die marxistische Arbeiterbewegung hatte den Antisemitismus energisch bekämpft. So konnte die antisemitische christlich-soziale Arbeiterpartei Adolf Stöckers im wilhelminischen Reich keinen Einfluss auf Arbeiter gewinnen, weil sie auf den erbitterten Widerstand der SPD stieß. "Opposition gegen den Antisemitismus war für die Arbeiterbewegung zur Ehrensache geworden", berichtet der Historiker Robert Wistrich. "Die energische Kampagne der deutschen Sozialdemokratie gegen Adolf Stöckers Bewegung in Berlin machte die Arbeiterklasse weitgehend immun gegen den Antisemitismus." [34] Die Zerschlagung von KPD und SPD war die Voraussetzung dafür, dem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Bevor der Begriff KZ zum Synonym für Judenverfolgung und Massenmord wurde, errichteten die Nazis das erste Konzentrationslager in Dachau für die Arbeiterführer. Aber auch danach gab es zahlreiche Fälle von selbstloser Hilfe und Solidarität, die lediglich aufgrund des allgegenwärtigen Terrors der Gestapo keine breitere, organisierte Form annahmen. Das Schicksal der Juden war untrennbar mit dem der sozialistischen Arbeiterbewegung verbunden.

68. Auch nachdem die Nazis die Staatsmacht fest in den Händen hielten, konnten sie ihre mörderischen Phantasien einer rücksichtslosen Ausrottung "des gesamten Juden-, Freimaurer-, Marxisten- und Kirchentums der Welt" noch nicht ungehemmt in die Tat umsetzen. [35] Dazu war der Krieg nötig. Nun verschmolz der Judenmord mit dem Vernichtungskrieg im Osten, der von Anfang an darauf abzielte, die gesamte politische und intellektuelle Führungsschicht der Sowjetunion - den "jüdischen Bolschewismus" in Hitlers Worten - physisch auszurotten, um die deutsche Vorherrschaft für Jahrhunderte zu sichern. Die kaltblütige Ermordung von sechs Millionen Juden war der Höhepunkt eines Vernichtungsfeldzugs, dem in Polen, Osteuropa und der Sowjetunion Millionen Kommunisten, Partisanen, Intellektuelle und einfache Leute zum Opfer fielen. Der barbarische Charakter des Imperialismus, des höchsten Stadiums des Kapitalismus, fand in diesem Vernichtungsfeldzug seinen höchsten Ausdruck.

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Anmerkungen

25) LeoTrotzki, Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition, in: Schriften 1.1, S. 102-103

26) Leon Trotsky, An Open Letter to All Members of the Leninbund, in: Writings of Leon Trotsky (1930), New York 1975, S. 91, 92 (aus dem Englischen)

27) ebd., S. 93-94

28) Leo Trotzki, An die Reichskonferenz der Linken Opposition, in: Schriften über Deutschland, Band 1, Frankfurt 1971, S. 72-74

29) The Crisis in the German Left Opposition, in: Writings of Leon Trotsky (1930-31), New York 1973, S.147, 151, 150

30) Leo Trotzki, Ernste Lehren aus einer unernsten Sache, in: Schriften über Deutschland, Band II, Frankfurt 1971, S. 433, 436

31) Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 69

32) ebd., S. 69

33) Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biografie, Europa Verlag: Zürich . 1936

34) Zitiert in: David North, Antisemitismus, Faschismus und Holocaust. Eine kritische Besprechung des Buchs ‚Hitlers willige Vollstrecker’ von Daniel Goldhagen, Essen 1997, S. 18

35) SS-Führer Heinrich Himmler am 9. November 1938, dem Tag der Reichspogromnacht, zitiert bei Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, 2000 Stuttgart, S. 186

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