Die New York Times und die Unschuldsvermutung

Die Strafuntersuchung wegen Vergewaltigung gegen den ehemaligen Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, ist seit einigen Tagen völlig diskreditiert. Neue Informationen untergraben die Glaubwürdigkeit des angeblichen Opfers. Die Frau hat offenbar den Tathergang falsch dargestellt, über ihre Vergangenheit gelogen und mit ihrem Freund, einem Drogendealer im Gefängnis, über Telefon diskutiert, welche finanziellen Vorteile ihr der Fall verschaffen könne.

 

Trotz dieser Enthüllungen führt die New York Times ein Rückzugsgefecht, um das Verhalten der Staatsanwaltschaft zu rechtfertigen. Indirekt will sie damit auch die eigene verwerfliche Rolle in dieser Affäre vertuschen. Die Times und ihre Kolumnisten standen an der Spitze der Medienkampagne, um die Schuld von Strauss-Kahn als unanfechtbare Tatsache hinzustellen, noch ehe eine seriöse Untersuchung über den Sachverhalt begonnen hatte.

 

Vor kurzem schrieb der Wirtschafts-Kolumnist Joe Nocera in der New York Times: "Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, was Cyrus Vance, der Generalstaatsanwalt für den Bezirk Manhattan, falsch gemacht haben soll."

 

Die Argumente zu Vances Verteidigung, die Nocera vorbringt, bezeugen die politische Rückständigkeit und erschreckende Dummheit des Kolumnisten.

 

Nocera besteht darauf, dass Vance gezwungen gewesen sei, so rasch zu handeln. Strauss-Kahn habe "bereits im abflugbereiten Flugzeug Richtung Heimat gesessen. Dies ist das gleiche Land, das jahrzehntelang Roman Polanski davor geschützt hat, wegen Unzucht mit einer Minderjährigen in den USA strafrechtlich verfolgt zu werden."

 

Zumindest im Kopf des chauvinistischen Kolumnisten war die überstürzte Verhaftung von Strauss-Kahn die Retourkutsche für den Fall Polanski, eine Gelegenheit, den Franzosen eine Lektion zu erteilen. Muss man wirklich betonen, dass der Fall Polanski absolut nichts mit der Angelegenheit zu tun hat, die der Bezirksstaatsanwalt Vance zu behandeln hatte? Falls die Polanski-Affäre, wie Nocera zu glauben scheint, ein Grund für die überstürzte Verhaftung von Strauss-Kahn gewesen wäre, dann wäre dies höchstens ein Beleg für das schlechte Urteilsvermögen des Staatsanwalts und ein völlig unangemessenes Verhalten.

 

Nocera bietet eine weitere Rechtfertigung für Strauss-Kahns Festnahme: Er "scheint das Hotel, wo die Vergewaltigung angeblich stattgefunden hatte, in Eile verlassen zu haben". Es scheint? In Eile? Wie sich herausstellte, traf Strauss-Kahn seine Tochter zu einem geplanten Mittagessen in der Nähe des Hotels. Nocera führt ein weiteres Indiz für das verdächtige Verhalten vor: "Er [Strauss-Kahn] vergaß sogar eines seiner Handys mitzunehmen." Wenn das mal kein Beweis für eine Vergewaltigung ist, so Nocera.

 

Nocera fährt unverzüglich fort: "In letzter Minute lockten die Beamten ihn [Strauss-Kahn] aus dem Flugzeug und verhafteten ihn." Tatsächlich jedoch wurde Strauss-Kahn nicht aus dem Flugzeug gelockt. Er hatte zuvor im Hotel angerufen, um sein vermisstes Telefon zu melden. Er informierte das Hotel, dass er am Flughafen sei, um mit einem bereits lange im Voraus gebuchten Flug nach Frankreich zu reisen. Als die Beamten das Flugzeug bestiegen und darum baten, mit ihm zu sprechen, verließ Strauss-Kahn seinen Platz ohne Widerstand. Nichts an seinem Verhalten wies darauf hin, dass er erwartete, verhaftet zu werden.

 

Der nächste Abschnitt ist besonders beunruhigend. "Nachdem er verhaftet wurde und mit einem Anwalt gesprochen hatte, weigerte er sich, über den Vorfall zu sprechen." Was Nocera betrifft, ist das verfassungsmäßige Recht jedes Einzelnen, zu schweigen und Rechtsbeistand zu suchen, offenbar schon verdächtig oder sogar schon ein Schuldbeweis.

 

Dann geht Nocera beiläufig auf die Behandlung ein, die Strauss-Kahn zuteil wurde: "Er wird öffentlich erniedrigt und den Medien als Tatverdächtiger vorgeführt, und die nächsten fünf Tage verbringt er im Gefängnis, bis er schließlich angeklagt wird", schreibt Nocera. "Nun, da der Mann nicht mehr fliehen kann, richten die Staatsanwälte ihre Aufmerksamkeit wiederum auf das mutmaßliche Opfer."

 

Das heißt doch nichts anderes, als dass die Staatsanwaltschaft erst nach Strauss-Kahns Einweisung ins Gefängnis und nach seinem erzwungenen Rücktritt vom IWF damit begann, den Vorwürfen gegen ihn ernsthaft auf den Grund zu gehen!

 

Vance ordnete an, Strauss-Kahn wegen Vergewaltigung festzunehmen, kurz nachdem die Hotelangestellte erstmals angab, sexuell missbraucht worden zu sein. Die Entscheidung, Strauss-Kahn aus dem Flugzeug zu holen und ihn zu verhaften, beruhte auf nichts anderem als der ungeprüften Behauptung eines mutmaßlichen Opfers.

 

Was wusste Vance zu dem Zeitpunkt, als er die Festnahme anordnete? Auf welcher Faktenlage konnte er entscheiden, dass ein Verbrechen begangen worden sei, und dass die Behauptungen des Hotelzimmermädchens glaubwürdig seien? Wie sorgfältig wurde die Geschichte des vermeintlichen Opfers untersucht? Hat der Staatsanwalt sich Zeit genommen, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass politische Feinde Strauss-Kahn, dem Vorsitzenden des IWF und führenden französischen Politiker, eine Falle gestellt haben könnten? Offenbar entschied sich der Staatsanwalt bewusst für ein extremes und besonders radikales Vorgehen. Fünf Tage später, als immer noch keine anderen Beweise als die ungeprüften Behauptungen der Anklägerin vorlagen, forderte und erhielt die Staatsanwaltschaft eine Anklage.

 

Strauss-Kahns bevorstehende Abreise nach Paris aufgrund von Reiseplänen, die schon lange feststanden, rechtfertigt keine solch radikale Anklage. Auch ohne Strauss-Kahns Verhaftung hätte die Untersuchung zügig durchgeführt werden können.

 

Dem Bezirksstaatsanwalt Vance standen andere Möglichkeiten zur Verfügung. Die Polizei hätte Strauss-Kahn bitten können, seine Abreise zu verschieben, bis die gegen ihn erhobenen Vorwürfe geklärt wären. Und was, wenn Strauss-Kahn nach Frankreich abgereist wäre? Wenn die Untersuchung tatsächlich Beweise für eine Anklage geliefert hätte, wäre Strauss-Kahn als Chef des IWF mit Sitz in Washington, District of Columbia, und als prominenter Politiker in Frankreich stark unter Druck gewesen, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren und seinen Ruf zu verteidigen.

 

Heute jedenfalls ist klar: Hätte der Staatsanwalt sich die Zeit genommen, eine Untersuchung durchzuführen, hätte es nie einen Haftbefehl gegeben.

 

Was ein derartiges Fehlverhalten der Ankläger für die demokratischen Rechte bedeutet, liegt auf der Hand: Was die Staatsanwaltschaft Strauss-Kahn antat, könnte sie jeder unschuldigen Person antun. In der Tat, wenn es möglich ist, dass die Rechte eines so mächtigen Mannes wie Strauss-Kahn auf derart verabscheuungswürdige Weise durch einen ehrgeizigen, politisch motivierten und rachsüchtigen Staatsanwalt verletzt werden können, was bedeutet das für Leute wie dich und mich, die weder die Mittel, noch das öffentliche Profil haben, um sich selbst zu verteidigen?

 

Nocera versucht die Tatsache, dass die Anklage so rasch geplatzt ist, als Triumph der Integrität des Staatsanwalts hinzustellen. "Die Staatsanwälte zögerten nicht lange und ließen seine [Strauss-Kahns] Anwälte die entlastenden Fakten [über die Anklägerin] wissen. ... Vance versuchte nicht, zu behaupten, er habe eine todsichere Anklage, wie es so viele Staatsanwälte tun. ... Vance verheimlichte oder verzögerte die Wahrheit über die Vergangenheit des Opfers nicht."

 

Nocera stellt es so dar, als sei dieses Vorgehen ein Akt der Großzügigkeit und des Wohlwollens seitens der Staatsanwaltschaft. In Wirklichkeit ist der Staatsanwalt nach dem vierzehnten US-Verfassungszusatz verpflichtet, der Verteidigung entlastende Beweise bekanntzugeben. Dieses demokratische, für jedes Gerichtsverfahren unverzichtbare Recht wurde vom Obersten Gerichtshof zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung in dem berühmten und historischen Fall von Brady vs. Maryland, im Jahre 1963, ausgearbeitet und verteidigt.

 

Nocera behauptet, die Staatsanwaltschaft sei jetzt mit der "schmerzlichen" Entscheidung konfrontiert, ob sie die Anklage fortführen solle oder nicht. In der Rechtsprechung ist es einem Staatsanwalt jedoch verboten, eine Anklage ohne hinreichenden Verdacht weiterzuverfolgen. Die Anklage ohne hinreichenden Verdacht weiterzuverfolgen, wird als "böswillige Einleitung eines Strafverfahrens" betrachtet.

 

Zunächst gibt Noceras zu, dass sich die Einzelheiten über die Anklägerin zu einem "verheerenden Bild ihrer Vergangenheit“ fügten, „mit beunruhigenden Widersprüchen, Lügen und der Möglichkeit, aus der angeblichen Qual einen Gewinn herauszuschlagen". Doch gleich danach behauptet er Strauss-Kahns unumstößliche Schuld.

 

"Trotz Strauss-Kahns Demütigung ist eins sicher: in diesem Hotelzimmer ist etwas sehr Schlimmes geschehen." Sicher? In der Frage, was in dieser Hotesuite des Sofitel vorgegangen ist, ist absolut nichts sicher. Etwas „ganz Schlimmes“ ist passiert? Ist das die Meinung eines selbsternannten Moralisten oder eines Strafrechtsexperten? Er fügt hinzu: "Es ist durchaus möglich, dass ein Verbrechen begangen wurde." Durchaus möglich? Es ist auch durchaus möglich und vielleicht sogar wahrscheinlich, dass keine Straftat begangen wurde. Sollten wir uns nicht besser mit Tatsachen abgeben?

 

Der Times-Kolumnist erklärt, Strauss-Kahns "schmutzige sexuelle Vergangenheit macht es sehr wahrscheinlich, dass er der Anstifter war". Hier verkauft Nocera, ein skrupelloser Journalist, einfach schlüpfrigen Klatsch. Darüber hinaus ist aus rechtlicher Sicht Strauss-Kahns "sexuelle Vergangenheit", die kein strafrechtlich relevantes Verhalten beinhaltet, irrelevant. Und falls nicht, – glaubt Herr Nocera etwa auch, es sei angemessen, die "sexuelle Vergangenheit" von Strauss-Kahns Anklägerin zu untersuchen?

 

In einer besonders üblen Passagen seines Machwerks schreibt Nocera über die Behandlung, die Strauss-Kahn zuteil wurde: "Wenn das Schlimmste, was er erleiden musste, darin besteht, dass er vor den Medien zur Schau gestellt wurde, ein paar Tage auf der Gefängnisinsel Rikers Island eingesperrt war und dazu einige böse Schlagzeilen erhielt, dann muss einem das Herz nicht bluten. Ach ja, und er musste als Chef einer Institution zurücktreten, in der sexuelle Belästigung angeblich gang und gäbe ist, dank einer Kultur, die er zum Teil selbst begünstigt hat. Mann, ist das nicht schrecklich." [Hervorhebung hinzugefügt]

 

Ja, es war in der Tat schrecklich. Die demokratischen Grundrechte eines Menschen wurden mit Füßen getreten, seine Karriere und sein Ruf wurden ruiniert und er war im Gefängnis, ehe noch eine Untersuchung eingeleitet wurde, geschweige denn, dass er von einer Jury für schuldig befunden worden wäre. Nocera behandelt dies alles wie einen großen Scherz. Auch wenn er in dieser Angelegenheit unschuldig wäre, gemäß Nocera, hätte Strauss-Kahn bekommen, was er verdiente. Das wird die Franzosen lehren, sich mit uns anzulegen!

 

Nocera schließt seinen Artikel mit chauvinistischen Sprüchen über Frankreich. Er bezeichnet es als "ein Land, wo die Eliten nur selten zur Rechenschaft gezogen werden, wo Verbrechen gegen Frauen routinemäßig großzügig entschuldigt werden, und wo Menschen ohne Geld oder Status als die Nichtsnutze behandelt werden, für welche die besitzende Klasse Frankreichs sie hält".

 

Nocera verkündet bombastisch, wie glücklich wir Amerikaner doch sind, in einem Land leben zu können, wo die Prinzipien der Demokratie und der Gleichheit das öffentliche Leben bestimmen! Er schreibt, die Strafverfolgung von Strauss-Kahn sei "ein Beweis dafür, dass wir unsere Ideale wirklich auch leben, von denen wir gerne glauben, dass wir sie verfolgen. Auch die Art und Weise wie der Fall zu enden scheint, spricht unsere edleren Gefühle an."

 

Verschone uns mit diesem patriotischen Gefasel. Die amerikanische herrschende Klasse ist unübertroffen, wenn es um die verächtliche Behandlung der großen Mehrheit der Bürger geht.

 

Nocera ist ein Schuft, der durch die Ausübung seiner Unwissenheit und Rückständigkeit zur Beschränktheit der öffentlichen Meinung beiträgt.

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