Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Teil 10

Die Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit wurden am 23. Mai 2010 von einem Bundesparteitag der PSG nach ausführlicher Diskussion einstimmig verabschiedet. Wir veröffentlichen das Dokument in 11 Teilen. Es kann auch als Ganzes im PDF-Format heruntergeladen werden und wird demnächst als Buch erscheinen.

XXV. Das Ende der DDR und der Sowjetunion

199. Im selben Jahr, in dem die WRP zusammenbrach, berief die Kommunistische Partei der Sowjetunion Michael Gorbatschow zu ihrem Generalsekretär. Obwohl zwischen den beiden Ereignissen kein offensichtlicher Zusammenhang bestand, waren sie inhaltlich eng miteinander verbunden. Die Globalisierung der Produktion hatte dem stalinistischen Programm des "Sozialismus in einem Land" den Boden entzogen und in der Sowjetunion eine tiefe gesellschaftliche Krise ausgelöst. Gorbatschow leitete Reformen ein, die innerhalb weniger Jahre zur Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und der Sowjetunion führten. Er reagierte damit auf eine lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation und wachsender sozialer Spannungen. Vor allem die Solidarnosc-Bewegung in Polen hatte den Machthabern in Moskau einen Schreck eingejagt und Befürchtungen über ähnliche Entwicklungen in der Sowjetunion geweckt. Durch eine begrenzte Ausweitung der Freiheiten im Inland (Glasnost) und Wirtschaftsreformen (Perestroika) versuchte Gorbatschow einer Offensive der Arbeiterklasse zuvorzukommen, indem er die Weichen in Richtung kapitalistische Restauration stellte. Er baute dabei auf die Desorientierung der Arbeiter durch Jahrzehnte stalinistischer Herrschaft und auf die Unterstützung kleinbürgerlicher Oppositioneller.

200. Die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und der Sowjetunion bestätigte Trotzkis Warnung, dass die größte Gefahr für die Errungenschaften der Oktoberrevolution von der stalinistischen Bürokratie ausging. 1938 hatte er geschrieben: "Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus." [109] Die stalinistische Bürokratie vollbrachte, was vorher weder weißen Truppen, noch deutschen Panzern, noch amerikanischen Raketen gelungen war: 74 Jahre nach der Oktoberrevolution liquidierte sie die Eigentumsverhältnisse, die durch eine der größten Volkserhebungen der Weltgeschichte entstanden waren. Die Folgen der kapitalistischen Restauration waren für die Masse der Bevölkerung katastrophal. Während sich eine kleine Schicht alter Bürokraten und neuer Kapitalisten des staatlichen Eigentums bemächtigte und fabelhaft bereicherte, wurden Fabriken und ganze Industrien stillgelegt, gesamte Landstriche entvölkert und das einst gut ausgebaute Erziehungs-, Gesundheits-, Renten- und Sozialsystem zerschlagen.

201. Die Auseinandersetzung mit der WRP hatte das Internationale Komitee auf diese Entwicklung vorbereitet. Im März 1987, als westliche Politiker, bürgerliche Journalisten, pablistische Revisionisten und die Renegaten der WRP einhellig für Gorbatschow schwärmten, veröffentlichte es eine ausführliche Erklärung, die ohne Umschweife feststellte: "Die von Gorbatschow vorgeschlagenen Veränderungen befinden sich in völliger Übereinstimmung ... mit dem Charakter der stalinistischen Bürokratie als einer konterrevolutionären Agentur des Weltimperialismus. Der Kern dieser ‚Reformen‘ ist eine weitere Unterhöhlung der Errungenschaften der Oktoberrevolution - der verstaatlichten Eigentumsverhältnisse, des staatlichen Außenhandelsmonopols und der Existenz der Arbeiterstaaten selbst. Mit der wachsenden Opposition der Arbeiterklasse gegen die verknöcherte bürokratische Kaste konfrontiert, geht Gorbatschow gegen ihre schlimmsten Exzesse vom Standpunkt der Verteidigung der Bürokratie als ganzer gegen das sowjetische Proletariat vor. Im Gegensatz zu allen Stalinisten, kleinbürgerlichen Radikalen Pazifisten, Reformisten und Revisionisten aller Schattierungen, die heute den ‚demokratischen‘ Gorbatschow preisen - wie ihre Vorgänger das Loblied Stalins sangen - bleibt das Internationale Komitee der Vierten Internationale der unversöhnliche Gegner der Bürokratie." [110]

202. 1989 mündeten die wachsenden sozialen Spannungen in eine Welle von Massenprotesten, die ganz Osteuropa erfassten und die stalinistischen Regime wie Dominosteine umkippen ließen. Das Jahr begann mit der Legalisierung von Solidarnosc in Warschau und endete mit der Erschießung Ceausescus in Bukarest. Dazwischen, am 9. November, fiel die Berliner Mauer. An den Protesten beteiligten sich breite Bevölkerungsschichten, darunter viele Arbeiter. Sie artikulierten die weit verbreitete Opposition gegen die herrschende Bürokratie. Alle Enttäuschungen und Demütigungen, die die Masse der Bevölkerung hatte schlucken müssen, die angestaute Wut und Unzufriedenheit machten sich Luft. Das Internationale Komitee griff massiv in diese Entwicklung ein. Es begrüßte die Massendemonstrationen, betonte aber, dass eine Lösung der Krise im Interesse der Arbeiterklasse nur auf der Grundlage einer internationalen sozialistischen Perspektive möglich sei.

203. Am 13. November 1989, vier Tage nach dem Mauerfall, erklärte David North in einer Rede vor dem Historischen Archivinstitut Moskau den Gegensatz zwischen der Perspektive von Gorbatschow und jener der Arbeiterklasse: "Was wir heute in der Sowjetunion sehen, ist der völlige Zusammenbruch der bankrotten Politik des Sozialismus in einem Land. Die Behauptung, der Sozialismus könne innerhalb der staatlichen Grenzen der UdSSR aufgebaut werden, ist völlig diskreditiert worden. ... Aber die Frage ist: Wie kann die Sowjetunion Zugang zum Weltmarkt finden, zu der internationalen Arbeitsteilung und entwickelter Technologie? Wir glauben, dass es nur zwei Wege gibt: einmal durch die Integration der Sowjetunion in die Struktur des Weltimperialismus ... Der andere Weg ist der vereinte internationale Kampf der Arbeiterklasse. ... Nach Meinung des Internationalen Komitees zielt die Politik der gegenwärtigen sowjetischen Regierung auf die Integration der Sowjetunion in die Struktur des Weltimperialismus ab. ... Ihr müsst verstehen, dass die Sowjetbürokratie die Arbeiterklasse weit mehr fürchtet als den Imperialismus. Aus diesem Grund strebt sie danach, immer engere wirtschaftliche und politische Verbindungen mit den Imperialisten gegen die Arbeiterklasse zu schaffen." [111]

204. Als das DDR-Regime zu wanken begann, griff der Bund Sozialistischer Arbeiter energisch ein. Vor 1989 hatte er in der DDR wegen der wütenden Verfolgung des Trotzkismus keine Arbeit leisten können. Nun verbreitete er Flugblätter und Zeitungen in hoher Auflage und nahm im März 1990 mit eigenen Kandidaten an der letzten Volkskammerwahl teil. Er trat als einzige politische Tendenz für die bedingungslose Verteidigung aller Errungenschaften der Arbeiterklasse ein, ohne dabei vor dem Stalinismus zu kapitulieren. In dem Programm, das er während der Volkskammerwahl verbreitete, heißt es: "Die Arbeiterklasse steht am Scheideweg: Kapitalismus oder Sozialismus. Entweder die Imperialisten führen in Zusammenarbeit mit den Regimes von Gorbatschow, Mazowiecki, Modrow, Nemeth, Calfa und Iliescu in Osteuropa den Kapitalismus wieder ein - was, wie bereits in Polen, zu einer drastischen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse führt. Oder die Arbeiterklasse führt die politische Revolution zu Ende, stürzt die stalinistische Bürokratie, nimmt die Macht in die eigenen Hände und baut eine wirkliche sozialistische Gesellschaft auf." [112]

205. Ungeachtet taktischer Differenzen mit Gorbatschow hatte sich auch die SED bereits lange vor den ersten oppositionellen Demonstrationen für die kapitalistische Restauration entschieden. Günter Mittag, der im Politbüro fast drei Jahrzehnte lang für die DDR-Wirtschaft verantwortlich war, gestand dem Spiegel später: "Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einer ökonomischen Katastrophe mit unabsehbaren sozialen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauer allein nicht überlebensfähig war." Er sei bereits Ende 1987 zur Erkenntnis gelangt: "Jede Chance ist verspielt." [113] Hans Modrow, der letzte stalinistische Regierungschef der DDR, schrieb in seinen Erinnerungen: "Nach meiner Einsicht war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden." [114]

206. Die Arbeiterklasse ging dagegen politisch völlig unvorbereitet in das Jahr 1989 hinein. Die stalinistischen Geschichtsfälschungen, die Ermordung einer ganzen Generation kommunistischer Revolutionäre während des Großen Terrors der 1930er Jahre, die Unterdrückung jeder unabhängigen politischen Regung der Arbeiterklasse durch die SED und die Verfälschung des Trotzkismus durch die Pablisten hatten sie von der historischen Kontinuität des Marxismus und dem Programm der Vierten Internationale abgeschnitten. Die so genannten Dissidenten, die ab den 1970er Jahren in Erscheinung traten, stammten vorwiegend aus Intellektuellen- und Künstlerkreisen und lehnten eine sozialistische Orientierung ab. Sie beschränkten sich auf die Forderung nach Bürgerrechten und entwickelten sich nicht selten scharf nach rechts.

207. Wie wenig die Demonstrationen, die im Herbst die gesamte DDR erfassten, ein politisches Ziel vor Augen hatten, zeigte schon die individualistische Form, in der sie anfingen: eine Massenflucht in den Westen. An der Spitze der Demonstrationen standen Vertreter der kleinbürgerlichen Opposition, deren Programm nicht über vage Forderungen nach mehr Demokratie und einem "demokratischen Dialog" hinausging. Umso lauter sprach daraus die Angst vor sozialen Erschütterungen. "Das Ziel unserer Vorschläge ist es, den inneren Frieden unseres Landes zu gewinnen", hieß es zum Beispiel in den "Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR" von "Demokratie Jetzt". Wie einst die deutschen Demokraten von 1848 hatten auch die DDR-Demokraten von 1989 "mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen". [115]

208. Die kleinbürgerliche Opposition und die stalinistischen Machthaber fanden angesichts des Protestes der Straße schnell zusammen. Die SED reagierte auf die Massendemonstrationen, indem sie ihren Generalsekretär Erich Honecker opferte und unter dem langjährigen ZK-Mitglied Hans Modrow Kurs auf die deutsche Einheit nahm. Während - nach Modrows eigenen Worten - "die fast täglich neuen Enthüllungen über Amtsmissbrauch und Korruption ehemaliger führender Funktionäre der SED und des Staates die Empörung im Land auf den Siedepunkt trieben", sah er die Aufgabe seiner Regierung darin, "die Regierbarkeit des Landes zu bewahren, ein Chaos zu verhindern" und die deutsche Vereinigung vorzubereiten. [116] Zu diesem Zweck setzte er sich mit der kleinbürgerlichen Opposition erst an den Runden Tisch und nahm sie dann in seine Regierung auf.

209. Der BSA warnte vor den Folgen dieser Entwicklung: "Die Arbeiterklasse muss voller Verachtung alle politischen Tendenzen zurückweisen, die die stalinistische Diktatur durch die Diktatur der Deutschen Bank, d.h. durch die Diktatur des Imperialismus ersetzen wollen. Die wildgewordenen Kleinbürger vom ‚runden Tisch’ schwärmen über die Vorzüge des Kapitalismus zu einem Zeitpunkt, wo sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in allen kapitalistischen Ländern über zehn Jahre hinweg drastisch verschlechtert haben. ... Diese Kleinbürger haben den Stalinismus angegriffen, weil er für sie ein Hindernis war, auf Kosten der Arbeiterklasse ein ähnlich privilegiertes Leben zu führen wie das Kleinbürgertum im Westen. Ihr Kampf gegen den Stalinismus ist ein Kampf gegen die Arbeiterklasse. Ihr Ziel ist es, alle Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerschlagen." [117]

210. Zu den "wildgewordenen Kleinbürgern vom runden Tisch" gehörten auch die Anhänger Ernest Mandels. Die Vereinigte Linke, in der die Pablisten eine wichtige Rolle spielten, erklärte sich bereit, unter Modrow Regierungsverantwortung zu übernehmen. Ernest Mandel reiste persönlich nach Ostberlin, um Gorbatschow und die SED gegen trotzkistische Kritik in Schutz zu nehmen. In der stalinistischen Jugendzeitung Junge Welt verurteilte er das politische Eingreifen des BSA in der DDR als "Taktlosigkeit". Es zeuge "von fehlendem politischen Verständnis, wenn Kräfte von außen sich in die riesige Massenbewegung in der DDR einmischen". Auf die Kritik des BSA an Gorbatschow angesprochen antwortete Mandel: "Nicht zu sehen, dass man den Kern der Errungenschaften der ‚Glasnost’ gegen alle ihre Feinde verteidigen muss als einen riesigen Schritt vorwärts, für die sowjetische Arbeiterklasse, das sowjetische Volk, die internationale Arbeiterklasse und alle demokratischen Kräfte der Welt, das scheint mir eine gefährliche politische Verblendung zu sein." [118]

211. Während sich der BSA den Stalinisten und kleinbürgerlichen Demokraten mutig entgegenstellte und vor den Gefahren der kapitalistischen Restauration warnte, lief er selbst Gefahr, die spontane Bewegung zu idealisieren und die Führungskrise der Arbeiterklasse - und damit die eigenen politischen Aufgaben - zu unterschätzen. Zentristische Standpunkte, die in den 1970er Jahren von der WRP systematisch gefördert worden waren, machten sich wieder bemerkbar. Das Internationale Komitee führte eine intensive Diskussion über diese Fragen. Schon Anfang 1990 erklärte David North, dass es "einseitig und falsch wäre, uns nur auf die ‚objektive‘ Seite der Ereignisse zu konzentrieren - als ob der Zusammenbruch der osteuropäischen Regime und der Nachkriegsordnung gewissermaßen völlig losgetrennt und unabhängig vom Klassenkampf und vom bewussten Zusammenstoß politischer Kräfte stattfände. Der subjektive, bewusste Faktor ist beileibe nicht ohne Bedeutung. Dass der Stalinismus die Entwicklung des politischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse unterhöhlt hat, gehört nicht zu seinen geringeren Verbrechen, und dessen Folgen sind selbst ein wichtiger objektiver Faktor in der allgemeinen politischen Situation." [119]

212. In weiteren politischen Diskussionen wurde betont, dass "die tiefe Krise des Kapitalismus sich nicht automatisch in marxistisches Bewusstsein der Arbeiterklasse übersetzt. Während die Globalisierung und weltweite Integration der kapitalistischen Produktion die Widersprüche des Imperialismus enorm verschärft, bricht sie auch die alten national verwurzelten Organisationen der Arbeiterklasse in Stücke. Die ideologische Krise der internationalen Arbeiterbewegung ist eine Widerspiegelung dieses Prozesses." Der Zusammenbruch der stalinistischen Regime an sich war noch keine politische Revolution: "Die politische Revolution ist nicht bloß ein objektives Ereignis - sie ist ein Programm.... Jede Tendenz, die spontane Entwicklung der Ereignisse zu objektivieren und zu glorifizieren, ist außerordentlich gefährlich. Es ist für die Arbeiter eine Sache, den Stalinismus zurückzuweisen. Es ist für sie eine ganz andere, ein revolutionäres Programm anzunehmen." [120]

213. Auf seinem 12. Plenum im März 1992 fasste das Internationale Komitee die Lehren aus dem Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion mit den Worten zusammen: "Die Verschärfung des Klassenkampfs liefert die allgemeine Grundlage für die revolutionäre Bewegung. Aber sie schafft an sich nicht direkt und automatisch die politischen, intellektuellen und, könnte man hinzufügen, kulturellen Voraussetzungen für ihre Entwicklung, die insgesamt die historische Bühne für eine wirklich revolutionäre Situation vorbereiten. Nur wenn man diesen Unterschied zwischen der allgemeinen objektiven Grundlage der revolutionären Bewegung und dem komplexen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Prozess versteht, durch den sie zu einer bestimmenden historischen Kraft wird, kann man die Bedeutung unseres Kampfes gegen den Stalinismus und die Aufgaben, vor denen wir heute stehen, begreifen." [121]

214. Das Internationale Komitee trat aber auch der Auffassung entgegen, mit der Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, Osteuropa und China habe der Imperialismus seine Krise gelöst und seine inneren Gegensätze überwunden. Das Gegenteil war der Fall: "Im welthistorischen Rahmen gesehen bedeutet der Zusammenbruch der osteuropäischen Regime und der Nachkriegsordnung insgesamt, dass sich alle grundlegenden Widersprüche des Imperialismus auf einer weit höheren Ebene wieder geltend machen. Weit entfernt vom Eintritt in eine neue, triumphale Periode kapitalistischen Aufstiegs, steht der Imperialismus in Wirklichkeit am Rande einer neuen blutigen Epoche von Kriegen und Revolutionen. Das neue Gleichgewicht, das der Imperialismus schaffen muss, kann nur nach einer Periode tiefgehender Kämpfe und aller möglichen Umwälzungen hergestellt werden, einer Periode von Kriegen und Revolutionen. Mit anderen Worten, die Widersprüche, die in Bewegung geraten sind, können nicht auf friedlichem Wege gelöst werden. Das ist die Frage, vor der die Arbeiterklasse steht. Sie muss diese Krise auf einer progressiven Grundlage lösen, oder sie wird vom Kapitalismus in extrem reaktionärer Weise gelöst werden." [122]

215. Nur von diesem internationalen Standpunkt aus konnten die Ereignisse in der DDR und der Sowjetunion richtig verstanden und korrekte Schlussfolgerungen daraus gezogen werden: "Unsere Perspektive ist, dass wir eine lange Periode revolutionärer Erschütterungen vor uns haben. Es wird dabei natürlich ein Auf und Ab geben. Es kann auch Rückschläge geben, sogar schwere Rückschläge. Aber es ist absolut ausgeschlossen, dass die historischen Fragen, die mit dem Zusammenbruch der Nachkriegsgesellschaft gestellt sind, schnell beigelegt werden können. Sie können nur in der Arena des internationalen Klassenkampfs gelöst werden." [123]

216. Das Internationale Komitee befasste sich intensiv mit dem Problem der sozialistischen Kultur und des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiterklasse. Es nahm einen systematischen Kampf gegen die postsowjetische Schule historischer Fälschungen auf, gegen Historiker wie Martin Malia, Richard Pipes und Dmitri Wolkogonow, die versuchten, die These vom endgültigen Scheitern des Sozialismus durch eine Verfälschung der Geschichte der Oktoberrevolution zu untermauern. Es arbeitete dabei eng mit dem sowjetischen Historiker Wadim Rogowin zusammen, der in seinem siebenbändigen Werk über die trotzkistische Linke Opposition im Detail nachwies, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab. Parallel dazu weitete das Internationale Komitee seine Arbeit an kulturellen Fragen aus. Es bemühte sich, die intellektuellen Traditionen der Linken Opposition wiederzubeleben, die diesen Fragen eine enorme Bedeutung beigemessen hatte. Der Arbeiterpresse Verlag veröffentlichte in diesem Zusammenhang neue Ausgaben von Leo Trotzkis "Literatur und Revolution" und "Probleme des Alltagslebens" sowie - erstmals in deutscher Sprache - Alexander Woronskis "Die Kunst, die Welt zu sehen".

XXVI. Der Bankrott der reformistischen und nationalen Organisationen

217. Die Liquidation der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie war Ausdruck eines internationalen Phänomens. Zwei Wochen nach der formellen Auflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 erklärte David North: "Überall auf der Welt ist die Arbeiterklasse mit der Tatsache konfrontiert, dass die Gewerkschaften, Parteien und sogar Staaten, die sie in einer früheren Periode geschaffen hat, in direkte Instrumente des Imperialismus verwandelt worden sind. Vorbei sind die Tage, in denen die Bürokratien den Klassenkampf ‚vermittelten‘ und die Rolle eines Puffers zwischen den Klassen spielten. Obwohl die Bürokratien die historischen Interessen der Arbeiterklasse generell verrieten, dienten sie in beschränktem Sinne doch immer noch ihren praktischen Tagesbedürfnissen und ‚rechtfertigten‘ in diesem Maße ihre Existenz als Führer von Arbeiterorganisationen. Diese Periode gehört jetzt der Vergangenheit an. Die Bürokratie kann in der heutigen Periode keine solche unabhängige Rolle mehr spielen." [124]

218. Das galt sowohl für die stalinistischen wie für die reformistischen Parteien und Gewerkschaften. Ihr Programm, die Dämpfung des Klassengegensatzes mittels sozialer Reformen, versagte angesichts der Globalisierung, und sie stellten sich offen gegen die elementaren Interessen der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften waren selbst im weitesten Sinne des Wortes keine "Arbeiterorganisationen" mehr. Sie trotzten den Unternehmern und der Regierung keine Zugeständnisse mehr ab, sondern zwangen die Arbeiter zu Zugeständnissen an die Unternehmer, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Kapital anzulocken. In Deutschland erstickten der DGB und seine Einzelgewerkschaften während der Wiedervereinigung jeden Widerstand gegen die Privatisierung und die Stilllegung von Betrieben und arbeiteten dabei aufs Engste mit der Treuhandanstalt zusammen. "Die Gewerkschaften sorgten zusammen mit den Kirchen dafür, dass sich der Protest nicht radikalisiert", brüstete sich der Vorsitzende der IG Metall Franz Steinkühler später. Sein Stellvertreter Klaus Zwickel sprach von einem "gefährlichen Drahtseilakt", den die Gewerkschaft übernommen habe. "Wenn wir’s nicht tun, davon bin ich überzeugt, hätten längst Aggression oder politischer Extremismus überhandgenommen." [125] Später halfen die Gewerkschaften, die Niedriglöhne aus dem Osten auf Westdeutschland zu übertragen. Mittlerweile gibt es keinen Plan über Rationalisierungen und Stellenabbau mehr, der nicht - wie beim Autobauer Opel - die Unterschriften der Gewerkschaften und ihrer Betriebsräte trägt.

219. Auch die SPD, allen voran ihr Vorsitzender Willy Brandt, unterstützte die Wiedervereinigung ohne Vorbehalt. In den Jahren danach wetteiferte sie in den Ländern und Kommunen mit Union und FDP, den Lebensstandard der Arbeiter zu senken. Und als sie 1998 erstmals seit 16 Jahren wieder den Bundeskanzler stellte, leitete sie mit der Agenda 2010 den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik ein. Kanzler Schröder hatte die Unterstützung großer Teile der Bourgeoisie, die der Kohl-Regierung nicht mehr zutrauten, erfolgreich einen solchen Frontalangriff gegen die Arbeiterklasse zu führen. Auch in der Außenpolitik vollzog die rot-grüne Koalition einen radikalen Kurswechsel, indem sie erstmals seit der Kriegsniederlage wieder deutsche Truppen in internationale Kriegseinsätze schickte.

220. 1990 brach der Bund Sozialistischer Arbeiter endgültig mit der Taktik, bei den Wahlen zur Stimmabgabe für die SPD aufzurufen oder sozialistische Forderungen an diese zu stellen. In dem 1993 verabschiedeten Parteiprogramm erklärte er dazu: "Der BSA hat es immer als seine erstrangige Aufgabe betrachtet, den Einfluss zu durchbrechen, den die SPD auf die Arbeiterklasse ausübt und der über lange Zeit der wichtigste Mechanismus zur Sicherung der bürgerlichen Herrschaft in der Bundesrepublik war. ... Bei der Ausarbeitung seiner Taktik musste der BSA aber berücksichtigen, dass die SPD nach wie vor in der Arbeiterklasse verankert war und mit sozialen Reformen identifiziert wurde. ... Heute wäre das Festhalten an einer solchen Taktik verfehlt. Die SPD hat sich aus einer bürgerlichen Reformpartei vollkommen in eine rechte bürgerliche Partei verwandelt. Ein Aufruf zur Stimmabgabe für die SPD oder Forderungen an die SPD, die Macht zu übernehmen, würden unter diesen Umständen lediglich dazu beitragen, die Agonie dieser bankrotten Partei zu verlängern und die Arbeiterklasse daran hindern, die notwendige politische Neuorientierung durchzuführen." [126]

221. Zu den Gewerkschaften heißt es im selben Programm: "Die Zerstörung der Gewerkschaften durch die Bürokratie ist weit fortgeschritten, und jede Vorstellung, der Weg der Arbeiterklasse müsse sich durch die alten reformistischen Organisationen hindurch entwickeln, führt dazu, die Arbeiter an die Dreiviertelleiche der Gewerkschaften zu ketten." [127] In der jüngsten Wirtschaftskrise ist der reaktionäre Charakter der Gewerkschaften noch deutlicher in Erscheinung getreten. Während die Banken versuchen, die Folgen ihrer hemmungslosen Spekulationsgeschäfte auf die Arbeiterklasse abwälzen, stellen sich die Gewerkschaften offen auf ihre Seite und unterdrücken jede ernsthafte Mobilisierung der Arbeiterklasse. Sowohl die Rettungspakete für die Banken wie die Sparprogramme der Regierungen haben den Rückhalt der überwiegenden Mehrheit der Gewerkschaften gefunden. Die Offensive gegen diese Angriffe kann nur in einem systematischen Kampf gegen die gewerkschaftliche Bevormundung und Unterdrückung weiterentwickelt werden.

222. Nach der Auflösung der Sowjetunion unterzog das Internationale Komitee auch seine Haltung zu den nationalen Bewegungen und zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen einer gründlichen Überprüfung. In dieser Zeit entwickelten sich zahlreiche nationalistische und separatistische Bewegungen, die einen eigenen Staat forderten. Multinationale Staaten, die unter den Bedingungen der Nachkriegsperiode relativ stabil gewesen waren, wurden von nationalen, ethnischen und religiösen Spannungen zerrissen, die die imperialistischen Mächte in der Regel im eigenen Interesse anheizten. So unterstützten Deutschland und die USA in den frühen 1990er Jahren die Auflösung Jugoslawiens, und die USA betrachteten die Aufteilung der Sowjetunion als Chance, ihren Einfluss in den Kaukasus und nach Zentralasien auszudehnen. Das Aufflammen separatistischer Bewegungen hatte aber auch objektive Gründe. Die Globalisierung gab "den objektiven Anstoß für einen neuen Typ nationalistischer Bewegungen, die die Zerstückelung bestehender Staaten anstreben. Das global mobile Kapital hat kleineren Regionen die Möglichkeit verschafft, sich direkt an den Weltmarkt anzubinden. Hongkong, Singapur und Taiwan sind zu einem neuen Entwicklungsmodell geworden. Eine kleine Küstenenklave, die über die entsprechenden Transportverbindungen, die Infrastruktur und ein Angebot an billigen Arbeitskräften verfügt, kann sich als attraktiver für das multinationale Kapital erweisen als ein großes Land mit einem weniger attraktiven Hinterland." [128]

223. Das Internationale Komitee nahm gegenüber diesen separatistischen Bewegungen eine äußerst kritische und ablehnende Haltung ein und stellte ihnen die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegen. Das Ziel dieser Bewegungen war nicht die Vereinigung verschiedener Völker in einem gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus, wie dies einst bei fortschrittlichen nationalen Bewegungen in Indien und China der Fall gewesen war, sondern die Aufspaltung bestehender Staaten im Interesse lokaler Ausbeuter. Sie verkörperten nicht die demokratischen Bestrebungen der unterdrückten Massen, sondern dienten dazu, die Arbeiterklasse zu spalten. Die stereotype Wiederholung der Losung "Für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen" konnte eine konkrete Analyse dieser Bewegungen nicht ersetzen. Das Internationale Komitee betonte: "In der Geschichte der marxistischen Bewegung ist es schon oft vorgekommen, dass Formulierungen und Losungen, die in einer Periode einen fortschrittlichen und revolutionären Inhalt hatten, in einer anderen Epoche eine völlig andere Bedeutung bekamen. Die nationale Selbstbestimmung ist so ein Fall. Das Recht auf Selbstbestimmung hat eine völlig neue Bedeutung bekommen im Vergleich zu der Definition, die Lenin ihm vor mehr als achtzig Jahren gab. Nicht nur die Marxisten fordern nun das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch die nationale Bourgeoisie in den rückständigen Ländern und die Imperialisten selbst." [129]

224. Die Klärung der Selbstbestimmungsforderung und der damit verbundene Kampf gegen den kleinbürgerlichen Nationalismus stärkten die internationalistischen Grundlagen der Vierten Internationale. Das Internationale Komitee grenzte sich damit deutlich von den zahlreichen ex-Linken und ex-Radikalen ab, die - wie auch die Grünen - im Namen des Selbstbestimmungsrechts das imperialistische Gemetzel auf dem Balkan und in anderen Weltregionen unterstützten. Die Analyse des Internationalen Komitees bestätigte, dass ein wirklich internationalistisches Programm für die Arbeiterklasse nur auf der Grundlage der Theorie der permanenten Revolution entwickelt werden kann.

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Anmerkungen

109) Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, S. 121

110) Was geht in der Sowjetunion vor sich? Gorbatschow und die Krise des Stalinismus, Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale vom 23. März 1987, Essen 1987, S. 18-19

111) Ein Vortrag im Historischen Archivinstitut, Vierte Internationale, Jg. 16-17, Essen 1991, S. 119-120

112) Für die internationale Einheit der Arbeiterklasse im Kampf gegen Stalinismus und Kapitalismus! Für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!, in: Das Ende der DDR, S. 186

113) Der Spiegel, 9. September 1991

114) Hans Modrow, Aufbruch und Ende, Hamburg 1991, S. 145

115) Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Berlin 1974, S. 228

116) Hans Modrow, Aufbruch und Ende,. S. 65, 145

117) "Für die internationale Einheit der Arbeiterklasse...", in: Das Ende der DDR, S. 187-188

118) Zitiert in: Das Ende der DDR, S. 119, 123

119) David North, Die Kette des Imperialismus bricht an ihrem schwächsten Glied, in: Vierte Internationale, Jg. 16, Nr. 1-4, Jg. 17, Nr. 1-2, S. 56

120) Internes Bulletin der Workers League vom Februar 1990

121) David North, Der Kampf für den Marxismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, in : Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, Herbst 1992, S. 78-79

122) David North, Die Kette des Imperialismus bricht an ihrem schwächsten Glied, in: Vierte Internationale, Jg. 16/17, S. 55

123) David North, Die Krise des Stalinismus und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, in: Vierte Internationale, Jg. 16/17, S. 78

124) David North, Das Ende der Sowjetunion und die Zukunft des Sozialismus, in: Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, S. 133

125) Sozialistische Perspektiven nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Programm des BSA, Arbeiterpresse Verlag Essen 1993, S. 88

126) Zitiert in: ebd., S. 83-84

127) ebd., S. 91-92

128) Globalisierung und internationale Arbeiterklasse. Eine marxistische Einschätzung. Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, 7. Nov. 1998, http://www.wsws.org/de/1998/nov1998/glob-n07.shtml

129) ebd.

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