Ideologische Wurzeln der Gewalttat von Oslo

Seit den Anschlägen von Oslo streitet das bürgerliche Establishment Europas unisono ab, dass Anders Behring Breiviks mörderischer Amoklauf seine Wurzeln in antiislamistischen Vorurteilen haben könnte, wie sie in der Mainstream-Politik gang und gäbe sind.

Seit dem ersten Ausbruch öffentlicher Empörung über einen Menschen, der Dutzende Jugendliche und Kinder kaltblütig erschoss, erläutern Politiker und Medienkommentatoren in aller Ausführlichkeit, warum sie keinerlei Verantwortung für Breiviks Anschläge tragen. Sie spielen herunter, dass sie das gesellschaftliche Klima des Fremdenhasses, in dem Breiviks Angriff stattfand, systematisch geschürt haben.

Wenige Tage nach dem Angriff führte Boris Johnson, der Bürgermeister von London, in einem Beitrag für den Daily Telegraph Breiviks von langer Hand geplante Anschläge auf die Frage des persönlichen Egoismus zurück. Johnson schreibt: „Es ging nicht um Einwanderung oder Eurabien, oder um die Hadith oder eine Verschwörung der Eurokraten gegen das Volk. Es ging nicht wirklich um Ideologie oder Religion. Es ging ausschließlich um ihn …“

Für die konservative Schweizer Neue Zürcher Zeitung ist Breivik ein gewaltsüchtiger gesellschaftlicher Außenseiter. Bei der NZZ heißt es, ein Graben trenne Populismus und Extremismus, und jeder Versuch, den Massenmörder von Norwegen in Verbindung mit dem Erstarken des Rechtspopulismus zu bringen, sei „moderner Geisterglauben“. Die Argumentation der NZZ ist offenbar darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit von der ultrarechten SVP (Schweizer Volkspartei) abzulenken, der größten Islam-feindlichen Partei der Schweiz, die sich für die Einführung eines Minarettbauverbots einsetzte.

Der britische Journalist Simon Jenkins brachte schließlich den Versuch der politischen Klasse auf den Punkt, zu den Osloer Vorfällen die Hände in Unschuld zu waschen. Anfang der Woche schrieb er im Guardian: „Die norwegische Tragödie ist nur eins: eine Tragödie. Sie sagt nichts aus, und das sollte auch nicht erzwungen werden. Ein kranker Mann, der nichts Falsches darin erblickt, 68 junge Menschen kaltblütig niederzuschießen, ist so abnorm, dass er für Kriminologie und Gehirnforschung von Interesse ist, nicht aber für Politik.“

Neben dieser Verleugnung politischer Zusammenhänge zwischen “bürgerlicher Mitte” und dem Anschlag in Oslo gab es mehrere Interviews und Reportagen, die ausdrücklich in Abrede stellten, dass Breivik ein Faschist sei. Ein schwedischer Journalist bestritt in der Süddeutschen Zeitung, dass Breivik Neonazi sei. Neonazis seien Antisemiten, während die antiislamistische Strömung, der Breivik angehört, israelfreundlich ausgerichtet sei.

Dasselbe Argument nutzt auch der Deutsche Verfassungsschutz, der in dieser Woche einen zehnseitigen Brief an andere Geheimdienste verschickt hat, in welchem er erklärte, dass Breivik aufgrund seiner Unterstützung für Israel und seiner diffusen Ideologie nicht als Neonazi bezeichnet werden könne.

In Wirklichkeit zeigt eine nähere Betrachtung der Ideologie, die Breivik in seinem tausendfünfhundertseitigem Manifest darlegt, seine umfassende geistige Verwandtschaft mit faschistischen Ideen. Besonders Breiviks Hass auf die organisierte Arbeiterklasse und den Sozialismus, den er in zahllosen bösartigen Tiraden gegen die Linke und den „Kulturmarxismus“ ausdrückt, ist elementares Handwerkszeug aller faschistischen Ideologie. Breivik ist politisch zu unwissend, als dass er den wesentlichen Unterschied zwischen Kommunismus und Stalinismus kennen würde, doch sein Online-Video beginnt nicht zufällig mit der Szene am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Sowjetflagge über den Ruinen des Deutschen Reichstages gehisst wurde. Für Breivik bedeutet diese Handlung den Beginn der Herrschaft der „kulturmarxistischen Linken“, wie er sie nennt, über das Nachkriegseuropa.

Tatsächlich hat die marxistische Bewegung die historischen und klassenspezifischen Wurzeln des Faschismus immer klar definiert. Als Leo Trotzki in den 1930er Jahren über Hitlers Machtergreifung schrieb, bezeichnete er das Wesen des Faschismus als „Reaktion der bürgerlichen Klasse auf die Bedrohung durch die proletarische Revolution“.

Es ist auch nicht unwichtig, dass das Ziel von Breiviks Terrorangriff eine Organisation – die Norwegische Arbeiterpartei – war, die er fälschlicherweise mit der Linken und der Arbeiterklasse identifizierte.

Breiviks Bombast gegen Multikulturalismus und seine Verteidigung des Nationalismus ähneln den Kommentaren, die auf vielen Websites der Neonazis und in ihren Publikationen zu finden sind.

Den für Nazis typischen Antisemitismus ersetzt Breivik durch Antiislamismus. In dieser Hinsicht befindet er sich in bester Gesellschaft, nicht nur der rechtsextremen Organisationen und Parteien, die im europäischen Mainstream ihre Rolle spielen, sondern auch von breiten Schichten der politischen Mitte, einschließlich Sozialdemokraten und Ex-„Radikale“.

Breiviks Warnung vor einer islamischen Machtübernahme in Europa und den Gefahren einer multikulturellen Gesellschaft ist praktisch identisch mit den Tiraden der ausländerfeindlichen Norwegischen Fortschrittspartei, deren Mitglied er fast zehn Jahre lang war. Obwohl die muslimische Gemeinde in Norwegen nur eine verschwindende Minorität (1,6 Prozent der Bevölkerung) ausmacht, stellt die Kampagne gegen die „zügellose Islamisierung“ einen zentralen Aspekt des Programms der Fortschrittspartei dar.

Ähnliche antiislamische Patentmittel werden von der Dänischen Volkspartei propagiert, die seit 2001 der liberal-konservativen Minderheitsregierung politische Unterstützung gewährt. Dänemark, lange Zeit ein besonders liberales Land in Europa bezüglich der Ausländerintegration, hat in den letzten Jahren extrem repressive Einwanderungsgesetze eingeführt.

Breiviks Antiislamismus findet auch in der Ideologie der Schwedendemokraten ein entsprechendes Echo, die mit der Devise „Halte Schweden schwedisch“ im September erstmals Vertreter ins nationale Parlament entsenden konnte. Auch die Ideologie der „Wahren Finnen“, die in diesem Jahr mit fast zwanzig Prozent der Wählerstimmen ins finnische Parlament einzogen, ist davon geprägt.

Ein schwedischer Experte für nationalistische Bewegungen kam kürzlich in einem Kommentar über die wachsende Einbindung skandinavischer Rechtsradikaler in die bürgerliche Politik zum Schluss: „Sie sind etabliert, sie sind jetzt Teil des Mainstreams.“

Außerhalb Skandinaviens finden sich antiislamische Positionen, wie die von Breivik, im Programm der niederländischen Freiheitspartei (PVV) und den Reden ihres Führers Geert Wilders, wie auch in Programm und Praxis der Lega Nord, die Italien in einer Koalition mit der Partei von Silvio Berlusconi regiert. In der Tat sind einige führende Mitglieder der Lega vor kurzem an die Öffentlichkeit getreten, um Breivik und seine Ideologie zu verteidigen.

In Frankreich haben mehrere Regierungen den Antiislamismus nicht nur propagiert, sondern sein Programm auch in die Tat umgesetzt. Bereits im Jahr 2004 führte die Regierung von Jacques Chirac ein gesetzliches Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen ein. Dieses rassistische Gesetz wurde nicht nur von der Sozialistischen Partei, sondern auch von der ehemals radikalen Gruppe Lutte Ouvrière (LO) unterstützt. Seitdem hat die Regierung Nicolas Sarkozys die Kampagne gegen die Muslime im Land systematisch verschärft – wieder mit Unterstützung der Sozialistischen Partei.

Der öffentliche Antiislamismus beschränkt sich nicht nur auf europäische Parteien. Auch viele Akademiker, Journalisten und Ideologen in Europa und Amerika propagieren ihn und befolgen seit den Attentaten vom 11. September 2001 den Aufruf des US-Präsidenten George W. Bush zu einem „Kreuzzug gegen des Islamismus“.

Im Jahr 2006 veröffentlichte der amerikanische Publizist Bruce Bawer sein Buch While Europe Slept (Als Europa schlief), das Europas kulturellen Abstieg mit muslimischer Immigration zu erklären versucht. In seinem Blog erklärt Bawer, er habe seine rassistischen Ansichten in den späten 1990er Jahren während eines Aufenthalts in Europa (besonders in Oslo) entwickelt.

Ein Jahr später schrieb der amerikanische Autor Walter Laquer über dasselbe Thema in seinem Buch The last Days of Europe [Die letzten Tage von Europa: Ein Kontinent verändert sein Gesicht, 2008]. Ihm folgte der Journalist Christopher Caldwell mit seinem Buch Reflections on the Revolution in Europe. Caldwell schreibt in den Vereinigten Staaten regelmäßig für Murdochs Weekly Standard und für das weltweit führende Finanzblatt Financial Times.

Die Speerspitze der ideologischen Kampagne gegen Islamismus in Europa nimmt die italienische Journalistin Oriana Fallaci ein, eine ehemalige Widerstandskämpferin gegen Mussolini, die nicht weniger als drei Bücher schrieb, um die muslimische Einwanderung in Europa zu beklagen. In einem Interview mit dem Wall Street Journal 2005 erklärte Fallaci, wegen des wachsenden Einflusses des Islamismus müsse man Europa eigentlich „Eurabien“ nennen.

In Großbritannien wurde das Thema “Eurabien” im selben Jahr vom reaktionären Spectator-Magazin in einer Ausgabe mit der Schlagzeile „Eurabischer Alptraum“ aufgegriffen.

Diesem Magazin lieferte kein geringerer als der oben erwähnte Boris Johnson einen großen Beitrag zur Sturzflut antimuslimischer Vorurteile. Darin trumpfte er mit er Forderung auf, man müsse mit dem „ersten Tabu“ brechen „und akzeptieren, dass der Islam das Problem sei. Der Islam ist das Problem“. Weiter bezeichnete Johnson den Islamismus als “sektiererischste aller Religionen“. Das kam vom selben Mann, der jetzt behauptet, der Antiislamist und Faschist Breivik habe aus rein persönlichen Motiven gehandelt!

In Deutschland führt der glühende Zionist und frühere Linke Henryk M. Broder einen besonders bösartigen Feldzug gegen den Islam. In Breiviks Manifest wird Broder mehrfach zustimmend zitiert. Broder verfasst seine antiislamischen Hetzartikel für die Tageszeitung Die Welt und das in Europa meistgelesene Wochenmagazin Der Spiegel.

Letztes Jahr erhielt Broder erhebliche Unterstützung vom SPD-Mitglied und früheren Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin. Dieser schrieb selbst ein fanatisches Buch zur Diffamierung der im Lande wohnenden arabischen und türkischen Menschen mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“.

Kaum eine Woche nach dem Massaker von Oslo brachte eine der meistgelesenen deutschen Tageszeitungen, die Süddeutsche Zeitung, Sarrazin in einem Titelfoto und einem überschwänglichen Feature. Kanzlerin Angela Merkel versucht sich von seinen Thesen inzwischen etwas zu distanzieren, nachdem sie Sarrazins rassistisches Gift anfangs unterstützt hatte. Ihr abschätziges Urteil über die multikulturelle Gesellschaft (das sie mit dem britischen Premierminister David Cameron teilt) ist indes aktenkundig.

Die Botschaft der Kommentatoren und Politiker von beiden Seiten des Atlantiks ist klar. Aggressiver Antiislamismus, die Verurteilung einer auf das Nebeneinander verschiedener Menschen beruhenden Gesellschaft, fanatischer Nationalismus und Hass auf die politische Linke – alles typische Wesenszüge des modernen Faschismus – sind allgemein akzeptierte Elemente des politischen Diskurses. Wenn Breivik an diese faschistische Politik anknüpft, muss dies heruntergespielt und vor der Öffentlichkeit verborgen werden, damit solche Ideen auch weiterhin diskutiert und im Bewusstsein verankert werden können.

Diese öffentliche Reaktion auf den terroristischen Anschlag in Oslo reflektiert eine soziale Ordnung, die sich im Zustand tiefster politischer und moralischer Fäulnis befindet.

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