Perspektive

Occupy-Bewegung am Scheideweg

Die Occupy-Wall-Street-Proteste gegen Ungleichheit, die vor über einem Monat zuerst in New York begannen und sich seither über die ganzen Vereinigten Staaten und die Welt ausgebreitet haben, sind an einem politischen Scheideweg angekommen.

Die herrschende Klasse hat mit einer zweigleisigen Strategie reagiert: Versuche, die Unzufriedenheit der Massen mit der Politik wieder ins politische System zurückzulenken, gingen einher mit einer zunehmenden Verhaftungswelle und Polizeigewalt.

Die letzte Aktion war besonders brutal. Hunderte von Polizisten von zwölf Revieren in voller Kampfmontur umstellten am Dienstagmorgen ein Zeltlager in Oakland, Kalifornien. Auf Anweisung von Jean Quan, dem demokratischen Bürgermeister, setzte die Polizei Tränengas, nichttödliche Projektile und eine Schallkanone ein, verhaftete etwa einhundert friedliche Demonstranten und verwüstete das Zeltlager.

Die Bereitschaftspolizei zeigte in Oakland den ganzen Tag über Präsenz. Am Abend gingen hunderte von Polizisten mit Tränengas und Blendgranaten gegen weitere Demonstrationen vor. Es gab angeblich zahlreiche Verletzte. In Dutzenden von Städten wurden Festnahmen durchgeführt, darunter auch in New York, San Francisco, Dallas, Philadelphia, Cincinnati, Phoenix und in Denver. Auf der anderen Seite des Pazifiks, in Australien, wurden in Sydney und Melbourne Zeltlager von der Polizei gewaltsam geräumt und die Insassen festgenommen.

Würden der Iran oder Syrien derartige Unterdrückungsmaßnahmen anwenden, würden sie dafür vom politischen Establishment Amerikas verurteilt werden. In Amerika selbst geschehen sie mit der verhaltenen Zustimmung der Obama-Regierung. Zwei Tage vor den Ereignissen in Oakland ließ der Bürgermeister von Chicago, Rahm Emanuel, Obamas ehemaliger Stabschef im Weißen Haus, 150 Demonstranten festnehmen.

Obama selbst sagte nichts zu dem brutalen Vorgehen. Am Dienstag war der Präsident nur ein paar Kilometer von den Ereignissen in Oakland entfernt bei Spendenveranstaltungen in der Bucht von San Francisco.

Zwar sind die Occupy-Proteste das unmittelbare Ziel der Unterdrückungsmaßnahmen, aber sie sind auch eine Art „Generalprobe“ für die größeren sozialen Kämpfe, die noch bevorstehen. Unter Bush und auch unter Obama hat der Staat große Einschnitte an den demokratischen Rechten vorgenommen. Der Vorwand dafür ist der „Krieg gegen den Terrorismus“, aber das wahre Ziel ist der Widerstand gegen die Forderungen der Wirtschaftselite im eigenen Land.

Durch die zunehmende Unterdrückung werden die fundamentalen politischen Fragen, die bei den Protesten gestellt wurden, noch drängender, vor allem die Notwendigkeit eines politischen Kampfes gegen die Obama-Regierung, die Demokratische Partei und den kapitalistischen Staat. Obwohl sie Massenverhaftungen durchführen lässt, versuchen die Demokratische Partei und ihre Anhängsel – die Gewerkschaften, verschiedene „linke“ Organisationen der Mittelschicht und akademische Berühmtheiten – weiterhin, die Proteste zur Unterstützung von Obamas Wahlkampf zu nutzen.

Die politische Perspektive dieser Organisationen, Druck auf die Demokraten auszuüben, wurde durch die Erfahrungen mit der Obama-Regierung gründlich diskreditiert. Diese ist gemessen an ihren politischen Taten und an ihrer ganzen Zusammensetzung eine Regierung der Wall Street. Die Unterdrückung der Proteste durch den Staat gibt allen eine Antwort, die behaupten, die Rechte der Arbeiterklasse könnten im Rahmen des bestehenden Systems verteidigt werden.

Die Occupy-Bewegung ist ein erster Ausdruck des zunehmenden Widerstandes der Bevölkerung gegen die Banken und Konzerne. Allerdings hat sie gerade erst damit begonnen, die grundlegenden Fragen nach Programm und Perspektive anzugehen.

Vor allem ist eine unabhängige gesellschaftliche und politische Mobilisierung der Arbeiterklasse notwendig, d.h. der großen Mehrheit der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und der Welt. Jede Fabrik, jeder Arbeitsplatz und jedes Stadtviertel muss zu einem Zentrum des Widerstandes gegen die Politik der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertreter werden.

In den vergangenen dreißig Jahren wurde der Klassenkampf künstlich unterdrückt, wobei die Gewerkschaften die Hauptrolle spielten. Streiks sind in den Vereinigten Staaten buchstäblich verschwunden, obwohl die Reichen einen so großen Anteil am Nationaleinkommen angehäuft haben wie seit den zwanziger Jahren nicht mehr. Wo immer Kämpfe ausgebrochen sind - beispielsweise Anfang des Jahres die Demonstrationen von hunderttausenden in Wisconsin gegen die Haushaltskürzungen und die Angriffe auf die Rechte der Arbeiter - haben sich die Gewerkschaften bemüht, sie wieder der Demokratischen Partei unterzuordnen, um sie zu verraten und zu besiegen.

Vor zwanzig Jahren verkündeten die Propagandisten der herrschenden Klasse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das „Ende der Geschichte“ und das Ende des Klassenkampfes. Die offizielle „Linke“ spielte dabei mit, indem sie alle Diskussionen über Klassen unterdrückte und sich auf Identitätspolitik konzentrierte. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Klassenzugehörigkeit wurde den Kategorien Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung untergeordnet.

Durch die Ereignisse dieses Jahres wurden diese Vorstellungen erschüttert. Von den revolutionären Erhebungen in Ägypten, über die Massendemonstrationen in Israel bis hin zu den sozialen Unruhen in Europa ist der Klassenkampf wieder als grundlegende historische Kraft hervorgetreten. Die Occupy-Bewegung ist ein Vorgeschmack auf einen größeren Ausbruch von Klassenkämpfen in den Vereinigten Staaten, dem Zentrum des Weltkapitalismus.

Der Grund für das Wiederaufleben der Kämpfe der Arbeiterklasse sind die Krise des kapitalistischen Systems und die Reaktion der herrschenden Klasse darauf. Weltweit beginnen hunderte Millionen von Menschen, sich zu wehren, weil sie die Bedingungen nicht mehr aushalten, in denen sie zu leben gezwungen werden.

Die Ereignisse dieses Jahres haben die zentrale Bedeutung des Klassenkampfes und der objektiven Grundlage für eine sozialistische Bewegung gezeigt, und bestätigt, dass der Klassenkampf ohne politischen Kompass nicht erfolgreich geführt werden kann.

Diejenigen in der Occupy-Bewegung, die „keine Politk“ und „keine Parteien“ fordern, verteidigen den Würgegriff der vorherrschenden Politik. Gerade Führung und Politik – d.h. eine Partei und ein Programm – werden gebraucht.

Der unbewusste historische Prozess, der Millionen von Menschen in den Kampf gegen den Kapitalismus treibt, muss zu einer bewusst sozialistischen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse entwickelt werden.

Die grundlegenden Forderungen, die sich in der Occupy-Bewegung ausdrücken – darunter vor allem der Kampf für soziale Gleichheit – können nicht im Rahmen des Kapitalismus durchgesetzt werden, in dem Wirtschaft und Politik dem privaten Profit untergeordnet sind. Eine Bewegung der Arbeiterklasse muss darauf abzielen, eine Arbeiterregierung zu schaffen. Eine ihrer ersten Aufgaben muss es sein, die Banken und Großkonzerne in demokratisch kontrollierte Einrichtungen im öffentlichen Eigentum umzuwandeln.

Die Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten und ihre Schwesterparteien auf der ganzen Welt führen diesen Kampf an, und wir rufen alle Arbeiter und Jugendlichen, die den Kampf aufnehmen wollen, dazu auf, der SEP beizutreten.

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