NATO bereitet Abzug aus afghanischem Sumpf vor

Am Treffen der NATO-Außen- und Verteidigungsminister diese Woche in Brüssel herrschte eine gewisse Verzweiflung und Krisenstimmung vor, denn die militärische Lage in Afghanistan verschlechtert sich zusehends. Die USA verstärken ihre Militäroperationen, um die verhasste Regierung von Präsident Hamid Karzai zu stützen. Gleichzeitig bereiten sie sich darauf vor, den Großteil ihrer Kampftruppen bis Ende 2014 abzuziehen.

Wie empfindlich das amerikanische Besatzungsregime ist, zeigte sich letzten Sonntag, als in Kabul wichtige Ziele der NATO und der afghanischen Regierung gleichzeitig angegriffen wurden. NATO-Sprecherin Oana Lungescu äußerte sich zwar lobend über die Reaktion der afghanischen Sicherheitskräfte, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass eine Handvoll Taliban-Kämpfer in die topgesicherten Bereiche der Hauptstadt eindringen und afghanische Polizisten und Soldaten achtzehn Stunden lang in Schach halten konnten. Erst als amerikanische Kampfhubschrauber eingriffen, konnten sie besiegt werden.

US-Außenministerin Hillary Clinton, die in Brüssel neben Verteidigungsminister Leon Panetta sprach, bestätigte den Angriff in Kabul am letzten Wochenende. Dennoch intonierte sie das Mantra: „Der Übergang kommt gut voran, die Afghanen können immer besser selbst für ihre Sicherheit und Zukunft sorgen, und die ganze NATO steht zu uns.“

In Wirklichkeit ist die amerikanische Strategie in Afghanistan gescheitert. Unter dem verlogenen Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ fiel der US-Imperialismus 2001 in Afghanistan ein, um das Land in einen Marionettenstaat und eine Operationsbasis für seine Interessen in Zentralasien zu verwandeln. Nach über zehn Kriegsjahren werden große Teile des Landes, vor allem im Süden und Osten, von Widerstandsgruppen wie dem Taliban Haqqani-Netzwerk kontrolliert.

Die Obama-Regierung vergrößerte die amerikanischen Truppen auf 90.000 Mann und dehnte den Krieg ins pakistanische Grenzgebiet aus. Dort wurden ebenfalls Partisanengruppen unterdrückt und gegeneinander aufgewiegelt; mit einigen wurde verhandelt, während andere militärisch bekämpft wurden. Die Konzentration des amerikanischen Militärs auf Südafghanistan, vor allem auf die Provinzen Kandahar und Helmand, hatte nur zur Folge, dass die Taliban in den Osten und in die Städte auswichen, auch nach Kabul.

Verhandlungen mit den diversen Aufständischen sind bisher auf der ganzen Linie gescheitert. In einem längeren Bericht, den die Brüsseler International Crisis Group (ICG) Ende März veröffentlichte, kam sie zum Schluss: „Die Regierung Karzai befindet sich gegenüber den Führern der Aufständischen in einer schlechten Verhandlungsposition. Die afghanischen Sicherheitstruppen sind schlecht darauf vorbereitet, das Machtvakuum zu füllen, das nach dem Abzug der internationalen Truppen entstehen wird.“

Der Bericht der ICG wies auch auf den Zynismus in den Berechnungen der „Übergangsstrategie“ hin und schrieb dazu: „Die Verhandlungen [mit den Taliban] waren nicht von Afghanistan dominiert, sondern von Washingtons Verlangen nach einem ausreichenden Zeitabstand zwischen dem geplanten amerikanischen Truppenabzug und dem Beginn eines neuen blutigen Kapitels in diesem Konflikt.“

Mit anderen Worten, die Obama-Regierung weiß genau, dass Afghanistan im Bürgerkrieg versinken wird, sobald sich die ausländischen Truppen zurückziehen. Mit ihren Bemühungen um einen „Übergang“ wollen sie nur ein sofortiges militärisches Debakel verhindern, das Karzai-Regime zumindest in den größten Städten verteidigen und sich den Zugang zu wichtigen Militärbasen sichern.

Vertreter der USA tun sich schwer damit, Vergleiche mit dem Vietnamkrieg zu vermeiden. Sie lehnen alle Versuche ab, die Angriffe in Kabul am Wochenende mit der Tet-Offensive in Vietnam zu vergleichen. Dennoch erinnert Obamas Strategie stark an das verbrecherische Vorgehen der Nixon-Regierung, die im Verborgenen Angriffe auf Kambodscha und Laos flog und den Krieg „vietnamisierte“, d.h. die Verantwortung für die Kampfhandlungen an das südvietnamesische Militär abgab, während sich das US-Militär zurückzog.

Was hier als letzte amerikanische Militäroffensive vor dem Rückzug dargestellt wird, wird in Wirklichkeit ein besonders blutiger Feldzug werden. Er zielt darauf ab, im Osten Afghanistans Terror zu verbreiten. Dort hat sich das Haqqani-Netzwerk festgesetzt, und die Zahl der Angriffe durch Aufständische ist im letzten Jahr um zwanzig Prozent gestiegen. Der amerikanische Kommandant General John Allen erklärte vor kurzem, es werde ein „sehr arbeitsintensiver Sommer“ werden. Der Krieg am Boden wird von Drohnenangriffen in Pakistan begleitet werden, und die pakistanische Militärführung wird unter Druck gesetzt, die Stützpunkte der Aufständischen anzugreifen.

Die NATO hat bereits in der Hälfte des Landes die Verantwortung für die Frontkämpfe den afghanischen Sicherheitstruppen übergeben. Sie plant, diesen Prozess bis 2013, noch vor dem Abzug der meisten ausländischen Truppen, zu beenden. Trotz der Größe der afghanischen Armee und Polizei, die bis Oktober 352.000 Mann umfassen, kann laut dem amerikanischen Verteidigungsministerium keine Einheit ohne internationale Unterstützung operieren.

Hinter der Fassade der Einigkeit bei dem NATO-Treffen in Brüssel fand ein heftiges Feilschen um den zeitlichen Ablauf des Abzugs, die Größe der afghanischen Armee und Polizei und deren Finanzierung statt. Die Truppenstärke der afghanischen Sicherheitskräfte (und damit die Kosten) soll bis Ende 2017 um mehr als ein Drittel, nämlich auf 228.000 gesenkt werden, obwohl Militäranalysten vor einer Katastrophe warnen.

Die USA haben sich bereit erklärt, 2,2 Milliarden von den vier Milliarden Dollar zu zahlen, und drängen ihre Verbündeten, weitere 1,3 Milliarden zu übernehmen. Der Rest soll von der afghanischen Regierung gezahlt werden. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte in den Medien, afghanische Truppen seien billiger als internationale. „Das ist ein gutes Geschäft, und es ist sehr leicht zu sagen, dass dies ein guter Weg vorwärts ist.“

Die USA müssen sich im eigenen Land mit überwältigendem Widerstand gegen den Afghanistankrieg auseinandersetzen und versuchen, den Abzug zu beschleunigen. Der ehemalige Kommandant der australischen Truppen in Afghanistan, General a.D. John Cantwell, kommentierte diese Woche in der australischen Sendung „Four Corners“: „Infolge von Wahlen in den Ländern, die an der Besetzung teilnehmen, sind die Politiker überall dabei, nach Auswegen zu suchen.“

Präsident Obama hat vor, 22.000 der 90.000 US-Soldaten bis September, vor der Präsidentschaftswahl, abzuziehen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der derzeit um seine Wiederwahl kämpft, kündigte einen vollständigen Abzug bis Ende 2013 an, statt 2014, nachdem vier französische Soldaten von einem afghanischen Soldaten getötet wurden. Auch die australische Premierministerin Julia Gillard, die nächstes Jahr vor der Wahl steht, hat angekündigt, die meisten australischen Soldaten bis Ende 2013 abzuziehen.

In mehr als zehn Jahren Kampf sind in Afghanistan zehntausende Zivilisten gestorben. Ein riesiger Polizeistaatsapparat wurde im ganzen Land aufgebaut, und Massenarbeitslosigkeit und Armut bestehen fort. Das hässliche Gesicht neokolonialer Besatzung zeigte sich diese Woche in Form von ekelhaften Fotos amerikanischer Truppen, die mit zerstückelten Leichen von Afghanen posieren.

Zwar geht es bei dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten auch um die Wahlen, aber der Hauptgrund ist, dass Truppen und Geld für neue Militäroperationen verfügbar gemacht werden sollen. Während der „Übergang“ in Afghanistan verhandelt wird, droht die Obama-Regierung mit einer Militärintervention in Syrien und einem Krieg gegen den Iran und verschärft ihren Konfrontationskurs gegen China im Indischen Ozean und im Pazifik.

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