Emmett Till und Trayvon Martin: Zwei amerikanische Morde im historischen Vergleich

Vor zwei Monaten wurde der Teenager Trayvon Martin in Florida umgebracht. Seither wird immer wieder versucht, diesen Mord mit dem Fall von Emmett Till zu vergleichen, der 1955 in Mississippi gelyncht wurde.

Nun hat die Tötung von Trayvon Martin zwar viele Millionen Menschen empört, genau wie der Mord an Emmett Till vor vielen Jahren. Der Versuch jedoch, einen direkten Vergleich zwischen den zwei Ereignissen ziehen, ist oberflächlich und irreführend. Wer 55 Jahre Geschichte einfach überspringt, kann die Bedeutung der Tragödie um Trayvon Martin nicht verstehen.

Für viele kleinbürgerlich “linke” Organisationen, die hauptsächlich mit Geschlechter- und Rassenfragen hausieren (wie das zum Beispiel die International Socialist Organization ISO tut), dient die Gleichsetzung der beiden Ereignisse der Behauptung, nichts habe sich geändert, seit die Bürgerrechtsbewegung im letzten Jahrhundert Massen auf die Beine brachte. Diesen Tendenzen zufolge zeige der Mord an Trayvon Martin, dass trotz der Überwindung der Rassentrennung à la Jim Crow im amerikanischen Süden und trotz der Abschaffung der legal sanktionierten Rassentrennung überhaupt, die Rassenfrage in der amerikanischen Gesellschaft nach wie vor die wichtigste Frage sei.

Die ISO spricht von “Jim Crow II” und schließt sich dem Ruf schwarzer Demokraten wie Jesse Jackson und Al Sharpton nach einer neuen Bürgerrechtsbewegung an.

In den Kämpfen der 1950er und 1960er Jahre hat das Ziel der sozialen Gleichheit Millionen bewegt. Dieses Ziel ist nicht nur niemals verwirklicht worden, an der Spitze der Gesellschaft hat sich vielmehr ein unvergleichlich größerer Reichtum konzentriert, und er nimmt weiter zu. Das Erbe früherer Ungerechtigkeit findet heute seinen Ausdruck in den höheren Arbeitslosenraten für Afroamerikaner und andere Minderheiten und in einer Gefängnis- und Kriminaljustiz, die Minderheitenjugendliche besonders benachteiligt.

Dies ist ein vernichtendes Urteil über den Kapitalismus selbst, wie auch über die Klassenunterdrückung, auf die er sich gründet. Bedingungen, die Arbeiter und Jugendliche der Minderheiten unverhältnismäßig benachteiligen, sind die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die verletzlichsten und am meisten unterdrückten Schichten der Arbeiterklasse.

Diese Bedingungen sind auch Ausdruck der Beschränktheit und letztlich des Scheiterns der Bürgerrechtsbewegung selbst, obwohl Millionen Menschen darin großen Mut und Heroismus bewiesen haben. Denn sie gründete sich gerade nicht auf die Einheit der Arbeiterklasse und kämpfte nicht für ein sozialistisches Programm.

Wenn Politiker wie Jackson zu einer neuen Bürgerrechtsbewegung aufrufen, ist das zynisch und unehrlich. Heute, nach Jahrzehnten sinkenden Lebensstandards der gesamten Arbeiterklasse, und inmitten eines globalen Zusammenbruchs des Kapitalismus, gerät jede Forderung nach demokratischen und sozialen Rechten unweigerlich in Konflikt mit dem Profitsystem, - dem System, das Jackson, Sharpton und das heutige Bürgerrechts-Establishment gerade repräsentieren und verteidigen.

Die eigentliche Geschichte der Bürgerrechtskämpfe zeigt, was sich im letzten halben Jahrhundert geändert hat, und warum die Fragen, die der Tod von Trayvon Martin aufwirft, in fortschrittlicher Weise nur von einer sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse gelöst werden können, und nicht durch eine Protestbewegung für Bürgerrechte, die auf die Reformierung des Systems abzielt.

Emmett Till, ein vierzehnjähriger Junge aus Chicago, verbrachte den Sommer 1955 im Deltagebiet des nordwestlichen Mississippi nahe der Stadt Greenwood im Haus seines Großonkels Mose Wright. Am 28. August 1955 wurde er brutal zusammengeschlagen und erschossen, weil er sich erlaubt hatte, eine weiße Frau anzusprechen. Seine Mörder, Roy Bryant und J.W. Milam, wurden schnell vor Gericht gebracht und kaum einen Monat später von einem ausschließlich weißen Geschworenengericht freigesprochen. Das war ein typisches Ergebnis der rassistischen Apartheid- und Terrorbedingungen, wie sie die Demokratische Partei im Süden praktizierte. Die Geschworenen brauchten nicht mal eine Stunde, um die Killer freizusprechen, und ein Geschworener sagte: „Wenn wir nicht was getrunken hätten, hätt’s nicht so lange gedauert.“

Emmett Till war das letzte Opfer eines Systems rassistischer Gewalt, das seit Ende der Wiederaufbauzeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg dreiviertel Jahrhundert zuvor, bestanden hatte. Die afroamerikanische Bevölkerung bildete damals, wie auch heute noch, in Mississippi einen größeren Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung als in jedem andern US-Bundesstaat. Schwarzen wurden damals jedoch die elementarsten Bürgerrechte verweigert, sogar das Wahlrecht und die Gleichberechtigung im Wohnungswesen, den öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Schulwesen und vielen anderen Lebensbereichen. Außerdem waren sie täglich mit Erniedrigungen konfrontiert und mussten jederzeit mit Gewalt und Misshandlung rechnen. Sämtliche staatliche Schaltstellen waren damals von Befürwortern der Segregation in der Demokratischen Partei besetzt, deren Karriere auf dem rassistischen System gründete, das weiße Arbeiter strikt von schwarzen trennte.

Die Reaktion auf den Mord an Till hob diesen Fall aber aus den zahllosen Fällen heraus, in denen unschuldige Schwarze in früheren Jahrzehnten gelyncht worden waren. Den Hintergrund bildete der Nachkriegsboom, der die Industriearbeiterklasse anwachsen ließ. Tausende von Schwarzen aus dem Süden wanderten nach Norden, um besser bezahlte Fabrikarbeit aufzunehmen. CIO-Gewerkschaften wie die United Auto Workers verzeichneten Rekordmitgliedschaften, obwohl sie von pro-kapitalistischen Bürokraten kontrolliert wurden.

Da Stärke und Selbstvertrauen der schwarzen Arbeiter wuchsen, kam die Wut über die Diskriminierung, die jahrzehntelang unter der Oberfläche gebrodelt hatte, zum offenen Ausbruch. Die gesamte Industriearbeiterklasse gewann an Militanz. Selbst der amerikanische Imperialismus, der sich mitten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion befand, betrachtete das Jim-Crow-System immer stärker als Hindernis, war er doch dabei, unter der Fahne von „Demokratie“ und „Freiheit“ seine Weltmacht auszuweiten.

Das Jahr 1955 wurde im Kampf für Rassengleichheit zum Wendepunkt. Die wachsende Entschlossenheit, Widerstand zu leisten, zeigte sich in der Entschlossenheit von Emmett Tills Mutter, Mamie Till Bradley, welche die entsetzlichen Folgen des Lynchmords an ihrem Sohn in einem offenen Sarg sichtbar machte. Diese Aktion rief nationale und internationale Abscheu über die rassistische Brutalität hervor.

Ein paar Monate später begann der Busboykott von Montgomery, Alabama, und Martin Luther King Junior trat als eloquentester Vertreter einer wachsenden Massenbewegung aus dem Süden hervor. Bald darauf breiteten sich Sit-ins, so genannte Freiheitszüge (Freedom Rides) und Massenproteste gegen Unterdrückung und Terror der weißen „Herrenmenschen“ aus. Sie zwangen die zögerliche Bundesregierung, mehrere Gesetzesreformen, vor allem das Bürgerrechtsgesetz von 1964 und das Wahlrechtsgesetz von 1965, zu verabschieden.

Diese Reformen der 1960er Jahre erwiesen sich jedoch als die letzten Gesetze der liberalen Reformära in den Vereinigten Staaten. Die Segregations-Justiz wurde zwar abgeschafft, aber die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit blieb bestehen. Gerade weil die Bürgerrechtsbewegung niemals den Kampf gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aufnahm, konnte sie Armut und Ungleichheit nicht überwinden.

Das Vermächtnis der Bürgerrechtsbewegung ist widersprüchlich. Die Jim-Crow-Rassentrennung wurde zwar am Ende abgeschafft. Die Rassenbeziehungen veränderten sich gründlich. Die Heirat zwischen den Hautfarben, die in manchen US-Bundesstaaten bis 1967 illegal war, ist heute nicht nur legal, sondern nimmt weiter zu. Im letzten Jahrzehnt gab es um 28 Prozent mehr gemischte Ehen, die heute zehn Prozent der verheirateten Paare ausmachen.

Die juristischen Änderungen und sozioökonomischen Verschiebungen drücken sich im veränderten gesellschaftlichen Verhalten vor allem der jungen Generation aus. Allgemein wird anerkannt, dass Rassentrennung nicht nur reaktionär ist, sondern sich auf den wissenschaftsfeindlichen Mythos gründet, man könne nach der Hautfarbe eine rassische Klassifizierung vornehmen. Immer mehr Menschen bezeichnen sich in Umfragen als multirassisch oder weigern sich überhaupt, sich einer Rasse zuzuordnen.

Gleichzeitig schürt der zerfallende Kapitalismus Armut und Unsicherheit, und die herrschende Klasse, die alle Schichten der arbeitenden Bevölkerung angreift, versucht, die Arbeiterklasse durch Ausländerfeindschaft und Law-and-Order-Kampagnen zu spalten. In Florida und andern Staaten gibt es zum Beispiel ein Gesetz nach dem Motto: „Stand your ground“ [im Sinne von Nicht von der Stelle weichen, als Rechtfertigung zur Selbstjustiz; d.Übers.].

Solchen Unrat vertritt heute am offensten die Republikanische Partei mit ihren kaum verhüllten Appellen an rassistische Vorurteile. Gleichzeitig ermutigen die Vertreter von Identitätspolitik, die meist im Umfeld der Demokratischen Partei zu finden sind, eine neue Spaltung nach Rassen.

In den 1960er Jahren, der Blütezeit der Bürgerrechtsbewegung, erkannte Martin Luther King selbst, dass der Kampf für Gleichheit grundsätzliche Klassenfragen aufwarf. Seine Antwort bestand in einem diffusen „Kampf der Armen“, um die Arbeiter im Kampf um größere Reformen zu einen.

Die Bürgerrechtsbewegung war nicht in der Lage, die tieferen Klassenfragen zu verstehen. Dies half der herrschenden Klasse, eine schmale Schicht der afroamerikanischen Bevölkerung mit Privilegien zu kaufen, während die große Mehrheit außen vor blieb. Schwarze bürgerliche Politiker und Sprecher der Millionäre, wie Jackson und Sharpton, sind Teil dieser privilegierten Schicht. Ihr Aufstieg ist Ergebnis der Politik des „schwarzen Kapitalismus“, die der Republikanische Präsident Richard Nixon vor über vierzig Jahren als erster einführte.

Der Appell von Leuten wie Jackson nach einem Wiederaufleben der Bürgerrechtsbewegung ist Teil eines bewussten Versuchs, die Lehren aus der Geschichte dieser Bewegung zu verdunkeln und das Anwachsen einer Bewegung der Arbeiterklasse außerhalb der Demokratischen Partei zu verhindern. Diese Kräfte, zu denen auch die ISO und andere pseudolinke Gruppen gehören, wollen Arbeiter und Jugendliche daran hindern, ihre Schlussfolgerungen über den Kapitalismus und seine Politiker zu ziehen, vor allem wenn es um den Präsidenten Barack Obama geht.

Ein durchsichtiges Ziel ihrer Hinweise auf Emmett Till ist die Unterstützung von Obamas Wiederwahl-Kampagne. Während das Weiße Haus ein beispiellos reaktionäres Programm verfolgt und noch schärfere Angriffe auf Arbeitsplätze, Bildung, Gesundheitswesen und jegliche Grundversorgung führt, sagen diese Leute den Arbeitern, die Wiederwahl dieses Vertreters der Wall Street sei notwendig, um eine Rückkehr zu rassistischer Unterdrückung zu verhindern.

Die Socialist Equality Party weist solche Aufrufe zur Wahl Obamas und der Demokraten zurück, wie sie auch die Rassen- und Identitätspolitik ablehnt, die ihnen zugrunde liegt. Wir betonen, dass nur die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms die Forderung nach Gerechtigkeit erfüllen kann, die seit dem Mord an Trayvon Martin erhoben wird. Nur dann kann auch der Kampf für soziale Gleichheit, der nach dem Mord an Emmett Till Millionen Menschen erfasst hatte, wirklich zum Sieg geführt werden.

Loading