Martin Luther King und das Schicksal der Bürgerrechtsbewegung

Am Montag wurde in Washington DC das neue Denkmal für Martin Luther King enthüllt. Die ganze Woche über fanden dazu Feierlichkeiten in der Hauptstadt statt, und am Sonntag hätten sie mit der Einweihung durch den Präsidenten Obama ihren Abschluss finden sollen. Allerdings wurde dies aufgrund des Hurrikans Irene verschoben. Man hatte mit Hunderttausenden von Zuschauern gerechnet.

Das Medienestablishment nutzt den Anlass, um der heutigen politischen Prominenz in Amerika die Möglichkeit zu verschaffen, sich unverdienterweise mit King auf eine Stufe zu stellen. Keiner profitiert von diesem Vergleich mehr als Obama, und keiner verdient ihn weniger als er.

Die Gedenkstätte besteht aus einer riesigen Statue des Bürgerrechtlers, umgeben von Mauern, auf denen Zitate aus vielen seiner Reden und Schriften zu lesen sind. Es ist an dieser Stelle angebracht, an einige seiner radikaleren Aufrufe zu erinnern, die jene, welche die blutigen Kämpfe der Sechziger reinzuwaschen versuchen, sich lieber nicht ins Gedächtnis rufen, geschweige denn in Stein meißeln wollen.

Bei einem Treffen mit seinen Mitarbeitern vom Southern Christian Leadership Council sagte King, die Reformen der frühen Sechziger seien „hauptsächlich auf die schwarze Mittelschicht beschränkt“ gewesen, und es sei nötig, die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zur Sprache zu bringen. „Wir sagen: Es läuft etwas schief (…) mit dem Kapitalismus. (…) Der Reichtum muss besser verteilt werden, und vielleicht muss sich Amerika in Richtung eines demokratischen Sozialismus entwickeln.“

In seiner mutigen öffentlichen Rede gegen den Vietnamkrieg sagte King: „Wir sind in diesem Krieg Verbrecher“, und: „Wir haben mehr Kriegsverbrechen begangen als jede andere Nation der Welt.“ Auch brandmarkte er die Regierung der Vereinigten Staaten als „größten Gewaltlieferanten der heutigen Welt.“

King war ein pazifistischer Prediger, er war kein Sozialist oder Revolutionär, und sein bürgerlicher Radikalismus brach nie mit dem Zweiparteiensystem. Aber wer könnte sich vorstellen, dass ein heutiger Politiker der Demokratischen Partei ein derart vernichtendes Urteil über die Verbrechen fällt, die der amerikanische Kapitalismus im In- und Ausland begeht? Es ist unmöglich.

Die Zeremonien um das Denkmal finden vor dem Hintergrund einer wachsenden Wirtschafts- und sozialen Krise statt, die zu einem Rekordniveau von Armut und Hunger, besonders unter Schwarzen und anderen Minderheiten, geführt hat. Aufgrund der rechten, wirtschaftsfreundlichen Politik der Obama-Regierung wächst die Desillusionierung unter Arbeitern und Jugendlichen. Die Gedenkstätte für King wird zynisch dafür genutzt, von dieser sozial berechtigten Wut abzulenken und Unterstützung für Obamas Wiederwahl zu gewinnen.

Die Bürgerrechtsbewegung, die Martin Luther King Jr. anführte, hatte weitreichende Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft. Millionen schwarze Arbeiter und Jugendliche, unterstützt von weiteren Millionen im ganzen Land, beteiligten sich an den Massenkämpfen, die die Rassentrennung im Süden zu Fall brachten.

Aufgrund der reaktionären Politik des Gewerkschaftsbundes AFL-CIO und der Orientierung der sogenannten „Linken“ Amerikas an den Demokraten blieb die Führung dieser Massenbewegung in den Händen eines Teils des schwarzen Klerus. Schließlich wurde sie in politisch sichere Kanäle geleitet, besonders nachdem King 1968 ermordet worden war.

Statt zum Ausgangspunkt eines Kampfs gegen das kapitalistische System als solches zu werden, wurde das Ende der staatlich abgesegneten Rassenunterdrückung im Süden die Grundlage für eine schäbige Übereinkunft zwischen der herrschenden Klasse Amerikas und einer privilegierten Schicht der schwarzen oberen Mittelschicht.

Präsident Richard Nixon, der Schöpfer der Politik der „affirmative action“ (Vorzugsbehandlung von Minderheiten) gab den ideologischen Tenor dieser Übereinkunft vor. Er rief zur Schaffung eines „schwarzen Kapitalismus’“ auf, d.h. zur Entwicklung einer kleinen Schicht innerhalb der schwarzen Bevölkerung, der es zumindest erlaubt war, die äußeren Zirkel der herrschenden Klasse zu betreten.

Als Ergebnis dieser Politik kamen nach den Massenaufständen der Sechziger in einer Stadt nach der anderen schwarze Bürgermeister an die Macht, und „Quotenschwarze“ wurden in die Hierarchien der Wirtschaft, des Militärs und der Regierung aufgenommen. Die Strukturen blieben intakt, sie waren nur etwas „bunter“ geworden.

So ernannte Präsident George W. Bush erst Colin Powell, dann Condoleezza Rice zu Außenministern. Acht Jahre lang dienten Afroamerikaner dem US-Imperialismus als oberste internationale Repräsentanten, ohne dass seine Außenpolitik weniger räuberisch und reaktionär, und ohne dass die Kriege der USA weniger brutal geworden wären.

Zur selben Zeit verschlechterte sich der Lebensstandard der schwarzen Arbeiter und der Arbeiterklasse insgesamt immer mehr.

Die Integration einer Teils der schwarzen Mittelschicht war Bestandteil einer allgemeinen Entwicklung: Ehemalige Antikriegs-Aktivisten aus der Mittelschicht, Akademiker und Intellektuelle wiesen jede Form von Klassenorientierung zurück. Stattdessen wandten sie sich einer Identitäts- und Lifestyle-Politik und diversen „linken“, aber antimarxistischen Ideologien zu. Den Kämpfen und Interessen der Arbeiterklasse gegenüber zeigten sie sich gleichgültig und letzten Endes feindlich. Das Ziel bestand darin, eine neue, „linke“ Anhängerschaft des amerikanischen Imperialismus zu entwickeln.

Obama ist der Höhepunkt dieser Entwicklung: Ein rechter Militarist, ein Wall Street-freundlicher Präsident, der Afroamerikaner ist. Dass er Präsident wurde, ist nicht das Ergebnis von jahrzehntelangem Fortschritt der Bürgerrechtsbewegung, sondern eines Schachzugs der reichen Wirtschaftslobbyisten in der Demokratischen Partei: Sie nutzten die Hautfarbe des Kandidaten, um ihre reaktionäre Politik zu kaschieren.

Martin Luther King wurde auf dem Höhepunkt seiner Karriere ermordet, als er begann, radikale Schlüsse zu ziehen. Er sah es als notwendig an, die Kämpfe der Schwarzen im Süden mit denen der Arbeiterklasse im ganzen Land zu verbinden, wie auch den Kampf für soziale Gerechtigkeit im eigenen Land mit dem Widerstand gegen imperialistische Kriege im Ausland.

Wie beschränkt die reformistische Perspektive von King und seiner Bewegung war, hat der Lauf der Geschichte seither gezeigt. Es erwies sich als unmöglich, die amerikanische Gesellschaft in ihren Grundfesten durch moralische Appelle zu verändern, egal wie aufrichtig diese sein mochten. Dazu ist in Wirklichkeit eine andere Perspektive notwendig, die sich auf die Logik des Klassenkampfs stützt.

Amerikanische Arbeiter können die demokratischen Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung auf ihrem Höhepunkt nur respektieren und ehren, wenn sie die notwendigen politischen Schlüsse aus ihrem Schicksal ziehen.

Die arbeitende Bevölkerung muss den politischen Kampf gegen das kapitalistische System und für eine sozialistische und internationalistische Perspektive aufnehmen. Die Verteidigung demokratischer Grundrechte muss mit dem Kampf für Arbeitsplätze, Lebensstandard und Sozialleistungen verbunden werden. Keins dieser Ziele kann in einer Gesellschaft erreicht werden, in der eine winzige Handvoll Multimillionäre das Monopol auf Reichtum und die ganze politische Macht besitzt.

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