Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Teil 6

Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.

XV. Die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus nach Kriegsende

108. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte einen Aufschwung des Klassenkampfs. Antikapitalistische Stimmungen waren in ganz Europa weit verbreitet. In Deutschland lagen Städte und Fabriken in Trümmern. Die bürgerlichen Eliten in Wirtschaft, Staat und Politik waren tief in die Verbrechen des Nazi-Regimes verstrickt, das einen Aggressionskrieg mit 80 Millionen Toten und den größten planmäßigen Völkermord der Weltgeschichte zu verantworten hatte. Die herrschenden Klassen Italiens, Frankreichs und zahlreicher osteuropäischer Länder hatten sich durch ihre Zusammenarbeit mit den Nazis diskreditiert. Die Auffassung, die alte Gesellschaftsordnung habe versagt, war weit verbreitet. Der Zusammenhang zwischen Nazi-Verbrechen und Kapitalismus war derart offensichtlich, dass er sogar in konservativen Parteiprogrammen seinen Niederschlag fand. So bekannte sich das Ahlener Programm der CDU 1947 zur Vergesellschaftung der Bergwerke und zur Planung und Lenkung der Wirtschaft.

109. In dieser Situation spielten das Sowjetregime und sein Netzwerk stalinistischer Parteien die entscheidende Rolle dabei, die Arbeiterklasse von der Machtübernahme abzuhalten. Stalin fürchtete eine sozialistische Revolution in Europa, weil sie auch der sowjetischen Arbeiterklasse neues Vertrauen eingeflößt und sie zum Aufstand gegen sein despotisches Regime ermutigt hätte. Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam verabredeten die Sowjetunion, die USA und Großbritannien die Aufteilung Europas. Deren wichtigste Aufgabe bestand darin, den Klassenkampf zu unterdrücken. In Osteuropa errichtete die Kremlbürokratie eine Reihe von ihr abhängiger "Pufferstaaten" und übernahm selbst die Aufgabe, die Arbeiterklasse in Schach zu halten. In Westeuropa warfen die stalinistischen Parteien ihre gesamte politische Autorität in die Waagschale, um die bürgerliche Herrschaft zu bewahren. In Italien und Frankreich, wo sie an der Spitze bewaffneter Widerstandsbewegungen standen, traten sie den Nachkriegsregierungen Marschall Badoglios und General de Gaulles bei. In Italien erarbeitete KPI-Führer Palmiro Togliatti als Justizminister persönlich ein Gesetz, das die Faschisten amnestierte. In Griechenland, wo ein Bürgerkrieg tobte, verweigerte die Sowjetbürokratie den Aufständischen die dringend benötigte Hilfe und garantierte so den Sieg der Rechten.

110. In Deutschland hatten nur wenige Führungsmitglieder der einst größten Kommunistischen Partei außerhalb der Sowjetunion den Krieg überlebt. Die meisten waren nicht Hitler, sondern Stalin zum Opfer gefallen. Von den mehreren Zehntausend ausländischer Kommunisten, die Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion lebten, entging nach Angaben Leopold Treppers nur jeder Zehnte den stalinistischen Säuberungen. [62] Die bekanntesten Führer der KPD - darunter Heinz Neumann, Hermann Remmele und Hugo Eberlein, der Mitstreiter Rosa Luxemburgs und deutsche Delegierte auf dem ersten Kominternkongress - wurden in Moskau gefoltert, zum Tode verurteilt und erschossen. Ernst Thälmann blieb elf Jahre lang in den Kerkern der Nazis, obwohl Stalin 1939 im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts seine Befreiung hätte erwirken können, und wurde 1944 umgebracht. Wer überlebte, hatte sich Stalin untergeordnet oder seine eigenen Genossen denunziert. Solche Leute führten nun die KPD und (im Falle Herbert Wehners) auch die SPD.

111. Die KPD bekannte sich in ihrem Gründungsaufruf zur "völlig ungehinderten Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums". Die "Gruppe Ulbricht", die mit der Roten Armee aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, um die Leitung der KPD zu übernehmen, löste spontan entstandene antifaschistische Komitees und Betriebsräte auf und ersetzte sie durch Verwaltungen, an denen auch bürgerliche Kräfte beteiligt wurden. "Die Auflösung der Antifaschistischen Komitees war nichts anderes als die Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung", schrieb Wolfgang Leonhard, ein Mitglied der "Gruppe Ulbricht" später. [63]

112. Der Verrat der Stalinisten verschaffte den USA die nötige Atempause, um im kriegszerstörten Westeuropa den Kapitalismus zu stabilisieren. Die USA verfolgten damit zwei Ziele: Die Beschränkung des Machtbereichs der Sowjetunion und die Eröffnung neuer Expansionsmöglichkeiten für das US-Kapital. Ein neues, auf den Dollar gestütztes internationales Währungssystem, der Import fortschrittlicher amerikanischer Produktionsmethoden und der Zufluss von Finanzmitteln aus dem Marshallplan setzten nach anfänglichen Krisenjahren einen starken Wirtschaftsaufschwung in Gang. Die Arbeiterklasse wurde durch einen deutlichen Anstieg des Lebensstandards und den Ausbau des Sozialstaats beschwichtigt. In der Bundesrepublik stiegen die Bruttolöhne zwischen 1950 und 1971 um das Fünffache, bei erheblicher Verkürzung der Arbeitszeit und verbesserten Leistungen der Renten- und Krankenkassen.

113. Die Verbrechen des Stalinismus in Verbindung mit der merklichen Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter verhalfen der Sozialdemokratie und den reformistischen Gewerkschaften zu neuem Einfluss. In Westdeutschland verlor die KPD - insbesondere nach der Niederschlagung des DDR-Aufstands vom 17. Juni 1953 - die Unterstützung, die sie anfangs noch besessen hatte. 1956 wurde sie verboten. Die SPD stieg wieder zur dominierenden Partei in der Arbeiterbewegung auf und rückte gleichzeitig programmatisch weiter nach rechts. Ihr erster Nachkriegsführer Kurt Schumacher "zog aus dem Untergang der Weimarer Republik drei Schlussfolgerungen: Die Sozialdemokraten durften erstens nie wieder Zweifel an ihrer nationalen Gesinnung aufkommen lassen; sie mussten zweitens die Mittelschichten für sich erobern und drittens einen klaren Trennungsstrich zu den von Moskau abhängigen deutschen Kommunisten ziehen." [64] 1959 verabschiedete sich die SPD in Bad Godesberg endgültig von jedem Bezug auf den Marxismus und die Arbeiterklasse. Von nun an bezeichnete sie sich (ebenso wie die CDU) als Volkspartei und nicht mehr als sozialistische Arbeiterpartei.

114. Die Neugründung der Gewerkschaften erfolgte nach dem Krieg unter strikter Kontrolle der Besatzungsmächte. Sie passten ihre Rhetorik zwar der radikalen Stimmung der Arbeiter an; so trat das Gründungsprogramm des DGB 1949 für die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und Banken und für eine gesamtwirtschaftliche Planung ein. Doch in der Praxis beschränkten sie sich auf die Forderung nach Mitbestimmung, die sie zur institutionalisierten Klassenzusammenarbeit entwickelten. Die feste Einbindung der Gewerkschaftsbürokratie in die Leitung großer Konzerne, gesetzlich abgesichert durch Mitbestimmungs- und Betriebsrätegesetz, und ihre enge Zusammenarbeit mit dem Staat wurden zum festen Bestandteil des "Rheinischen Modells", das auf "Betriebsfrieden" und "Sozialpartnerschaft" setzte, um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zu steigern. Organisierten die Gewerkschaften Arbeitskämpfe - wie den 16-wöchigen Metallerstreik in Schleswig-Holstein, der 1956/57 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchsetzte - achteten sie darauf, dass sie die Grundlagen des Kapitalismus in keiner Weise gefährdeten.

115. Im Osten Deutschlands hatte die sowjetische Besatzungsmacht ebenso wie im restlichen Osteuropa ursprünglich nicht beabsichtigt, das kapitalistische Privateigentum zu beseitigen. Sie tat dies lediglich in einigen Schlüsselbereichen. So wurde im Rahmen der Kampagne "Junkerland in Bauernhand" bereits 1945 jeglicher Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos enteignet und einer halben Million Landarbeitern, Umsiedlern und Kleinbauern übergeben. Diese Bodenreform, die äußerst populär war, entzog den ostelbischen Grundbesitzern die materielle Grundlage, die im Wilhelminischen Reich und der Weimarer Republik das Rückgrat der politischen Reaktion und des Militärapparats gebildet hatten. Ansonsten tastete der Kreml das bürgerliche Eigentum nicht systematisch an. Er beteiligte sogar bürgerliche Elemente an den Regierungen Osteuropas, um die Arbeiterklasse in Schach zu halten. Stalin wollte eine Kette von Pufferstaaten errichten, die militärisch und politisch von der Sowjetunion abhängig waren und sie gegen den Westen abschirmten, ohne dass sie das Gesellschaftsmodell der Sowjetunion übernahmen. Hinsichtlich Deutschlands spielte er sogar mit der Option eines gesamtdeutschen, bürgerlichen Staates, der keinem der beiden Machtblöcke angehören sollte.

116. Doch die Stabilisierung Westeuropas, der Beginn des Kalten Krieges und der damit verbundene wirtschaftliche, politische und militärische Druck durchkreuzten diese Pläne. Moskau geriet ab 1948 von zwei Seiten unter Druck. Die Arbeiterklasse rebellierte gegen die wachsende Arbeitshetze und die politische Unterdrückung, mit denen Stalins Statthalter in Osteuropa auf die wirtschaftliche Erstarkung des Westens reagierten. Und diese Statthalter orientierten sich zunehmend am Westen und strebten nach mehr Unabhängigkeit. Moskau reagierte, indem es die bürgerlichen Elemente aus den osteuropäischen Regierungen vertrieb, die Kommunistischen Parteien von "unzuverlässigen Elementen" säuberte, zu umfangreichen Verstaatlichungen überging und Regierungen nach sowjetischem Vorbild errichtete. In diesem Zusammenhang wurde in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

117. Die Verstaatlichungen, zu denen es nun in ganz Osteuropa in großem Umfang kam, waren ein Zugeständnis an die Arbeiterklasse. Der Übergang von Industrie und Banken in Staatshand schuf die Voraussetzung für einen planmäßigen Einsatz der wirtschaftlichen Ressourcen und garantierte der Bevölkerung ein relativ hohes Maß an sozialer Sicherheit. Auf der Grundlage des verstaatlichten Eigentums wurden bis in die siebziger Jahre trotz der willkürlichen Methoden der Bürokratie beachtliche Fortschritte erzielt. So war die Rohstahlerzeugung in der DDR 1953 bereits doppelt so hoch wie vor dem Zweiten Weltkrieg, und 1969 produzierte die DDR mit 17 Millionen Einwohnern mehr Industriegüter als das Deutsche Reich 1936 mit 60 Millionen. Insgesamt wurde die industrielle Produktion zwischen 1950 und 1974 versiebenfacht, obwohl die DDR gegenüber der BRD wegen der umfangreichen Demontage von Industrieanlagen durch die Sowjetunion erheblich benachteiligt war und keinen Zugang zu Geldern aus dem Marshallfonds und zu modernen amerikanischen Produktionstechniken hatte.

118. Doch die Verstaatlichungsmaßnahmen gingen nicht mit einer politischen Stärkung der Arbeiterklasse einher. Im Gegenteil, die stalinistischen Machthaber verschärften die politische Unterdrückung und erhöhten den wirtschaftlichen Druck durch die Einführung von Leistungslöhnen und die Erhöhung der Produktionsnormen. Als Folge brach am 17. Juni 1953 in der DDR der erste proletarische Massenaufstand gegen den Stalinismus aus. Ein Protest von Ostberliner Bauarbeitern gegen Normenerhöhungen entwickelte sich innerhalb von 24 Stunden zu einem Massenstreik, der von sowjetischen Truppen und Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Über hundert Arbeiter wurden erschossen, Teilnehmer und Führer der Streiks zu Hunderten als "konterrevolutionäre Agenten" verhaftet und für Jahre ins Gefängnis geworfen, sechs Streikführer zum Tode verurteilt.

XVI. Die Teilung Deutschlands

119. Die Teilung Deutschlands war sowohl eine wichtige Voraussetzung für die Stabilisierung des europäischen Kapitalismus wie für die Kontrolle der Arbeiterklasse. Die Angst vor einem übermächtigen Deutschland hatte die Geschichte Europas seit 1871 maßgeblich geprägt. Nun war die Bundesrepublik nur noch halb so groß wie das frühere Deutsche Reich, dessen Territorium zu einem Viertel an die Sowjetunion und Polen und zu einem Fünftel an die DDR gefallen war, die Bevölkerungszahl nur wenig höher als die Frankreichs, Großbritanniens oder Italiens. Das war die Voraussetzung für ihre Integration in ein Wirtschaftsbündnis mit den westlichen Nachbarn, das sich schließlich zur Europäischen Union entwickelte. Die deutsche Arbeiterklasse mit ihrer langen marxistischen Tradition wurde durch die Teilung gespalten. In der DDR unterdrückte die SED jede selbständige politische Regung von unten. In der Bundesrepublik verschrieb sich die SPD bedingungslos dem Kapitalismus, schlachtete die Unterdrückung der ostdeutschen Arbeiter propagandistisch aus und schürte den Antikommunismus, erstickte aber gleichzeitig jeden Ansatz zur gemeinsamen Mobilisierung der Arbeiter in Ost und West. So verhinderte sie 1953 ein Übergreifen des DDR-Aufstands auf Westberlin. Als 1956 sowjetische Panzer den Ungarnaufstand erstickten und Westberliner Arbeiter in großen Mengen zum Brandenburger Tor marschierten, hielt Willy Brandt, der frühere SAP-Funktionär und spätere Bundeskanzler, sie persönlich zurück. Beginnend mit Brandts Ostpolitik entwickelten die Spitze der SPD dann enge Beziehungen zur SED, und die Bundesregierung half dem DDR-Regime wiederholt durch Milliardenkredite aus der Klemme.

120. Die herrschende Bürokratie der DDR war sich ihres Gegensatzes zu den sozialistischen Bestrebungen der Arbeiter von Anfang an bewusst. Das äußerte sich unter anderem darin, dass sie die DDR nicht im Namen des Sozialismus gründete. Stattdessen gab sie sich einen betont nationalen Anstrich und versuchte, auch rechte Schichten an sich zu binden. So wurden ehemalige NSDAP-Mitglieder und Offiziere amnestiert und in eine eigens für sie gegründete Partei, die NDPD (National-Demokratische Partei Deutschlands) aufgenommen. Das Gründungsmanifest der Volkskammer trug den Titel "Die nationale Front des demokratischen Deutschland" und erwähnte den Sozialismus als Staatsziel mit keinem Wort. Zwischen 1948 und 1951 schloss die SED Zehntausende alter Kommunisten und Arbeiter, die eine Verbindung zur revolutionären Vergangenheit der KPD oder zur Arbeiterklasse hatten, sowie ehemalige Sozialdemokraten aus ihren Reihen aus und ersetzte sie durch linientreue Apparatschiks. Anfang der fünfziger Jahre bestand das Gros der Parteimitgliedschaft aus Funktionären von Partei, Staat und Wirtschaft. Erst als die Bürokratie ihre Diktatur gefestigt hatte, bekannte sich die SED zur "planmäßigen Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR".

121. Zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft fehlten der DDR aber die elementarsten Voraussetzungen: Arbeiterdemokratie und der Zugang zur Weltwirtschaft. Der Sozialismus konnte nicht "in einem Land" aufgebaut werden, im 17-Millionen-Einwohner-Staat DDR noch weniger als in der wesentlich größeren Sowjetunion. Daran änderten auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Staaten des Ostblocks nichts, die stets der bürokratischen Willkür unterworfen und relativ gering entwickelt blieben. Das Grundproblem der DDR-Wirtschaft trat erst voll in Erscheinung, als sich die wirtschaftliche Lage allmählich verbesserte. Der Aufbau einer hoch entwickelten Industriegesellschaft erforderte Zugang zu den Technologien und zur Arbeitsteilung der Weltwirtschaft. Die Bürokratie versuchte dieses Problem zu lösen, indem sie enge Beziehungen zur BRD anknüpfte. Willy Brandts Ostpolitik verschaffte ihr westliche Kredite und Technologien, während die westdeutsche Industrie neue Absatzmärkte im Osten gewann. Der DDR-Außenhandel mit den kapitalistischen Ländern stieg nun wesentlich schneller als der mit den RGW-Staaten. Ende der 1970er Jahre wickelte die DDR 30 Prozent ihres Handelsverkehrs mit dem Westen ab, davon 10 Prozent mit der Bundesrepublik. Sie wurde in wachsendem Maße zur verlängerten Werkbank der westeuropäischen Industrie. Das führte zu einer merklichen Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung. Der Mangel an Konsumgütern ließ fühlbar nach. Doch mit der Nutzung der Ressourcen der Weltwirtschaft wuchs auch die Abhängigkeit von ihren Schwankungen und Krisen. Die DDR konnte mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht mithalten, die mit dem Einsatz von Computertechnologie und Globalisierung einsetzte. Zwischen 1973 und 1986 verringerte sich ihr Weltmarktanteil am Maschinenexport von 3,9 auf 0,9 Prozent. Ihre Abhängigkeit von westlichen Krediten stieg. Die wirtschaftliche Lage erschien zunehmend aussichtslos.

122. Eine revolutionäre Perspektive für die westdeutsche Arbeiterklasse lehnte die SED stets ab. Sie achtete sorgfältig darauf, die ostdeutschen Arbeiter von den militanten Arbeitskämpfen und Studentenprotesten abzuschotten, die sich ab Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik entwickelten. Auf dem Höhepunkt dieser Proteste wurde 1968 in Absprache zwischen Ost-Berlin und dem Bonner Justizministerium die verbotene KPD unter dem neuen Namen DKP wieder zugelassen. Die DKP, die stets in enger politischer und finanzieller Abhängigkeit von der SED blieb, bekämpfte erbittert revolutionäre Strömungen und gebärdete sich als Ordnertruppe für die Gewerkschaftsbürokratie.

123. Die Bundesrepublik wurde von der offiziellen Propaganda stets als vorbildlicher demokratischer Staat dargestellt. Doch sie war ebenso wenig wie die Weimarer Republik das Ergebnis einer demokratischen Vollendung der bürgerlichen Revolution. Ihre Gründung ging mit der Rehabilitierung der alten Eliten einher, die für den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion benötigt wurden. Nach der Verurteilung einiger führender Nazis in Nürnberg wurde die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern eingestellt, ebenso die Entnazifizierungsmaßnahmen im Staatsapparat. Verurteilte Wirtschaftsmagnaten durften ihr Vermögen behalten und ihre Tätigkeit fortsetzen. Im Justizapparat wurde überhaupt niemand zur Rechenschaft gezogen. In Wirtschaft, Justiz, Behörden und auf den Lehrstühlen der Bundesrepublik fanden sich zahlreiche ehemalige Stützen des Nazi-Regimes wieder.

124. Die Masse der Bevölkerung war von der direkten Mitwirkung an der Gründung des neuen Staats ausgeschlossen. Es gab keine gewählte Konstituante, das Grundgesetz wurde von einem Expertengremium verfasst und von den Länderparlamenten verabschiedet. Eine Volksabstimmung fand nicht statt. Im Grundgesetz finden sich zahlreiche Einschränkungen der Volkssouveränität. Die Tradition des preußischen Obrigkeitsstaats schlug sich "in Bindungen des Gesetzgebers und Einschränkungen des Wählerwillens nieder, wie sie es wohl in keiner anderen demokratischen Verfassung gibt". [65] So können Parteien wegen Verfassungswidrigkeit verboten und Grundrechte verwirkt werden. Bestimmte Grundgesetzartikel besitzen Ewigkeitscharakter, sie dürfen weder vom Volk noch vom Parlament geändert werden. Als Kern der Demokratie gilt nicht der Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür, sondern der Schutz des Staats vor dem Volkswillen. Der Staat verkörpert die "wehrhafte Demokratie" und ist verpflichtet, sich dem Volkswillen zu widersetzen und "Mehrheiten dadurch vor sich selbst (zu) schützen, dass bestimmte unveräußerliche Werte und freiheitssichernde Institutionen ihrem Willen entzogen werden". [66] Gerechtfertigt wurde dies mit der These von der Kollektivschuld des deutschen Volks am Nationalsozialismus.

125. Ihre schärfste Ausprägung fanden die autoritären Tendenzen des Grundgesetzes im KPD-Verbot von 1956 und den Notstandsgesetzen, die CDU/CSU und SPD 1968 auf dem Höhepunkt des französischen Generalstreiks verabschiedeten. Das KPD-Verbot "war ein politisches Urteil, das der antikommunistischen Staatsdoktrin der jungen Bundesrepublik folgte". [67] Das Bundesverfassungsgericht erklärte - nach seitenlangen Zitaten marxistischer Klassiker - den "Marxismus-Leninismus" für unvereinbar mit der "Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" und schuf damit einen Präzedenzfall zur rücksichtslosen Verfolgung aller Strömungen, die sich auf den revolutionären Marxismus berufen und den Kapitalismus bekämpfen. Rund 7.000 KPD-Mitglieder wurden teils zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt. Mitunter werteten Gerichte es strafverschärfend, dass der Angeklagte schon im Dritten Reich wegen KPD-Mitgliedschaft eingesperrt worden war. KPD-Mitglieder erhielten Berufsverbot und bekamen keine Reisepässe, kommunistische Studenten wurden nicht zum Universitätsexamen zugelassen. Eltern wurde wegen ihrer politischen Einstellung die Pflegeerlaubnis für Kinder entzogen, Hinterbliebenen die beamtenrechtlichen Versorgungsbezüge gestrichen, Entschädigungen wegen erlittenen nationalsozialistischen Unrechts wurden verweigert, aberkannt oder zurückgefordert. Die bis heute geltenden Notstandsgesetze geben der Regierung die rechtliche Handhabe, im Kriegs- und Spannungsfall elementare, im Grundgesetz garantierte Grundrechte außer Kraft zu setzen und ein halbdiktatorisches Regime zu errichten.

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Anmerkungen

62) Siehe: Leopold Trepper, Die Wahrheit, München 1975

63) Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955,S. 397

64) Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom ‚Dritten Reich’ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 124

65) Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom ‚Dritten Reich’ bis zur Wiedervereinigung, S. 133

66) ebd.

67) Christoph Seils, Geist der NS-Zeit, ZEIT online, 17. August 2006

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