Perspektive

Rot-Rot-Grün und die Krise der Demokratie

Zwei Themen stehen gegenwärtig im Zentrum der deutschen Politik. Zum einen nimmt die Kritik von wirtschaftsnahen Medien an der Merkel-Regierung ständig weiter zu und ist mit viel Beifall für Rot-Grün verbunden. Zum anderen wurde eine Debatte über die "Krise der Demokratie" und das "Bedürfnis nach bonapartistischen Lösungen" begonnen.

Beide Debatten stehen in direktem Zusammenhang. Offenbar sind einflussreiche Teile der herrschenden Klasse der Auffassung, dass die SPD im Bündnis mit den Grünen und - falls nötig - unterstützt von der Linkspartei, besser in der Lage wäre, massive Sozialkürzungen durchzusetzen und dabei den zu erwartenden Widerstand zu unterdrücken, als die gegenwärtige schwarz-gelbe Regierung.

Sie werfen der Merkel-Regierung vor, dass sie zu sehr mit sich selbst und ihren internen Konflikten beschäftigt sei, vor tiefgreifenden Einschnitten ins soziale Netz zurückschrecke und die "für die Wirtschaft unverzichtbaren Reformen" nicht entschlossen genug anpacke.

Die Wahl der SPD-Landesvorsitzenden Hannelore Kraft zur neuen Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen am vergangenen Mittwoch und die Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung im bevölkerungsreichsten Bundesland soll nun dazu dienen, die Stabilität einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit zu testen und als bundespolitische Option vorzubereiten. Dabei wirkt die rot-rot-grüne Option in doppelter Richtung: als Druckmittel, um Schwarz-Gelb im Interesse der Wirtschaft gefügig zu machen und, falls nötig, als Ersatz.

In diesem Zusammenhang erscheinen immer häufiger Medienkommentare, die die Schröder-Fischer-Regierung (1998-2005) als "Rot-Grün I" über den Klee loben und die Sozialkürzungen der Agenda 2010 und die Hartz-IV-Gesetze als wichtigsten Schritt zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Europa und weltweit bezeichnen.

Doch Rot-Grün II wird nicht eine Wiederholung von Rot-Grün I sein. Angesichts der Weltwirtschaftskrise verlangt die herrschende Klasse soziale Angriffe, die weit über die Agenda 2010 hinaus gehen. Alle noch bestehenden Reste des Sozialstaats sollen weitaus stärker abgebaut werden als bisher. Die Forderungen aus der Wirtschaft umfassen Streichungen und Kürzungen beim gesetzlichen Kündigungsschutz und gesetzlichen Mindesturlaub, bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, der staatlichen Rentenversicherung und vielem mehr. Darüber hinaus sollen die Mehrwertsteuer, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge und andere Sozialabgaben deutlich steigen.

Dass eine derartige soziale Konterrevolution auf heftigen Widerstand der Bevölkerung stoßen wird und nicht mit demokratischen Mitteln durchgesetzt werden kann, steht außer Zweifel. Überall in Europa und weltweit finden gegenwärtig Vorbereitungen statt, um die bestehenden Regierungen so zu verändern, dass sie über die notwendigen autoritären Strukturen verfügen, um die Last der Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung abzuwälzen. In keinem Land regt sich in der herrschenden Elite Widerstand gegen den Abbau demokratischer Strukturen und die immer offensichtlichere Durchsetzung von Polizeistaatsmaßnahmen.

Die Lobreden auf Rot-Rot-Grün sind folglich Ausdruck davon, dass Teile der herrschenden Klasse eine solche Koalition, die oft auch als "Links-Regierung" bezeichnet wird, als geeignetes Instrument für den Übergang zu autoritären Herrschaftsformen betrachten.

Schröders "Basta-Politik", mit der er jeden Widerstand in der eigenen Partei und in der Bevölkerung unterdrückte, stößt in der Wirtschaft nach wie vor auf Bewunderung. Die SPD verlor während der rot-grünen Regierungszeit 17 Landtagswahlen, doch Schröder war nicht bereit, dem Druck von unten nachzugeben. Nach den hohen Stimmenverlusten in der NRW-Landtagswahl 2005 stellte er die Bevölkerung vor ein Ultimatum, indem er vorgezogene Neuwahlen durchsetzte, um entweder ein neues Mandat zu erhalten, oder die Macht in die Hände der Union zu übergeben.

Mit diesem parlamentarischen Manöver zur Verwirklichung vorgezogener Neuwahlen setzte sich Schröder über die demokratischen Strukturen und über das Grundgesetz hinweg und wurde dabei von den Grünen unterstützt. Bereits damals wurde sichtbar, dass Rot-Grün bereit ist, grundlegende demokratische Rechte in Frage zu stellen, um die Interessen der herrschenden Klasse durchzusetzen.

Seitdem haben beide Parteien eine weitere, deutliche Rechtswende vollzogen. Die SPD verlor in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder. Jeder, der auch nur die leisesten Hoffnungen hatte, mit ihr soziale und humanitäre Ziele zu verfolgen, kehrte ihr enttäuscht und nicht selten erbost den Rücken. Heute ist die SPD nur noch ein staatlich finanzierter bürokratischer Apparat zur Verwirklichung der Interessen der herrschenden Elite.

Besonders auffallend ist die Verwandlung der Grünen. Sie sind zum Sprachrohr einer privilegierten Schicht der gehobenen Mittelklasse geworden. Ihre Mitgliedschaft weist den höchsten Anteil von Staatsbeamten und das höchste Durchschnittseinkommen auf. Schon während der rot-grünen Regierungsjahre wandelten sich die ehemaligen Pazifisten zu Verteidigern von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Seitdem setzen sie sich vehement für die Umwandlung der Bundeswehr in eine Berufsarmee ein, wohl wissend, dass dieses Ziel gerade von denen verfolgt wird, die das Grundgesetz-Verbot des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren kippen wollen, um künftig die Armee auch in inneren Krisen, bei anhaltenden Streiks und Aufständen einsetzen zu können.

Als vor wenigen Wochen der Berliner Historiker Herfried Münkler die Demokratie als "Tyrannei der Mehrheit" bezeichnete und über das "Bedürfnis nach bonapartistischen Lösungen" schrieb, richtete er seine Argumente sehr gezielt an die Grünen. Das "drohende Unheil" sei bekannt, die "ökologischen Einwände gegen Wachstumsökonomien" seien richtig, schrieb der Professor und beantwortete dann seine rhetorische Frage: "Was aber passiert, wenn das Volk nicht hören will?" mit der knappen Feststellung: "Dann taucht die Idee einer Ökodiktatur auf." Zur Begründung zitierte er Plato: "Das unvernünftige Volk, das immer nach den Zuckerbäckern ruft" müsse "von klugen Ärzten auf Diät gesetzt werden".

Anders als in den dreißiger Jahren, als der Angriff auf die Demokratie schließlich die Form der Nazi-Herrschaft annahm und zur Machteroberung der Unterwelt führte, verbindet sich gegenwärtig die Forderung nach einer autoritären Staatsform mit dem Ruf nach einem Expertenrat aus gebildeten Fachleuten, der neben Kompetenz auch über staatliche Vollmachten verfügen müsse, um seine Entscheidungen auch gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen.

Deutlich wurde dieser Ruf nach einer über den Parteien stehenden Führungsfigur, als SPD und Grüne den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Joachim Gauck als Präsidentschaftskandidaten nominierten. Die SPD-nahe Wochenzeitung Die Zeit warb für den erklärten Antikommunisten mit den Worten: "Wir wollen den Sinnstifter der Nation, der uns sagt, wo es langgeht, der eine moralische Schneise durch Kleingeist und Eigennutz schlägt."

Teil dieser Vorbereitungen auf autoritäre Herrschaftsformen sind die Gewerkschaften. Seit Beginn der Krise im Herbst 2008 haben sie ihren Pakt mit der Regierung systematisch intensiviert und fungieren immer offensichtlicher als Teil der Staatsmacht. Ihr Ziel ist es, den Klassenkampf zu unterdrücken und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ihr betriebliches Netz von Betriebsräten und Vertrauensleuten dient vor allem dazu jede selbstständige Regung von Seiten der Arbeiter zu verhindern und notfalls brutal zu unterdrücken.

In diesem rot-grünen Bündnis mit den Gewerkschaften spielt die Linkspartei eine wichtige Rolle. Weil die Erinnerung an die unsoziale Politik von Rot-Grün noch weit verbreitet ist und die Sprecher von SPD, Grünen und DGB auf Kundgebungen nicht selten mit Sprechchören wie: "Hartz IV, das ward ihr!" konfrontiert werden, übernimmt die Linkspartei die Verteidigung von Rot-Grün. Darauf ist sie gut vorbereitet. Denn schon vor der Wende waren die stalinistischen Vorläufer der Linkspartei Teil des bürokratischen Unterdrückungsregimes der DDR und bezeichneten es als fortschrittlich und sozialistisch.

Die Behauptung, Rot-Rot-Grün sei das kleinere Übel, stellt die Dinge auf den Kopf. Was in den Medien als "Linksregierung" bezeichnet wird, ist in Wahrheit Teil der Vorbereitungen der herrschenden Klasse auf große soziale und politische Angriffe und Auseinandersetzungen. Während der Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie immer deutlicher wird, muss die Arbeiterklasse ihre eigenen Vorbereitungen treffen, um wirkliche Demokratie zu errichten. Das erfordert ein internationales sozialistisches Programm und die Bildung von Arbeiterregierungen, um die Finanzaristokratie und ihre Banken und Konzerne zu enteignen und unter demokratische Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung zu stellen.

Siehe auch:
NRW: Linkspartei spielt Schlüsselrolle bei Machtübernahme von Rot-Grün
(14. Juli 2010)
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