Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Teil 7

Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.

XVII. Die Gründung des Internationalen Komitees

126. Die Entwicklungen der Nachkriegsjahre stellten die Vierte Internationale vor große politische und theoretische Herausforderungen, die neue revisionistische Tendenzen hervorbrachten. Bereits 1942 veröffentlichte eine Gruppe in die USA emigrierter deutscher Trotzkisten "Drei Thesen zur politischen Situation und den politischen Aufgaben", die extrem pessimistische Schlussfolgerungen aus den Niederlagen der Arbeiterklasse zogen und die Perspektive des Sozialismus auf unabsehbare Zeit abschrieben. Die "Rückschrittler" betrachteten den Nationalsozialismus nicht als Ergebnis des faulenden Kapitalismus, sondern als Geburtsmal eines neuen Gesellschaftssystems, eines "modernen Sklavenstaates", der die geschichtliche Entwicklung der Menschheit um Generationen zurückgeworfen habe. Bevor die sozialistische Revolution wieder auf die Tagesordnung komme, stehe deshalb eine Epoche nationaler demokratischer Revolutionen bevor, in der die Arbeiterklasse auf eine unabhängige politische Rolle verzichten und sich bedingungslos den bürgerlich geführten nationalen Widerstandsbewegungen unterordnen müsse. Die Thesen der Rückschrittler, die viele Parallelen zu den ähnlich pessimistischen Auffassungen der Frankfurter Schule aufwiesen, liefen so auf eine neue Rechtfertigung der Klassenzusammenarbeit in Form der Volksfront hinaus. [68]

127. Während die "Rückschrittler" und ähnliche Strömungen der Vierten Internationale rasch den Rücken kehrten, führte die Entstehung einer opportunistischen Tendenz unter Führung von Michel Pablo und Ernest Mandel 1953 zu ihrer Spaltung. Die orthodoxen Trotzkisten, die sich im Internationalen Komitee organisierten, betrachteten die Nachkriegsstabilisierung als vorübergehende Erscheinung, als Ergebnis des Verrats von Stalinismus und Sozialdemokratie und der daraus resultierenden proletarischen Niederlagen. Sie verteidigten das Programm der Vierten Internationale, suchten nach Mitteln und Wegen, die Arbeiterklasse vom Einfluss der bürokratischen Apparate zu brechen, und bereiteten sie so auf zukünftige Klassenkämpfe vor. Die pablistischen Opportunisten kapitulierten dagegen vor den erstarkten bürokratischen Apparaten. Sie schrieben ihnen eine fortschrittliche Rolle zu und liquidierten das Programm der Vierten Internationale.

128. Die Auseinandersetzung entwickelte sich über die Einschätzung der Staaten, die Ende der 1940er Jahre in Osteuropa entstanden waren. Die Vierte Internationale zögerte lange, die DDR und die anderen so genannten "Volksrepubliken" als Arbeiterstaaten zu bezeichnen. Die Verstaatlichungen an sich reichten für eine solche Definition nicht aus. Ebenso maßgeblich war, wer die Verstaatlichungen zu wessen Gunsten und unter welchen Bedingungen durchgeführt hatte. Schließlich entschied sich die Vierte Internationale für die Bezeichnung "deformierte Arbeiterstaaten". Mit dem Begriff "Arbeiterstaat" anerkannte sie, dass das kapitalistische Privateigentum durch die Enteignung von Großgrund- und Kapitalbesitz beseitigt worden war und dass die so entstandenen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen waren. Doch das Schwergewicht lag auf dem Wort "deformiert". Diese Staaten wiesen von Geburt an Missbildungen auf, die weit schwerer wogen als der mit den Verstaatlichungen verbundene Fortschritt. Ihnen fehlte die wichtigste Voraussetzung einer sozialistischen Gesellschaft - die aktive und demokratische Mitwirkung der Arbeiterklasse. Es gab weder Sowjets noch andere Organe der Arbeiterdemokratie. Die stalinistische Bürokratie, eine privilegierte Kaste, übte faktisch eine Diktatur aus und kontrollierte nicht nur den Staat und sämtliche Parteien, sondern auch die Gewerkschaften. Die Arbeiterklasse verfügte weder über eine politische noch über eine unabhängige gewerkschaftliche Vertretung.

129. Noch schwerer wog der Schaden, den die stalinistischen Verbrechen am sozialistischen Bewusstsein der internationalen Arbeiterklasse anrichteten. Die vom Stalinismus verschuldeten katastrophalen Niederlagen in Deutschland, Spanien und anderen Ländern, die Hinrichtung Zehntausender Kommunisten im Rahmen der Moskauer Prozesse und schließlich die Niederschlagung von Arbeiteraufständen in der DDR, Polen und Ungarn stießen Millionen Arbeiter vom vermeintlichen Kommunismus ab und zurück in die Arme der Sozialdemokratie. "Vom internationalen Standpunkt aus wiegen die Reformen der Sowjetbürokratie - die Angleichung der Pufferzone an die UdSSR - weit weniger schwer als die Schläge, die die Sowjetbürokratie gerade durch ihre Taten in der Pufferzone dem Bewusstsein des Weltproletariats versetzt hat, das sie mit ihrer Politik demoralisiert, verwirrt, fehlleitet und lähmt, so dass es teilweise für die imperialistischen Kampagnen zur Vorbereitung eines neuen Krieges empfänglich wird", stellte die Vierte Internationale im April 1949 fest. "Selbst vom Standpunkt der UdSSR aus gefährden sie die Niederlagen und die Demoralisierung des Weltproletariats, die der Stalinismus verursacht hat, weit mehr, als sie die Festigung der Pufferstaaten stärkt." [69]

130. Doch diese Einschätzung wurde bald in Frage gestellt. Michel Pablo, der damalige Sekretär der Vierten Internationale, betrachtete die deformierten Arbeiterstaaten als Modell für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, der Jahrhunderte dauern werde. An die Stelle des Klassenkampfs zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie stellte er den Konflikt zwischen Imperialismus und Sowjetunion. "Die gesellschaftliche Wirklichkeit besteht für unsere Bewegung im Wesentlichen aus der kapitalistischen Herrschaft und der stalinistischen Welt", [70] schrieb er 1951 und behauptete, ein bevorstehender Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion werde die Form eines weltweiten Bürgerkriegs annehmen und die Sowjetbürokratie zwingen, die Geburtshelferin der sozialen Revolution zu spielen.

131. Diese Perspektive lief auf die Liquidation der Vierten Internationale und ihres Kaders hinaus. Wenn die stalinistische Bürokratie unter dem Druck objektiver Ereignisse zum Werkzeug der sozialistischen Revolution werden konnte, war der Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien überflüssig und sogar hinderlich, dann war es notwendig, "alle organisatorischen Erwägungen betreffs formaler Eigenständigkeit der wirklichen Integration in die Massenbewegung, wie sie sich in jedem Land ausdrückt, unterzuordnen", wie Pablo folgerte. Er zwang ganze Sektionen, sich als unabhängige Organisationen aufzulösen und in stalinistische Parteien einzutreten; eine Taktik, die er als "Entrismus sui generis" bezeichnete. [71]

132. Diese Perspektive übertrugen die Pablisten auch auf die reformistischen Parteien und Gewerkschaften und auf die bürgerlich-nationalistischen Bewegungen in den Kolonialländern. Unter der Führung Ernest Mandels spezialisierte sich das pablistische Vereinigte Sekretariat darauf, theoretische und politische Formeln zu entwickeln, die den bürokratischen Apparaten und anderen nicht-proletarischen Kräften eine revolutionäre Rolle zuschrieben. Es ersetzte den Marxismus durch eine objektivistische Methode, welche die Bedeutung der revolutionären Partei für die Entwicklung der Weltrevolution leugnete: "Der Standpunkt des Objektivismus besteht darin, zu betrachten anstatt praktisch revolutionär zu handeln, zu beobachten anstatt zu kämpfen, zu rechtfertigen, was geschieht, anstatt zu erklären, was getan werden muss. Diese Methode lieferte die theoretische Untermauerung für eine Perspektive, in der der Trotzkismus nicht mehr als die Lehre zur Anleitung der praktischen Tätigkeit der Partei gesehen wurde, die entschlossen ist, die Macht zu erobern und den Verlauf der Geschichte zu ändern, sondern als eine allgemeine Interpretation eines historischen Prozesses, in dessen Verlauf der Sozialismus letztlich unter der Führung nicht-proletarischer Kräfte errichtet wird, die der Vierten Internationale feindlich gegenüberstehen. Insofern dem Trotzkismus überhaupt eine direkte Rolle im Gang der Ereignisse zugeschrieben wurde, dann bestand sie lediglich in einer Art unterbewusstem geistigen Prozess, der unbewusst die Aktivitäten der Stalinisten, Neostalinisten, Halbstalinisten und natürlich der kleinbürgerlichen Nationalisten dieser oder jener Prägung anleitete." [72]

133. Der pablistische Revisionismus stieß innerhalb der Vierten Internationale auf Widerstand. 1952 lehnte die Mehrheit der französischen Sektion Pablos Kurs ab und wurde deshalb mit bürokratischen Methoden ausgeschlossen. 1953 unterzog die amerikanische Socialist Workers Party den pablistischen Revisionismus einer vernichtenden Kritik. SWP-Führer James P. Cannon wandte sich in einem Offenen Brief an alle orthodoxen Trotzkisten der Welt. Er bekräftigte die Grundsätze, auf denen die Vierte Internationale seit ihrer Gründung beruhte, und fasste sie wie folgt zusammen:

"1. Der Todeskampf des kapitalistischen Systems droht, die Zivilisation durch immer schlimmere Depressionen, Weltkriege und barbarische Erscheinungen wie den Faschismus zu zerstören. Die Entwicklung von Atomwaffen unterstreicht heute diese Gefahr auf das Ernsteste und Nachdrücklichste.

2. Der Sturz in den Abgrund kann nur verhindert werden, indem der Kapitalismus weltweit durch eine sozialistische Planwirtschaft ersetzt und so die Spirale des Fortschritts, die der Kapitalismus in seiner Frühzeit in Gang gesetzt hat, wieder aufgenommen wird.

3. Dies kann nur unter der Führung der Arbeiterklasse geschehen, da sie die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse in der Gesellschaft ist. Doch die Arbeiterklasse selbst ist mit einer Krise der Führung konfrontiert, obwohl die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse auf Weltebene noch nie so günstig wie heute dafür waren, dass die Arbeiter den Weg der Machteroberung beschreiten können.

4. Um sich für die Durchsetzung dieses welthistorischen Zieles zu organisieren, muss die Arbeiterklasse in jedem Land eine revolutionäre Partei nach dem Muster, wie es Lenin entwickelt hat, aufbauen; d.h. eine Kampfpartei, die in der Lage ist, Demokratie und Zentralismus dialektisch zu vereinen - Demokratie in der Entscheidungsfindung, Zentralismus bei der Durchführung dieser Beschlüsse; mit einer Führung, die von den einfachen Mitgliedern kontrolliert wird, Mitgliedern, die fähig sind, diszipliniert vorzugehen, auch wenn sie unter Feuer stehen.

5. Das Haupthindernis hierfür ist der Stalinismus, der dadurch, dass er das Ansehen der Oktoberevolution von 1917 in Russland ausnutzt, Arbeiter anzieht, nur um dann später ihr Vertrauen zu missbrauchen und sie entweder in die Arme der Sozialdemokratie, in Apathie oder zurück zu Illusionen über den Kapitalismus zu treiben. Der Preis für diese Verrätereien hat dann das arbeitende Volk zu zahlen, in Form einer Stärkung faschistischer oder monarchistischer Kräfte und durch neue Kriege, die der Kapitalismus hervorbringt und vorbereitet. Seit ihrer Gründung stellte sich die Vierte Internationale als eine ihrer Hauptaufgaben den Sturz des Stalinismus innerhalb und außerhalb der UdSSR.

6. Viele Sektionen der Vierten Internationale sowie Parteien und Gruppen, die mit ihrem Programm sympathisieren, stehen vor der Notwendigkeit einer flexiblen Taktik. Es ist daher umso dringender, dass sie wissen, wie man den Imperialismus und all seine kleinbürgerlichen Agenturen (wie z.B. nationalistische Organisationen und Gewerkschaftsbürokratien) bekämpft, ohne vor dem Stalinismus zu kapitulieren; dass sie umgekehrt wissen, wie man gegen den Stalinismus kämpft (der letzten Ende eine kleinbürgerliche Agentur des Imperialismus ist) ohne vor dem Imperialismus zu kapitulieren." [73]

134. Der Offene Brief verdeutlichte anhand des DDR-Aufstands vom 17. Juni die politischen Konsequenzen des pablistischen Revisionismus. Pablo hatte auf den Aufstand mit der Behauptung reagiert, die Führer der Kommunistischen Parteien würden sich nun gezwungen sehen, "noch weitgehendere und ehrlichere Zugeständnisse zu machen, um nicht Gefahr zu laufen, endgültig die Unterstützung der Massen zu verlieren und noch heftigere Explosionen zu provozieren". Der Offene Brief kommentierte das mit den Worten: "Anstatt klar und deutlich die revolutionären politischen Hoffnungen der aufständischen ostdeutschen Arbeiter zum Ausdruck zu bringen, deckte Pablo die konterrevolutionären stalinistischen Statthalter, die sowjetische Truppen einsetzten, um den Aufstand niederzuschlagen ... Anstatt den Rückzug der sowjetischen Truppen - der einzigen Kraft, die die stalinistische Regierung an der Macht hielt - zu fordern, nährte Pablo die Illusion, die Gauleiter des Kreml würden ‚noch weitergehende und ehrlichere Zugeständnisse’ machen. Hätte Moskau sich eine bessere Unterstützung wünschen können, als es sich daran machte, die enorme Bedeutung jener Ereignisse auf das Ungeheuerlichste zu verfälschen und die aufständischen Arbeiter als ‚Faschisten’ und ‚Agenten des amerikanischen Imperialismus’ zu verleumden und eine Welle brutaler Unterdrückung zu entfesseln." [74]

135. Der Offene Brief gelangte zum Schluss: "Der Graben zwischen Pablos Revisionismus und dem orthodoxen Trotzkismus ist so tief, dass weder ein politischer noch ein organisatorischer Kompromiss möglich ist." Es sei Zeit "dass die orthodox-trotzkistische Mehrheit der Vierten Internationale ihren Willen gegen Pablos Machtanmaßung durchsetzt." Cannons Offener Brief wurde unter anderem von der britischen Sektion und der ausgeschlossenen französischen Mehrheit unterstützt. Er bildete die Grundlage für die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. [75]

XVIII. Die Liquidation der deutschen Sektion durch den Pablismus

136. Trotz blutiger Verfolgung war es den Nationalsozialisten und den Stalinisten während des Zweiten Weltkriegs nicht gelungen, die trotzkistische Bewegung in Deutschland zu zerstören. Unmittelbar nach Kriegsende nahmen die Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) ihre politische Aktivität innerhalb des Landes wieder auf. Allein die Berliner Gruppe umfasste mehr als 50 Mitglieder. Ihr Leiter Oskar Hippe, der das Nazi-Regime in Deutschland überlebt hatte, wurde 1948 von den Stalinisten verhaftet und verbrachte die folgenden acht Jahre in DDR-Gefängnissen. Aber erst der Pablismus liquidierte die deutsche Sektion und unterbrach damit die historische Kontinuität. Das hatte zur Folge, dass in der Studentenbewegung der 60er Jahre kleinbürgerlich und stalinistisch geprägte Strömungen völlig unwidersprochen den Ton angeben konnten. Als der Bund Sozialistischer Arbeiter 1971 als deutsche Sektion des Internationalen Komitees gegründet wurde, gab es innerhalb Deutschlands keinen trotzkistischen Kader mehr.

137. Nach dem Krieg bekämpften die deutschen Trotzkisten die von den Stalinisten vertretene Kollektivschuldthese, die von ihrer eigenen Verantwortung für Hitlers Machtergreifung ablenkte und die Arbeiterklasse für den Faschismus verantwortlich machte. Sie setzten sich für den Aufbau einer neuen revolutionären Partei ein. In einer politischen Plattform der IKD von 1948 hieß es: "Die erste und grundsätzliche Voraussetzung, von der jeder deutsche Sozialist heute ausgehen muss, ist die Erkenntnis, dass sich die Politik der beiden traditionellen ‚Arbeiterparteien’ KPD-SED und SPD in eine auswegslose Sackgasse verrannt hat. Beide Parteien werden in ihrem Handeln nicht von den Klasseninteressen der Arbeiter, sondern von den Großmachtinteressen der Sowjetbürokratie bzw. des westlichen Imperialismus geleitet. Jeder Versuch zu einer ‚Reformierung’ dieser Parteien oder einer von ihnen ist zum Scheitern verurteilt.... Nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes ist die Schaffung einer neuen revolutionären Partei des Proletariats die erste Aufgabe der sozialistischen Politik in Deutschland geworden." [76]

138. Doch die IKD brach bald mit dieser Perspektive. Sie trat für die Gründung eines zentristischen Sammelbeckens ein, oder - wie sie es formulierte - "die Zusammenfassung der unabhängigen linken Gruppen in einer Organisation, die einen für die Arbeiterschaft sichtbaren Faktor darstellt", [77] und schloss sich 1951 mit KPD-Mitgliedern, die den jugoslawischen Staatschef Tito unterstützten, zur Unabhängigen Arbeiterpartei Deutschlands (UAPD) zusammen. Deren Programm beschränkte sich auf reformistische Forderungen und enthielt keinen Hinweis auf den Sozialismus oder auf die Vierte Internationale. Die UAPD brach trotz finanzieller Unterstützung aus Jugoslawien innerhalb weniger Monate zusammen.

139. Nun löste sich die IKD entsprechend Pablos Taktik des Entrismus sui generis in der SPD auf. Sie erklärte ausdrücklich, dass es nicht ihr Ziel sei, innerhalb der SPD für das Programm der Vierten Internationale zu kämpfen: "Im augenblicklichen Stadium der Entwicklung des Massenbewusstseins stehen die programmatischen Diskussionen innerhalb der breiten Organisationen nicht im Vordergrund." Der SPD schrieb die IKD ein revolutionäres Potential zu. Sie werde durch "gesellschaftliche Triebkräfte... unabhängig von dem Willen ihrer derzeitigen Führung in immer schärfere Frontstellung zu dem gesamten Bürgertum" getrieben. Die führenden deutschen Pablisten Georg Jungclas und Jacob Moneta übernahmen in den 1950er und 1960er Jahren wichtige Aufgaben in der SPD- und Gewerkschaftsbürokratie. Sie standen in engem Kontakt zu führenden SPD-Mitgliedern wie Hans-Jügen Wischnewski und Peter von Oertzen. Moneta leitete ab 1962 die einflussreichen Gewerkschaftszeitungen Metall und Der Gewerkschafter. Als die SPD 1961 den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aus der Partei ausschloss, weigerte sich die von den Pablisten kontrollierte Publikation Sozialistische Politik (SOPO), ihn zu verteidigen, weil sie fürchtete, "in die Unvereinbarkeitsbeschlüsse einbezogen und damit ihrer Existenz beraubt" zu werden. [78]

140. Die Pablisten traten erst 1969 - drei Jahre nachdem die SPD in die Große Koalition eingetreten war und sich eine mächtige außerparlamentarische Opposition dagegen entwickelt hatte - mit der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) wieder eigenständig in Erscheinung. Nun passten sie sich völlig an die Führer der Studentenbewegung an. Zu den Redaktionsmitgliedern ihrer Zeitung Was Tun? zählten sie anfangs auch so bekannte SDS-Führer wie Rudi Dutschke, Gaston Salvatore und Günter Amendt. 1986 löste sich die GIM wieder auf. Die Mehrheit schloss sich mit der maoistischen KPD/ML zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) zusammen, eine Minderheit ging zu den Grünen. Nach der deutschen Wiedervereinigung fanden sich die bekanntesten deutschen Pablisten in der PDS wieder und berieten die SED-Nachfolger um Gregor Gysi. Jakob Moneta saß vier Jahre lang im PDS-Vorstand.

XIX. Die Socialist Labour League verteidigt den Trotzkismus

141. Die internationale Stabilisierung des Kapitalismus erweiterte in den 1950er und 60er Jahren den Handlungsspielraum der reformistischen, stalinistischen und bürgerlich-nationalistischen Bewegungen. Soziale Reformen und die Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien nährten die Illusion, durch eine Politik nationaler Reformen ließen sich dauerhafte Errungenschaften erzielen und die Widersprüche des Kapitalismus überwinden. Das Internationale Komitee kämpfte unbeugsam gegen diese Illusionen und den damit verbundenen wachsenden Druck des Revisionismus. Die führende Rolle spielten dabei die britischen Trotzkisten unter der Führung Gerry Healys.

142. 1963 kapitulierte die amerikanische SWP vor dem Pablismus. Sie verwarf die Grundsätze, die sie zehn Jahre zuvor im Offenen Brief verteidigt hatte, und schloss sich mit den Pablisten zum Vereinigten Sekretariat zusammen. Die Wiedervereinigung erfolgte ohne Klärung der Streitfragen von 1953; sie wurden unter Hinweis auf eine "neue Weltrealität" für irrelevant erklärt. Im Vordergrund stand die gemeinsame Einschätzung, dass in Kuba nach der Machtergreifung der bürgerlich-nationalistischen Guerillabewegung Fidel Castros ein Arbeiterstaat entstanden sei. Aus den Verstaatlichungsmaßnahmen des Castro-Regimes zog die SWP den Schluss, dass eine Revolution auch mit "stumpfen Waffen" unter der Führung "unbewusster Marxisten" gemacht werden könne, die dann unter dem Druck objektiver Umstände und ohne aktive Beteiligung der Arbeiterklasse den Sozialismus einführten. Die Bewunderung der SWP für den Castrismus und den Guerillakampf in Lateinamerika ging mit einer Anpassung an die kleinbürgerliche Protestpolitik in den Vereinigten Staaten einher. [79]

143. Die britische Socialist Labour League lehnte diese Auffassung ab. Die Behauptung, kleinbürgerliche Guerillaführer könnten Arbeiterstaaten errichten, ohne dass auch nur ansatzweise Herrschaftsorgane der Arbeiterklasse existieren, stellte die gesamte Perspektive der proletarischen Revolution in Frage. 1961 schrieb die SLL in einem Brief an die SWP: "Ein wesentlicher Bestandteil des revolutionären Marxismus in unserer Epoche ist die Theorie, dass die nationale Bourgeoisie in den unterentwickelten Ländern unfähig ist, den Kapitalismus zu besiegen und einen unabhängigen Nationalstaat zu errichten." Unter Hinweis auf ähnliche Bewegungen in Afrika und Asien fuhr die SLL fort: "Trotzkisten sind nicht dazu da, die Rolle solcher nationalistischer Führer aufzuwerten. Diese verfügen nur deshalb über das Vertrauen der Massen, weil die sozialdemokratischen und besonders die stalinistischen Führungen verraten haben. Daher werden sie zu Puffern zwischen dem Imperialismus und den Arbeiter- und Bauernmassen. Die Möglichkeit wirtschaftlicher Hilfe aus der Sowjetunion versetzt sie oft in die Lage, gegenüber den Imperialisten höher zu pokern. Sie ermöglicht es radikaleren Elementen unter den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führern sogar, imperialistischen Besitz anzugreifen und größere Unterstützung bei den Massen zu gewinnen. Die entscheidende Frage für uns aber ist in jedem Fall, dass die Arbeiterklasse in diesen Ländern durch eine marxistische Partei ihre politische Unabhängigkeit herstellt, die arme Bauernschaft zum Aufbau von Sowjets führt und die notwendigen Verbindungen zur internationalen sozialistischen Revolution erkennt. In keinem Fall sollten Trotzkisten unserer Meinung nach diese Strategie durch die Hoffnung ersetzen, dass die nationalistische Führung sozialistisch werde. Die Befreiung der Arbeiterklasse ist die Aufgabe der Arbeiter selbst." [80]

144. In einem anderen Brief aus demselben Jahr wies die SLL eine Annäherung an die Pablisten kategorisch zurück: "Die größte Gefahr für die revolutionäre Bewegung ist das Liquidatorentum, das sich aus der Kapitulation vor der Stärke des Imperialismus, vor den bürokratischen Apparaten der Arbeiterbewegung oder vor beidem ergibt. Noch unverkennbarer als 1953 vertritt der Pablismus heute diese liquidatorische Tendenz in der internationalen marxistischen Bewegung.... Gerade weil die Möglichkeiten, die sich dem Trotzkismus eröffnen, so gewaltig sind und daher die Notwendigkeit politischer und theoretischer Klarheit so groß ist, müssen wir uns nachdrücklich gegenüber dem Revisionismus in allen seinen Formen abgrenzen. Es ist an der Zeit, die Periode zu beenden, in der der pablistische Revisionismus als eine Strömung innerhalb des Trotzkismus betrachtet wurde. Wenn wir das nicht tun, können wir uns nicht für die revolutionären Kämpfe rüsten, die jetzt beginnen." [81]

145. Nur ein Jahr nach der Vereinigung der SWP mit den Pablisten bestätigten sich die Warnungen der SLL in Ceylon (Sri Lanka). Mit der Lanka Sama Samaja Party (LSSP) beteiligte sich dort 1964 erstmals eine trotzkistische Partei an einer bürgerlichen Koalitionsregierung. Die LSSP, die vorher auch unter tamilischen Arbeitern viel Unterstützung genossen hatte, beugte sich dem singhalesischen Chauvinismus und leitete so die verhängnisvolle Entwicklung ein, die zum dreißigjährigen Bürgerkrieg mit fast 100.000 Opfern führte. Das pablistische Vereinigte Sekretariat war für diesen Verrat mitverantwortlich. Es hatte eine Diskussion über den opportunistischen Kurs der LSSP systematisch unterdrückt.

146. Der beharrliche Kampf, den die britischen Trotzkisten gegen die Vereinigung der SWP mit den Pablisten führten, bereitete den Boden für die Gründung der amerikanischen Workers League (WL) und der srilankischen Revolutionary Communist League (RCL). Die Workers League ging aus einer Minderheitsfraktion hervor, die von 1961 bis 1964 unter der Führung von Tim Wohlforth innerhalb der SWP gegen deren wachsenden Opportunismus kämpfte. Sie arbeitete eng mit der britischen SLL zusammen und bemühte sich auf deren Rat, die zentralen Fragen der internationalen Perspektiven zu klären und Fraktionskonflikte über zweitrangige politische Differenzen und Organisationsfragen zu vermeiden. Auch nach dem Vereinigungskongress von 1963 strebte sie weiterhin eine prinzipielle politische Diskussion innerhalb der SWP an. Die Ereignisse in Ceylon spitzten den Konflikt in der SWP jedoch enorm zu. Die Minderheit wurde ausgeschlossen, nachdem sie in einem Brief an die SWP-Mitgliedschaft eine Diskussion über die Hintergründe des Verrats der LSSP gefordert hatte. Sie bildete das Amerikanische Komitee der Vierten Internationale (ACFI) und gründete im November 1966 die Workers League. In Ceylon führte Gerry Healy persönlich eine politische Offensive gegen den Verrat der LSSP. Sie fand unter den besten Teilen der studentischen Jugend Resonanz, die 1968 nach einem mehrjährigen politischen Klärungsprozess die Revolutionary Communist League gründeten, mit Keerthi Balasuriya als Generalsekretär. Aufgrund seines langjährigen Kampfs gegen den pablistischen Opportunismus war der Kader der WL und der RCL in den historischen Prinzipien der Vierte Internationale verankert. Im Kampf gegen die Degeneration der britischen Sektion, die 1985/86 mit dem Internationalen Komitee brach, sollte sich dies als entscheidend erweisen.

<- Teil 1 | Fortsetzung ->

Anmerkungen

68) Zu den Auffassungen der Frankfurter Schule siehe Punkt 175; zu den "Rückschrittlern": David North, Das Erbe, das wir verteidigen, Essen 1988, S. 106-112

69) ebd., S. 162-163

70) ebd., S. 187

71) ebd., S. 195

72) ebd., S. 191

73) ebd., S. 231-232

74) ebd., S. 234-235

75) ebd., S. 240

76) Georg Jungclas 1902-1975. Eine politische Dokumentation, S. 150-151

77) ebd., S. 156

78) ebd., S. 175, 190, 253

79) Siehe: David North, Das Erbe, das wir verteidigen,,Kapitel 20 ff.

80) Zitiert in: ebd., S. 371-372

81) ebd., S. 369-370

Loading