NSU-Morde: Welche Rolle spielten die Geheimdienste?

Es vergeht kein Tag ohne neue Informationen, die deutlich machen, dass die Mordserie der rechtsterroristischen Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ohne die tatkräftige Unterstützung der Geheimdienste kaum möglich gewesen wäre.

Die drei NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchten 1998 unter und lebten bis zum November vergangenen Jahres unbehelligt in Ostdeutschland. In der Zeit von 2000 bis 2007 ermordeten sie neun Migranten und eine Polizistin, verübten drei Sprengstoffanschläge und überfielen 14 Banken – offenbar alles unter den Augen oder sogar unter Mithilfe der verschiedenen Verfassungsschutzämter, wie die Geheimdienste in Deutschland euphemistisch bezeichnet werden.

Immer deutlicher stellt sich die Frage, welche politische und organisatorische Rolle die Geheimdienste, vor allem das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV), in der Thüringer rechtsextremen Szene spielten.

Die Zeugenvernehmung des Thüringer Landtags-Untersuchungsausschusses Anfang der Woche umging diese Frage. Obwohl mehrere Schlüsselfiguren, darunter der ehemalige Thüringer LfV-Präsident Helmut Roewer, vernommen wurden, zogen Medien und Politik aus deren Aussagen lediglich den Schluss, dass „das Chaos herrschte“ (Süddeutsche Zeitung).

Doch was als Chaos und exzentrische Amtsführung daherkommt, hatte einen definitiven politischen Inhalt. In die Amtszeit Roewers, der den Thüringer Verfassungsschutz von 1994 bis 2000 leitete, fällt die Organisierung der Neonaziszene und des NSU, die mit erheblichen finanziellen Mitteln des Verfassungsschutzes erfolgte.

Vor dem Untersuchungsausschuss wollte niemand genau wissen, wie Roewer, ein vormaliger Panzeroffizier, 1994 an die Spitze des Thüringer LfV gelangte. Roewer selbst behauptete, er habe seine Ernennungsurkunde betrunken von einem Unbekannten in einer Kneipe erhalten.

1994 regierte Bernhard Vogel (CDU) seit zwei Jahren das Land in einer großen Koalition mit der SPD. Vogel war zuvor lange Jahre Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz gewesen. Sein Innenminister war zunächst Franz Schuster (CDU), ab Ende 1994 dann Richard Dewes von der SPD.

Roewer kam als Ministerialrat aus dem von Manfred Kanther (CDU) geleiteten Bundesinnenministerium. Der in Thüringen aufgewachsene und 1957 nach Hessen geflohene Kanther galt als Rechtsaußen der CDU. In Hessen zeichnete sich die CDU schon immer durch Antikommunismus und extrem rechte Standpunkte aus.

Roewer, der damals in der FDP war, publiziert heute in dem als rechtsextrem eingeschätzten österreichischen Ares-Verlag. Doch schon damals machte er aus seiner rechten Gesinnung keinen Hehl. So gibt es ein Foto, das den amtierenden Verfassungsschutzchef 1999 auf einem Weimarer Kulturfest im Kostüm von General Ludendorff zeigt, der 1923 in München gemeinsam mit Adolf Hitler einen Putsch organisiert hatte.

In der antikommunistischen Euphorie, die nach dem Zusammenbruch der DDR geschürt wurde, waren offensichtlich auch die rechtesten Elemente in höchsten staatlichen Ämtern willkommen. So gelangte ein Mann an die Spitze des thüringischen Geheimdiensts, der sich und seine Arbeit jeder Kontrolle entzog und – entgegen den Vorschriften – als Amtsleiter persönlichen einen V-Mann im rechtsextremen Milieu betreute.

Roewer musste 2000 schließlich wegen finanziellen Unregelmäßigkeiten bei der Bezahlung von V-Männern, der Gründung von Scheinfirmen und der Enttarnung eines dubiosen Spitzels im rechtsextremen Milieu gehen.

Seine sechsjährige Karriere an der Spitze des thüringischen Geheimdiensts verdankte Roewer Ministerpräsident Vogel, der seine Ernennungsurkunde persönlich unterschrieb, Innenminister Schuster, der ihn vorschlug, Staatssekretär Michael Lippert, der ihm den Rücken frei hielt, und dem sozialdemokratischen Innenminister Dewes, der ihn walten ließ und bis heute die gute Zusammenarbeit mit ihm betont.

Vor dem Untersuchungsausschuss sagte Dewes, die Namen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt habe er erstmals „nach der Aktion in Eisenach“, also am 4. November 2011, gehört. Und mit Geheimdienstquellen habe er sich nicht beschäftigt.

Dirk Adams, der für die Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss sitzt, sagte gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Es hat praktisch keine Kontrolle stattgefunden. Roewer hat sie ausgeschaltet, weil er sich mit dem damaligen Innenminister [Schuster] sehr gut verstanden hat.“

Unter Roewer flossen große Geldsummen an Neonazis. Mit Tino Brandt und Marcel Dienel hatten die Verfassungsschützer zwei der wichtigsten Neonazis in Thüringen auf ihrer Gehaltsliste.

Tino Brandt war von 1994 bis 2004 V-Mann des Thüringer LfV. Er hat in diesen Jahren 200.000 DM vom Geheimdienst erhalten, die er nach eigenen Angaben zum Aufbau der rechtsextremen Organisation „Thüringer Heimatschutz“ verwandte, in dem auch das Zwickauer Mörder-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe agierte. Der damalige Chef der thüringischen Sektion des braunen Musiknetzwerkes „Blood & Honour“, Marcel Dienel, hat 25.000 D-Mark erhalten, mit denen er die rechtsextreme Szene finanzierte. „Blood & Honour“ unterstützte bis zuletzt die drei untergetauchten Terroristen.

Es gab noch mehr Spitzel im Umfeld der späteren NSU-Neonazis. Im Rahmen der „Operation Rennsteig“ in den Jahren 1996 bis 2003 hatten Geheimdienste mindestens acht Spitzel in der Thüringischen Neonaziszene rekrutiert.

Die Frankfurter Rundschau berichtete am letzten Samstag, das BfV und das LfV hätten auch danach noch mindestens zwei weitere Spitzel aus der Thüringer Neonaziszene geworben, und zwar unter dem Operations-Namen „Saphira“. Damit erhöht sich die Zahl der rechtsextremen V-Leute, die allein das BfV zwischen 1997 und 2005 in Thüringen führte, auf zehn. Weitere führten die Verfassungsschutzämter in Thüringen und Sachsen, und auch der Militärische Abwehrdienst MAD hatte Spitzel in der Szene.

So liegt dem Untersuchungsausschuss des Bundestags ein Vermerk des BfV aus der zweiten Jahreshälfte 1998 vor, in dem über ein Gespräch mit dem Thüringer Neonazi N. aus Jena berichtet wird. N. galt damals als Verbindungsmann zwischen dem NSU-Trio und der Jenaer Szene. N. habe sich kooperativ gezeigt und Informationen über die untergetauchten Neonazis Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe angeboten. Ob das Angebot angenommen wurde, bleibt unklar.

Auch der Anführer von „Blood & Honour“ in Sachsen, Jan W., stand 1998 laut dem Bericht einer vom Thüringer Innenministerium beauftragten Kommission, geleitet von Ex-Bundesrichter Gerhard Schäfer, offenbar in telefonischem Kontakt mit dem sächsischen Innenministerium. Dieser Jan W. schickte rund ein halbes Jahr, nachdem die drei NSU-Terroristen untergetaucht waren, seinem Kontaktmann im sächsischen Innenministerium eine SMS mit dem Inhalt: „Hallo, was ist mit den Bums.“ Schäfer sieht darin einen Hinweis auf Waffen, die W. womöglich für das Zwickauer Trio angefordert hat.

Die Behauptung, Geheimdienste und Polizeibehörden hätten nichts von der rechtsextremen Mordserie gewusst, die die Medien nachplappern und mit „Inkompetenz“, „Pannen“, „Schlampereien“ und „Chaos“ erklären, ist absurd. Alle Hinweise und Warnungen wurden von den Geheimdiensten gezielt ignoriert, unterdrückt und beiseite gewischt.

Das gilt auch für den Fall des hessischen Verfassungsschutz-Beamten Andreas T., der sich am Tatort, einem Kasseler Internetcafé, befand, als Halit Yozgat am 6. April 2006 als neuntes Opfer der NSU ermordet wurde. Laut offizieller Version war die Anwesenheit des Geheimdienstlers, der in seiner Heimatstadt wegen seiner rechten Ansichten als „Klein Adolf“ bekannt war, ein „Zufall“. Inzwischen weiß man aber, dass er auch bei zwei weiteren NSU-Morden an einem türkischen und einem griechischen Kleinhändler 2005 in München und Nürnberg mit seinem Kasseler V-Mann aus dem „Blood & Honour“-Netzwerk in telefonischem Kontakt stand.

Voraussichtlich werden noch weitere Hinweise auf eine enge Zusammenarbeit der Verfassungsschutzämter mit den Neonazis und womöglich dem Zwickauer Trio auftauchen. Am Mittwoch trat der Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Reinhard Boos zurück. Boos ist nach Heinz Fromm, dem Präsidenten des BfV, und Thomas Sippel, dem Chef des LfV Thüringen, bereits der dritte Verfassungsschutzchef, der wegen der NSU-Morde zurücktritt.

Grund für Boos’ Rücktritt sind Abhörprotokolle der rechtsextremen Szene aus dem Jahr 1998, die der sächsische Geheimdienst monatelang zurückhielt. Laut Spiegel Online soll es sich dabei um abgehörte Telefonate des sächsischen „Blood & Honour“-Anführers Jan W. handeln, aus denen hervorgehe, dass dieser in Kontakt zu Mirko H., einem V-Mann des BfV stand. Spiegel Online berichtete auch von Gerüchten, dass es sich um Akten handle, die das Bundesamt bereits geschreddert habe.

Der Rücktritt von Boos deutet darauf hin, dass der Inhalt der Akten nicht belanglos ist. Womöglich beziehen sich die Akten auch auf André E., einem der engsten Kontaktmänner der drei NSU-Mörder. So fanden Ermittler im ausgebrannten Wohnmobil, in dem Böhnhardt und Mundlos am 4. November vergangenen Jahres tot aufgefunden wurden, Bahncards auf die Namen von André E. und seiner Frau Susann, die von Zschäpe und Böhnhardt benutzt worden waren.

Die Frankfurter Rundschau hatte schon im Februar dieses Jahres berichtet, der Verfassungsschutz habe dreimal versucht, André E. als V-Mann anzuwerben. Damals hatte Boos vehement dementiert, dass diese Versuche erfolgreich waren.

Dass die Behörden im Falle von André E. etwas zu verbergen haben, ist dennoch offensichtlich. Bei seiner Festnahme am 24. November 2011 war sein Handy beschlagnahmt und vom Bundeskriminalamt (BKA) an eine Spezialabteilung der Bundespolizei gesandt worden. Nachdem diese die Daten des Handys ermittelt und an das BKA übersandt hatte, wies das BKA die Bundespolizei per Email an, die Handydaten in ihrem Computer zu löschen.

André E. war die erste Person, die Zschäpe am 4. November 2011 anrief, nachdem sie ihre Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt hatte und geflüchtet war. Eine Auswertung von E.s Handy könnte Hinweise geben, wen er anschließend angerufen hat; möglicherweise Geheimdienst- oder Polizeibehörden?

Sicher ist, dass Zschäpe Kontakte mit Behörden hatte. Laut Schäfer-Bericht hat die Auswertung der Verbindungsdaten des Handys von Zschäpe am 4. November vergangenen Jahres 15 telefonische Kontaktversuche über Anschlüsse des sächsischen Innenministeriums und der Polizeidirektion Südwestsachsen ergeben.

Erst letzte Woche legte der FDP-Abgeordnete Hartfrid Wolff im Bundestagsuntersuchungsausschuss eine Geheimakte vor, in der auf mehreren Seiten ein Anwerbeversuch einer jungen arbeitslosen Thüringerin in den 1990er Jahren geschildert wird, die ein Katze besaß und eine enge Bindung an die Großmutter hatte – Eigenschaften, die auf Beate Zschäpe zutreffen.

Nach Prüfung der Akten erklärte dann der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) noch am gleichen Abend im Namen aller Abgeordneten, unter den damals wenigen Frauen in der Neonaziszene habe sich offensichtlich eine zweite Frau mit den gleichen Charakteristika wie Zschäpe befunden. Die Spekulation über Zschäpe entbehre „jeder Grundlage“. Eine Begründung gab er nicht.

Alle Parteien und in ihrem Schlepptau auch die Medien bemühen sich, die enge Verbindung zwischen Neonazi-Szene und Geheimdiensten zu verschleiern. Dabei wird immer offensichtlicher, dass die Geheimdienste, oder zumindest große Teile davon, mit Unterstützung oder Duldung derselben Parteien tatkräftig am Aufbau rechtsextremer Strukturen mitgewirkt haben.

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