100.000 protestieren gegen Atompolitik

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100.000 Menschen, doppelt so viele wie die Organisatoren erwartet hatten, protestierten am Samstag im Berliner Regierungsviertel unter dem Motto „Atomkraft: Schluss jetzt“ gegen die Energiepolitik der Bundesregierung.

Das Energiekonzept der Regierung Merkel erlaubt es den Energiekonzernen, ihre Atomkraftwerke acht bis 14 Jahre länger laufen zu lassen, als sie dies vor zehn Jahren mit der damaligen rot-grünen Bundesregierung vereinbart hatten. Das neue Konzept soll Ende Monat vom Kabinett beschlossen und im Oktober vom Bundestag verabschiedet werden.

Den vier großen Energiekonzernen beschert es zusätzliche Profite in Milliardenhöhe, die nur zu einem geringen Teil durch eine Brennelementesteuer abgeschöpft werden. Die Regierung hat ihnen zudem in einem geheimen Abkommen zugesichert, dass sie nicht durch zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen finanziell belastet werden.

An der Demonstration beteiligten sich Mitglieder aller Bevölkerungsschichten. Neben Veteranen der Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre gingen auch zahlreiche junge Leute auf die Straße. Teilweise beteiligten sich ganze Familien, bestehend aus drei Generationen, an der Kundgebung. Die Teilnehmer „umzingelten“ das Regierungsviertel und lösten unter Einsatz von Pfeifen, Trommeln, Rasseln und Vuvuzelas „Atomalarm“ aus.

Das Bild der Demonstration wurde von der roten Sonne auf gelbem Grund, dem Symbol der Anti-AKW-Bewegung, beherrscht. Daneben gab es zahlreiche phantasievolle Transparente und Plakate.

Viele äußerten die Furcht vor einer nuklearen Katastrophe: „Unsere Enkel sollen lachen, nicht strahlen“, „Werden wir bald alle (radio)aktiv?!“. Andere geißelten die Profitsucht der Energiekonzerne: „Unsere Gesundheit ist wichtiger als Eure Profite“ und „Stoppt die atomare Geldgier der Stromkonzerne“. Auch die Regierung Merkel und ihr Kniefall vor der Atomlobby bekamen ihr Fett ab: „Atomkraft siegt, weil Merkel lügt“, „Laufzeitverkürzung für eine käufliche Regierung“ und „Ich möchte auch ein Gesetz kaufen“.

Die Veranstalter, ein Bündnis von 18 Organisationen, bemühten sich, der Demonstration einen möglichst unpolitischen Charakter zu verleihen. Ihr Ziel beschränkte sich darauf, die gegenwärtige Regierung durch ein breites gesellschaftliches Bündnis, das bis in die Reihen der Union hinein reicht, zum Rückzug ihres Energiekonzepts zu zwingen. Die Angriffe der Regierung auf sozial Schwache klammerten sie ebenso aus, wie den Kriegseinsatz in Afghanistan und die Kürzungen in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Vertreter politischer Parteien durften auf der Schlusskundgebung nicht reden, dafür kamen neben den Sprechern mehrerer Umweltverbände auch ein Vorstandsmitglied der Gewerkschaft IG Metall und ein Vertreter des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), des Interessenverbands der Wasser-, Wind-, Bio- und Solarenergie-Branche, zu Wort. Beide warnten vor den negativen Folgen des Energiekonzepts der Regierung auf die „Wachstumsbranche“ Erneuerbare Energien.

Obwohl sie nicht als offizielle Veranstalter und Redner auftraten, bemühten sich Grüne, SPD und Linkspartei die Demonstration für ihre Zwecke zu nutzen. Die Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel (SPD), Claudia Roth (Grüne) und Gesine Lötzsch (Linke) sowie zahlreiche weitere hohe Funktionäre nahmen persönlich daran teil. Sie spielten dabei ein zynisches Spiel.

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SPD und Grüne hatten der Anti-Atom-Bewegung vor zehn Jahren mit dem so genannten Atomkonsens den Wind aus den Segeln genommen. Sie hatten den Energiekonzernen eine durchschnittliche Laufzeit von 32 Jahren für ihre Atommeiler und hohe finanzielle Entschädigungen garantiert, und diese hatten im Gegenzug einem langfristigen Ausstieg aus der Atomenergie zugestimmt.

Seither konnten sie ihre Atomkraftwerke, auch wenn sie technisch veraltet und unsicher waren, ungestört weiter laufen lassen. Selbst die Proteste gegen die umstrittenen Atommüll-Transporte ins Wendland flauten ab. Dabei wussten alle Beteiligten von Anfang an, dass der Atomkonsens hinfällig sein würde, sobald in Berlin die Regierung wechselt. Nun versuchen SPD und Grüne, das erneute Aufflammen der Anti-Atombewegung zu nutzen, um zurück an die Regierung zu gelangen.

Dabei schrecken sie vor keiner demagogischen Forderung zurück. So verlangte SPD-Chef Sigmar Gabriel einen Volksentscheid über die Verlängerung der Atomlaufzeiten. Die SPD sei bereit, „zusammen mit der Koalition das Grundgesetz entsprechend zu ändern“, sagte er laut SpiegelOnline. Eine absurder Vorschlag, da die Regierungskoalition einer solchen Grundgesetzänderung unter keinen Umständen zustimmen wird.

Das würde der Politikverdrossenheit entgegenwirken, begründete Gabriel seinen Vorstoß. Es „würde viel Befriedung in unser Land bringen und vor allem die Politik wieder näher zu den Bürgern.“

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth kündigte weitere bundesweite Proteste an. Der Widerstand werde nicht nur auf der Straße, sondern auch vor Gericht und in den Ländern hör- und sichtbar weitergehen, sagte sie und schwadronierte von „einem breiten gesellschaftlichen Bündnis gegen falsche Politik“.

Es steht außer Zweifel, dass SPD und Grüne, sollten sie zurück an die Regierung gelangen, den Energiekonzernen erneut genauso zu Füßen liegen werden wie einst unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Angesichts von wachsenden sozialen Spannungen, von Protesten bis hinein in bürgerliche Schichten (wie gegen Stuttgart 21) und von sinkenden Umfragewerten für die Bundesregierung geht es SPD und Grünen in erster Linie darum, das Vertrauen in Regierung und Staat wieder herzustellen. Zu diesem Zweck sind sowohl die Grünen wie die SPD auch zu einem Bündnis mit der CDU bereit, wie sie dies in Hamburg und dem Saarland, in Thüringen und Sachsen-Anhalt bereits praktizieren.

Die Linkspartei steht ihnen dabei zur Seite. Sie betrachtet die Anti-Atombewegung als Chance, näher an SPD und Grüne heranzurücken. Deshalb hat sich ihr Bundesvorstand uneingeschränkt hinter die Demonstration vom Samstag und deren Ziele gestellt und sie finanziell unterstützt.