Perspektive

Ägyptens „zweite Revolution“

Die Demonstrationen, die am vergangenen Freitag in Ägypten stattgefunden haben, zählen zu den größten, seit die revolutionäre Bewegung von Arbeitern und Jugendlichen den langjährigen Diktator Hosni Mubarak am 11. Februar zum Rücktritt zwang. Hunderttausende versammelten sich in der Hauptstadt Kairo und anderen Städten, um gegen die Politik der nach Mubaraks Sturz eingesetzten Militärregierung zu protestieren.

Eine der Parolen der Demonstranten war der Aufruf zu einer “zweiten Revolution”. Hinter dieser Formulierung verbirgt sich das kritische Verständnis, dass Mubaraks Sturz vor dreieinhalb Monaten die grundlegenden demokratischen und gesellschaftlichen Hoffnungen der Massenproteste nicht erfüllt hat.

Was demokratische Rechte anbetrifft, so hat das Regime die Notstandsgesetze aufrechterhalten, deren Abschaffung eine zentrale Forderung der Revolution war. Im März verabschiedete das Militär ein neues Gesetz, das Streiks oder Demonstrationen, die die Wirtschaft gefährden, verbietet.

Das Militär würgt alle Diskussionen über Verfassungsänderungen ab und wird jegliche Wahlen streng kontrollieren, sofern sie überhaupt stattfinden werden. Es hat bereits jugendliche Demonstranten auf dem Tahrir-Platz brutal angegriffen. Seine Unterdrückungsmethoden zielen jedoch auf alle Teile der Arbeiterklasse ab, die die treibende Kraft der ägyptischen Revolution war.

Die Streiks, die in den Tagen vor dem 11. Februar ausbrachen, dauerten darüber hinaus an und wurden sogar ausgeweitet. Arbeiter kämpften für ihre Forderungen nach größerer Gleichheit, verbesserten Löhnen, der Rücknahme von Privatisierungen und für das demokratische Recht, sich dem Diktat der Konzerne zu widersetzen. In den vergangenen Wochen ist es zu einer Ausweitung der Kämpfe gekommen, in die Fabrikarbeiter und Ärzte einbezogen waren

Zusätzlich zu der Unterdrückung durch den Staat, sieht sich die ägyptische Arbeiterklasse nun mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert. Die Arbeitslosigkeit ist auf fast zwölf Prozent angestiegen. Die herrschende Klasse Ägyptens wird die Massenarbeitslosigkeit nutzen, um Forderungen nach höheren Löhnen und verbesserten Arbeitsbedingungen zurückzuweisen.

In der Außenpolitik hat die neue Regierung den jahrzehntelangen Eckpfeiler des ägyptischen Staates beibehalten: Das Bündnis mit den Vereinigten Staaten. Die Regierung hat eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der imperialistischen Intervention in Libyen gespielt. Was Israel angeht, so zielen die begrenzten Maßnahmen wie die teilweise Öffnung der Grenze zum Gazastreifen bei Rafah darauf ab, die heimische Opposition in Schach zu halten und Ägyptens strategische Allianz mit Israel aufrecht zu erhalten.

Die Vereinigten Staaten spielen bei der Aufrechterhaltung des Militärregimes eine entscheidende Rolle. Die amerikanische Regierung hat das Mubarak-Regime jahrzehntelang unterstützt und jahrein, jahraus Milliarden von Dollar bereitgestellt, um seinen Militär- und Polizeiapparat zu finanzieren. Als die Demonstrationen Anfang des Jahres zunahmen, unterstützte die Obama-Administration Mubarak zunächst offen, um dann hinter den Kulissen an einem „geordneten Übergang“ mitzuwirken, der Mubarak für längere Zeit an der Macht halten sollte. Vom Lauf der Dinge gezwungen, dem Klienten die Unterstützung zu versagen, kooperieren die USA nun mit dem Militär, um die eigenen Interessen zu wahren.

Die USA und die europäischen Mächte versuchen, die Situation auszunutzen, um die ägyptische Wirtschaft noch stärker für eine Durchdringung durch das Ausland zu öffnen. Es ist diese Marktliberalisierung, die die soziale Ungleichheit fördert und ursächlich zur Revolution beitrug. In seiner Rede zum Nahen Osten bestand Obama kürzlich darauf, “Amerikas Unterstützung der Demokratie” fortzusetzen, um “finanzielle Stabilität zu gewährleisten, Reformen anzuregen, konkurrenzfähige Märkte miteinander zu verzahnen und in die Weltwirtschaft zu integrieren.”

Dies sind Schlüsselwörter für die Öffnung verstaatlichter Industrien. Mit ihnen soll die ägyptische Arbeiterklasse transnationalen Konzernen zur Ausbeutung angeboten werden. Der G-8-Gipfel der vergangenen Woche hat diesen Punkt erneut aufgegriffen und die armselige Hilfe durch den IWF und andere Institutionen mit der „Reform der Märkte“ verknüpft.

Die World Socialist Website warnte am 10. Februar, dem Vorabend von Mubaraks Sturz: „Die größte Gefahr droht den ägyptischen Arbeitern, wenn sich außer den Namen und den Gesichtern des Führungspersonals nichts politisch Substantielles ändert, nachdem sie genügend gesellschaftliche Kraft entfaltet hat, um einem alternden Diktator die Macht aus den Händen zu reißen. In anderen Worten, wenn der kapitalistische Staat intakt bleibt.“

Neue und explosive Klassenkonflikte zeigen sich am Horizont. Damit diese Kämpfe Erfolg haben, ist es unabdingbar, die Lehren aus der ersten Stufe der ägyptischen Revolution zu ziehen. Der Verlauf der Revolution ist eine weitere kraftvolle Bestätigung von Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Sie besagt, dass die demokratischen Bestrebungen der Massen in einem unterdrückten ehemaligen Kolonialland wie Ägypten und ihre Befreiung von der Herrschaft des Imperialismus nur durch die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalistischen und sozialistischen Programms verwirklicht werden können.

Da ein solches unabhängiges politisches Programm und eine Partei der Arbeiterklasse fehlten, wurden die frühen Stadien der ägyptischen Revolution politisch von den Parteien der bürgerlichen “Opposition” dominiert. Die wesentliche Rolle der Moslembruderschaft und der Schichten um Mohammed ElBaradei während der Ereignisse vom Januar und Februar, die sich zunächst außerhalb ihrer Kontrolle entwickelten, bestand darin, die revolutionären Bestrebungen der Massen zu bremsen. Sie förderten Illusionen in das Militär als einer “Armee des Volkes”. Es war daraufhin noch besser in der Lage, die Arbeiter zu entwaffnen und den entscheidenden Kampf gegen das Regime zu enthaupten.

Sie spielen diese Rolle nach Mubaraks Sturz weiter. Die Moslembruderschaft unterstützt ganz offen die Militärregierung und verurteilt die Proteste des vergangenen Freitags, indem sie „Säkulare und Kommunisten“ für ihre Organisation verantwortlich macht. Was Baradei angeht, so warnte er in den vorrevolutionären Tagen, “Ägypten steht vor einer Explosion” und “die Armee muss intervenieren, um das Land zu retten.” Jetzt warnt er vor „einer weiteren Revolution, einer Revolution der Armen.“

Sein Ziel besteht darin, die USA und die Militärregierung zu beraten, wie ein solcher Aufstand am besten verhindert werden kann. Im Umkreis der offiziellen Oppositionskräfte befinden sich die verschiedenen pseudo-linken Gruppen und “unabhängigen Gewerkschaften”.

Ägyptische Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten und die Ägyptische Sozialistische Partei unterstützten ElBaradei und die Moslembruderschaft vor Mubaraks Abdankung zusammen mit ihren internationalen Verbündeten, einschließlich der Socialist Workers Party in Großbritannien und der International Socialist Organisation in den USA als progressive Kräfte des Wandels.

Jetzt haben sich diese Gruppen auf einer gemeinsamen Plattform vereinigt, deren wesentliches Ziel es ist, eine unabhängige sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse zu verhindern. Anfang des Monats vereinigten sich die verschiedenen “linken“ Gruppen in Ägypten, um die sogenannte Sozialistische Front zu bilden, die es als ihr Ziel ansieht, „mit allen progressiven und demokratischen Kräften zusammenzuarbeiten, um gemeinsame nationale Ziele zu verwirklichen“.

Anders ausgedrückt: Sie werden weiterhin daran arbeiten, die Arbeiterklasse der bürgerlichen Opposition unterzuordnen. Die grundlegende Aufgabe, vor der die ägyptischen Arbeiter stehen, ist der Aufbau einer revolutionären Führung, die darauf abzielt, die Arbeiterklasse im Kampf um die Macht zu mobilisieren und der kapitalistischen Herrschaft ein Ende zu bereiten.

Die Kämpfe, die sich in Ägypten entfalten, können allerdings nicht innerhalb Ägyptens allein erfolgreich sein und die Lehren aus Ägypten sind nicht nur Lehren für die ägyptischen Arbeiter. Zweieinhalb Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise im Herbst 2008 haben Arbeiter begonnen, sich in Massenkämpfen zu wehren. Die herrschende Klasse und ihre Repräsentanten versuchen weltweit, die Lebensbedingungen der Arbeiter, die in generationenlangem Kampf erworben wurden, zurückzuschrauben.

Der Krieg in Libyen und die Bemühungen der USA, das Militärregime in Ägypten zu stützen, sind Teil eines globalen Prozesses, der historische Einschnitte in soziale Errungenschaften in Europa und den USA vorsieht. Die Ereignisse vom Februar in Ägypten und die Erhebungen im Nahen Osten und Nordafrika waren der Beginn einer Gegenoffensive der Arbeiterklasse. Ihr Klang ist in aller Welt gehört worden.

Sie haben die Kämpfe von Arbeitern im US-Bundesstaat Wisconsin angestoßen, die nur der Anfang des Wiedererwachens der amerikanischen Arbeiterklasse waren. In Europa demonstrieren jetzt Arbeiter und Jugendliche zu Zehntausenden und Hunderttausenden gegen einen historischen Angriff auf jede Errungenschaft, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts erkämpft wurde.

Der europäische Kontinent taumelt am Rande einer neuen Wirtschaftskrise und das zu einer Zeit, in der sich Anzeichen für einen Abschwung der Weltwirtschaft mehren. In jedem Land und in jedem Kampf stellt sich die grundlegende Aufgabe von selbst: Der Aufbau einer neuen revolutionären Führung, dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale.

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