Obama-Regierung nimmt für sich das Recht in Anspruch, Amerikaner zu ermorden

Die Obama-Regierung verfasste im letzten Jahr ein geheimes juristisches Memorandum, in dem behauptet wird, der Präsident habe die Befugnis, die Ermordung eines amerikanischen Bürgers ohne Gerichtsverfahren anzuordnen. Von dieser Vollmacht wurde vor zehn Tagen Gebrauch gemacht, als Anwar al-Awlaki, ein radikaler islamischer Geistlicher, der in den Vereinigten Staaten als Sohn jemenitischer Eltern geboren wurde, durch einen Drohnenangriff umgebracht wurde.

Awlaki und drei weitere Männer – einer davon, Samir Khan, ebenfalls amerikanischer Staatsbürger – wurden von einer Rakete in die Luft gesprengt, die von einer CIA-Drohne im Nordjemen abgeschossen wurde. Die Obama-Regierung behauptet, ohne Beweise dafür vorzulegen, Awlaki sei ein hochrangiger „operativer Führer“ der al-Quaida auf der Arabischen Halbinsel und rechtfertigt den Mord als präventive Militäraktion – mit fast den gleichen Worten wie die Bush-Regierung zuvor.

Über die Einzelheiten des juristischen Memorandums wurde auf der ersten Seite der Sonntagsausgabe der New York Times berichtet – offensichtlich ein Versuch der Schadensbegrenzung durch die Obama-Regierung. Über die Existenz des Dokuments wurde am 1. Oktober in der Washington Post berichtet. Dort bezeichnet man dieses Dokument als „Versuch, zumindest intern, eine juristische Debatte darüber zum Abschluss zu bringen, ob ein Präsident die Ermordung eines US-Bürgers im Ausland als Antiterror-Maßnahme anordnen kann“.

Dem Times-Berichterstatter Charlie Savage wurde nicht gestattet, das Memo selbst einzusehen, aber einige Regierungsvertreter beschrieben es als 50-seitiges Dokument, verfasst vom Rechtsbüro des Justizministeriums (Justice Department’s Office of Legal Counsel). Das ist dieselbe Regierungsstelle, die unter der Bush-Regierung die berüchtigten „Folter-Memos“ verfasst hatte; darin wurden Waterboarding und andere Misshandlungen in Guantanamo Bay und in anderen vom US-amerikanischen Militär und der CIA geführten Gefängnissen gerechtfertigt.

Die Times berichtet: „Die Rechtsanalyse kommt im Wesentlichen zu dem Schluss, dass es juristisch erlaubt war, Mr. Awlaki zu töten, wenn man ihn nicht gefangen nehmen konnte. Denn die Geheimdienste hatten erklärt, dass er an dem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und al-Quaida beteiligt war und eine erhebliche Gefährdung für Amerikaner darstellte und dass die Machthaber im Jemen nicht in der Lage oder nicht willens waren, ihm das Handwerk zu legen.“

Der umfassende Charakter dieses Anspruchs präsidialer Macht zeigt sich schon an der Zahl der Tötungsverbote, die aufgehoben werden mussten. Die Times schrieb: „Das geheime Dokument lieferte die Rechtfertigung zum Handeln trotz einer Verfügung des Präsidenten, das Tötungen verbietet, trotz eines Bundesgesetzes gegen Mord, trotz der Schutzklauseln in der Freiheitsurkunde der USA (Bill of Rights) und trotz mehrerer Einschränkungen im internationalen Kriegsrecht ... .“

Der Times-Artikel zählt dann völlig unkritisch, eine nach der anderen, die verschiedenen juristischen Sophistereien auf, die von Seiten der Rechtsanwälte des Justizministeriums vorgebracht werden, um das Recht des Präsidenten zu unterstützen, den seit langen Jahren bestehenden Rechtsschutz gegen staatlichen Mord zu ignorieren, wie z. B. das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren entsprechend dem Fünften Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten (siehe auch „The legal implications of the Awlaki assassination“).

Der vielleicht wichtigste Satz in diesem Artikel und derjenige, der die Rolle der New York Times als Sprachrohr des US-Militär- und Geheimdienst-Apparats auf den Punkt bringt, steht im dritten Absatz, wo Folgendes behauptet wird: „Das Memorandum wurde jedoch sehr eng auf die Besonderheiten des Falls von Mr. Awlaki zugeschnitten und hat keine neue breitere Rechtslehre festgeschrieben, um das gezielte Töten von beliebigen Amerikanern zu erlauben, von denen man annimmt, dass sie eine terroristische Gefahr darstellen.“

Der Zweck dieser Versicherung besteht darin, die Kritik von Bürgerrechts- und moslemischen Gruppen an der nicht anfechtbaren Machtbefugnis des Präsidenten zurückzuweisen, den Befehl zur Tötung eines amerikanischen Bürgers zu geben. Auch in der Presse gab es vereinzelt Bedenken.

Die Medien haben im Allgemeinen den staatlichen Mord an einem US-Bürger stillschweigend unterstützt. Auf Obamas erster Pressekonferenz im Weißen Haus seit dem Mord an Awlaki, am letzten Donnerstag, hat nicht ein einziger Reporter eine Frage zu dem Mord gestellt.

Die Schlussfolgerungen aus dem juristischen Memorandum und dem anschließenden CIA-Mord sind wirklich erschreckend, denn es gibt faktisch keine Grenzen des Anspruchs der Exekutive auf das Recht zu töten. Denn es kann weder juristisch angefochten werden, noch unterliegt es einer gerichtlichen Überprüfung, sondern ist vollständig geheim. Sowohl die Auswahl des Zielobjekts als auch seine letztendliche Vernichtung sind willkürliche und nicht nachprüfbare Maßnahmen.

Die American Civil Liberties Union (Amerikanische Bürgerrechtsvereinigung) erklärte in einer Stellungnahme von Freitag: „Ein Großteil der Diskussion hat sich auf al-Awlaki konzentriert. Aber wir sollten nicht nur über die Menschen nachdenken, die von der Regierung letzte Woche umgebracht wurden, sondern über die Machtbefugnis, die der Präsident beansprucht – und die Regierung hat noch bei Weitem nicht genug über die Machtbefugnis gesagt, die Obama beansprucht.“

Der Stellungnahme der ACLU folgte letzte Woche ein Bericht des Nachrichtendienstes Reuter, der enthüllt, dass „amerikanische Militante wie Anwar al-Awlaki von einem geheimen Gremium aus höheren Regierungsbeamten auf eine Tötungs- oder Verhaftungsliste gesetzt werden“. Der Bericht sagt darüber: „Es gibt keine öffentlichen Nachweise über die Tätigkeit oder die Entscheidungen dieses Gremiums. Es ist eine Unterabteilung des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, erklärten einige gegenwärtige und ehemalige Beamte. Es gibt kein Gesetz, dass seine Existenz begründet oder die Regeln festlegt, nach denen es arbeiten soll.“

Mit anderen Worten, eine Gruppe hoher Regierungsbeamter, die geheim und ohne Rechenschaftspflicht agiert, besitzen die Macht, einen amerikanischen Bürger zum Ziel eines Mordanschlags zu machen, der durch einen Knopfdruck des Drohnen-Bedienpersonals ausgeführt wird, ohne Berücksichtung rechtsstaatlicher Prinzipien und ohne ein faires Gerichtsverfahren.

Einige führende Demokraten im Kongress sind nervös angesichts der arroganten Weigerung der Obama-Regierung, eine öffentliche Rechtfertigung für ihre Entscheidung zu liefern, einen amerikanischen Bürger zu ermorden.

Senatorin Dianne Feinstein aus Kalifornien, Vorsitzende des Senatsausschusses für die Geheimdienste, und Senator Carl Levin aus Michigan, Vorsitzender des Senatsauschusses für die Armee, beide Befürworter der Ermordung von Awlaki, forderten das Weiße Haus auf, Dokumente zu veröffentlichen, die eine rechtliche Grundlage für diese Maßnahme bilden.

Feinstein erklärte, das sei notwendig „um die öffentliche Unterstützung für geheime Operationen aufrechtzuerhalten“. Mit anderen Worten, sie befürchtet, dass das amerikanische Volk einen zu umfassenden Anspruch des Präsidenten auf das „Recht zu töten“ ablehnen würde.

Obama schien sich bei seinem ersten Auftritt nach dem Mord an Awlaki dieser Bedenken bewusst gewesen zu sein, als er ihn als Chef der „Auslandsoperationen“ von al-Qaida auf der arabischen Halbinsel bezeichnete. Das war das erste Mal, dass ein US-Beamter den fundamentalistischen Moslem-Prediger so nannte.

Andere Regierungsbeamte erklärten gegenüber den Medien – gestützt auf Informationen, deren Urheber nicht genannt werden – Awlaki sei vom Predigen von Gewalttaten gegen US-Ziele, „übergegangen“ zu einer aktiven Rolle bei der Organisierung von terroristischen Angriffen. Sie zitieren Vorfälle wie das Ft.-Hood-Massaker, den versuchten Bombenanschlag auf einen Jetliner im Dezember 2009 mit Zielflughafen Detroit und die Paketbomben, die im letzten Jahr vom Jemen an Adressen in Chicago geschickt wurden.

Awlakis islamistisch-fundamentalistische Ansichten sind in seinen Predigten auf Englisch und Arabisch, die im Internet jedem zugänglich sind, klar ausgedrückt. In vielen Fällen haben diejenigen, die an diesen Angriffen beteiligt waren, Awlaki als religiöse Inspiration für ihre Taten genannt. Es wurde jedoch kein Beweis veröffentlicht, der die Behauptung unterstützt, Awlaki habe eine operative Rolle gespielt. Obendrein wurde kein Versuch gemacht, Anklage gegen Awlaki zu erheben, was erfordert hätte, einem Geschworenengericht Beweise vorzulegen.

Awlaki wurde in New Mexico geboren, während sein jemenitischer Vater in den USA studierte; er lebte in den USA bis er sieben Jahre alt war, kehrte dann in den Jemen zurück und kam wieder in die USA, um aufs College zu gehen. Er ließ sich in Kalifornien als moslemischer Prediger nieder, war dann der Kopf einer großen Gemeinde in dem in Virginia liegenden Umland von Washington DC; dort kritisierte er öffentlich die Terrorangriffe vom 11. September.

In dem Jahr nach dem 11. September reagierte er jedoch auf die Atmosphäre von Intoleranz gegenüber Moslems, verließ das Land und ließ sich schließlich im Jemen nieder. 2006 wurde er von der diktatorischen Regierung des Präsidenten Ali Abdullah Saleh, einem langjährigen Verbündeten der USA, verhaftet und aufs Schwerste gefoltert. Den Mitgliedern seiner Moschee in Virginia zufolge war es die Folter, die ihm die US-Handlanger zufügten, die Awlaki zu einem Verbündeten statt zu einem Gegner von al-Qaida gemacht hat. Diese Geschichte legt nahe, dass seine politische Entwicklung eine Folge der reaktionären Politik des Imperialismus im Nahen Osten war.

Ein besonders finsterer Leitartikel in der Washington Post, der unmittelbar nach Awlakis Ermordung veröffentlicht wurde, verteidigt das Recht der US-Regierung, politische Gegner umzubringen, gleichgültig, ob sie tatsächlich zu den Waffen gegriffen haben oder nicht.

Der Leitartikel behauptet, es gäbe „umfangreiche Beweise“ von Awlakis direkter Rolle bei Attentatsversuchen auf die Vereinigten Staaten, obwohl keine genannt werden. Er fährt fort: „Was vielleicht noch wichtiger ist, der fließend englisch sprechende Mr. Awlaki, ein charismatischer Lehrer, hat daran mitgewirkt, neue Gotteskrieger in den Vereinigten Saaten und anderen westlichen Ländern zu begeistern – diese könnten zur Zeit die größte Terrorismusgefahr darstellen.“

Die Logik dieses Leitartikels ist klar: Heute nimmt der „Oberkommandierende“ einen islamischen Prediger ins Visier und behauptet, er sein ein Terrorist. Morgen könnte er den islamischen Prediger ins Visier nehmen, weil er „anti-amerikanisch“ ist. Und am Tag danach, kann er jede Person, jede Organisation oder Partei ins Visier nehmen, die die Politik des amerikanischen Imperialismus ablehnt.

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