Perspektive

Die griechische Agonie

George Orwell hat in seinem Roman „1984“ den Begriff „Neusprech“ für eine ideologisch aufgeladene Sprache geprägt, die die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Das Wort „Schuldenschnitt“ sollte dem Vokabular von Neusprech beigefügt werden. Was in der Öffentlichkeit als „Opfer“ der Finanzmärkte, als „Verzicht“ privater Gläubiger auf gut die Hälfte ihrer Griechenlandanleihen dargestellt wird, ist in Wirklichkeit ein Geldgeschenk an die Banken.

Der Schuldenschnitt, dem Donnerstagnacht knapp 86 Prozent der Gläubiger zustimmten, verhindert den Staatsbankrott Griechenlands nicht, sondern schiebt ihn lediglich hinaus. Er verlagert aber die Kosten eines solchen Bankrotts vom privaten auf den öffentlichen Bereich, auf den danach rund drei Viertel der griechischen Schulden entfallen.

Die griechischen Staatsschulden an private Gläubiger sinken durch den Schuldenschnitt um maximal 107 Milliarden Euro. Gleichzeitig steigen die griechischen Schulden an öffentliche Gläubiger um 130 Milliarden. Diesen Umfang hat das zweite Finanzpaket der Europäischen Union und des IWF. Obwohl oft von einem „Rettungspaket“ die Rede ist, handelt es sich dabei nicht um ein Geldgeschenk, sondern um Kredite, die Griechenland verzinsen und zurückzahlen muss.

Diese 130 Milliarden kommen nicht etwa dem griechischen Staatshaushalt und schon gar nicht der griechischen Bevölkerung zugute, sondern fließen direkt auf die Konten privater Finanzinstitute. 35 Milliarden sind dazu bestimmt, internationalen Gläubigern den Schuldenschnitt zu „versüßen“, 23 Milliarden, griechische Privatbanken zu retten, und 35 Milliarden, die Europäische Zentralbank abzusichern, damit sie griechische Banken weiterhin mit Liquidität versorgt. Das restliche Geld soll dazu verwendet werden, fällige Kredite und Zinsen zurückzuzahlen.

Die Verschuldung Griechenlands sinkt durch Schuldenschnitt und Finanzpaket also nicht, sondern sie wächst. Der angestrebte Abbau der Gesamtverschuldung auf 120 Prozent des BIP im Jahr 2020 soll ausschließlich durch Sparmaßnahmen erfolgen, die den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten um Jahrzehnte zurückwerfen.

Für private Investoren erweist sich der Schuldenschnitt dagegen unter dem Strich als gutes Geschäft. Sie erhalten für ihre Griechenlandanleihen, die zuletzt nur noch zu 30 bis 40 Prozent ihres Nennwerts gehandelt wurden, neue Anleihen im Wert von rund 50 Prozent mit internationalen Garantien für deren Tilgung und Rückzahlung.

In Expertenkreisen ist die wirkliche Bedeutung des Schuldenschnitts kein Geheimnis. Der US-Ökonom Nouriel Roubini bezeichnete in der Financial Times vom Donnerstag die Auffassung als “Mythos”, „dass private Gläubiger bei der Umschuldung Griechenlands bedeutende Verluste hingenommen hätten, während der öffentliche Sektor ungestraft davongekommen sei“. Roubini gelangt zum Schluss: „In Wirklichkeit wurden die meisten Gewinne in guten Zeiten privatisiert, während die meisten Verluste jetzt vergesellschaftet worden sind.“

Ähnlich schätzt der Leitartikel der Financial Times Deutschland vom Freitag den Schuldenschnitt ein: „Wer glaubt, mit der Privatgläubigerbeteiligung seien die Lasten der Griechenland-Rettung irgendwie gerechter verteilt worden, täuscht sich. Nicht die privaten Anleger stemmen den Hauptteil der Griechenland-Rettung, das macht die öffentliche Hand, die Steuerzahler Europas. Die Privatanleger sind – im Vergleich zu einer Pleite Griechenlands – dagegen immer noch gut bedient mit diesem Deal.“

Viele Wirtschaftsfachleute halten inzwischen einen endgültigen Bankrott des Landes nur noch für eine Frage der Zeit. Aber dann werden die großen internationalen Finanzanleger – darunter nicht wenige griechische Millionäre – ihr Geld längst im Trockenen haben.

Die Folgen des Bankrotts wird als erstes die griechische Bevölkerung zu tragen haben, die schon jetzt am stärksten unter den Sparmaßnahmen leidet. Als zweites werden finanzielle Verluste auf die Haushalte der Staaten zurückfallen, die für die EU-Kredite an Griechenland bürgen. Deren Regierungen werden dies zum Anlass für weitere Spar- und Kürzungsmaßnahmen nehmen, um den strengen Anforderungen des Fiskalpakts zu genügen, der vergangene Woche vom EU-Gipfel in Brüssel verabschiedet wurde.

Hier erschließt sich die eigentliche Bedeutung des Schuldenschnitts für Griechenland. Er ist Bestandteil einer internationalen Offensive gegen die Arbeiterklasse und einer gewaltigen Umverteilung von Einkommen und Vermögen.

Seit Hedgefonds und Banken die Weltwirtschaft 2008 durch verantwortungslose Spekulationsgeschäfte an den Rand des Zusammenbruchs trieben, nutzen sie die Krise, um die sozialen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zu zerschlagen. Erst ließen sie sich durch hunderte Milliarden Euros aus öffentlichen Haushalten retten, dann zwangen sie die hoch verschuldeten Staaten, das Geld durch Sparmaßnahmen von der Bevölkerung zurückzuholen.

Griechenland dient ihnen dabei als Vorreiter. Die Europäische Union und die Regierungen, die in Brüssel den Ton angeben, dringen auf immer weitere Sparmaßnahmen, obwohl sie das Land ruinieren und die Bevölkerung in bittere Armut treiben. In Portugal, Spanien, Italien, Irland und anderen Ländern mit Haushaltsproblemen verfolgen sie denselben Kurs. Selbst in Deutschland, dem wirtschaftlich stärksten Land der EU, ist ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden und häufen sich die Massenentlassungen.

Während der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sinkt, erreichen die Aktienkurse wieder Spitzenwerte. Finanzmanager streichen gewaltige Summen ein. Allein die vierzig bestverdienenden Hedgefonds-Manager kassierten im letzten Jahr zusammen über dreizehn Milliarden Dollar.

Die Arbeiterklasse Europas muss dieser Offensive geschlossen entgegentreten und ihre Rechte und Errungenschaften entschlossen verteidigen. Sie darf nicht zulassen, dass deutsche gegen griechische oder französische gegen spanische Arbeiter ausgespielt werden. Sie muss mit den Parteien und Gewerkschaften brechen, die die Europäische Union und die nationalen Regierungen verteidigen und deren Sparprogramme unterstützen.

Selbst die elementarsten demokratischen und sozialen Rechte lassen sich heute nur noch auf der Grundlage eines sozialistischen Programms verteidigen, das sich gegen das Diktat des Finanzkapitals über alle Bereiche der Gesellschaft richtet. Die bürgerlichen Regierungen müssen durch Arbeiterregierungen abgelöst werden, die sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft statt an den Profitinteressen des Finanzkapitals orientieren. Die Europäische Union muss durch Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa ersetzt werden.

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