Perspektive

Die wahre Bedeutung der Wahlen in Libyen

Die Wahlen zum neuen Allgemeinen Nationalkongress in Libyen sollen einer autoritären und undemokratischen Regierung, die den Interessen der großen Westmächte, der Konzerne und der Banken dient, eine „demokratische“ Fassade verpassen.

Der von der Nato an die Macht gebrachte Nationale Übergangsrat (TNC) stellte sicher, dass nur eine kleine von der Wahlkommission akzeptierte Schicht der Bevölkerung für die Wahl kandidieren durfte.

Es scheint, dass Mahmud Jibril Allianz nationaler Kräfte den größten Stimmenanteil im neuen 200 Sitze starken Kongress gewonnen hat, und das bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal sechzig Prozent der achtzig Prozent der Libyer, die für die Wahl registriert waren. Wie sich dieses in der tatsächlichen Sitzverteilung widerspiegelt, wird es erst dann klar, wenn die Ergebnisse offiziell verkündet werden. Jibril wird versuchen, eine Koalition zu bilden, um den TNC abzulösen, der durch eine blutige Militärinteroffensive der Nato zur Beseitigung des Regimes von Muammar Gaddafi eingesetzt worden war. Sein Erfolg ist angesichts der tiefen politischen Spaltung im Lande keinesfalls sicher.

Die Wahlen wurden von den Medien scheinheilig bejubelt. Mit besonderer Genugtuung wurde der Sieg des angeblich „liberalen“ Jibril gefeiert. US-Präsident Obama nannte die Wahl „einen weiteren Meilenstein im Übergang des Landes zur Demokratie“. Die Europäische Union bejubelte „Libyens erste freie Wahl“ als „den Beginn eines neuen Zeitalters“.

„Letztes Jahr opferten Tausende Libyer ihr Leben oder ihre Gesundheit, um dem libyschen Volk das Recht auf den Aufbau eines neuen Staates zu sichern, der sich auf Menschenwürde und Gesetzestreue gründet“, erklärte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, als ob dies bereits Realität wäre.

Die gekauften Medien begeistern sich über das Wahlergebnis und verschleiern seine wahre Bedeutung. „Der Übergang zur Demokratie ist immer lang und schwierig“, schrieb die New York Times. Nichtsdestoweniger sei „die Wahl ein riesiger Schritt weg von dem Alptraum des Gaddafi-Regimes.“

Nachdem sie ohne jede Ironie feststellt, dass „es zur Überwindung der Missstände jener Zeit erleuchteter politischer Führer bedarf, die sich der Toleranz, der Rechtmäßigkeit, der Verantwortlichkeit und einer fairen Vertretung aller Libyer verpflichten“, bekräftigt die Times, dass Jibrils Angebot, eine große Koalition zu bilden, ein „potenziell ermutigendes Signal der Berücksichtigung aller Libyer“ sei.

Derartige Artikel und Kommentare, die meist auch noch auf den „Arabischen Frühling“ anspielen, dienen nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass der Regimewechsel in Libyen die politisch-militärische Antwort der USA und der europäischen Großmächte auf die revolutionären Erhebungen in Tunesien und Ägypten war, die beide an Libyen angrenzen.

Weit davon entfernt. Die Nato-Mächte haben nicht für Befreiung und Demokratie gekämpft, sondern Regime eingesetzt, dass ihren Forderungen ohne Widerspruch nachkommt. Ihr Ziel war es, alle oppositionellen Bewegungen unter Kontrolle zu bringen oder aktiv zu unterdrücken, die sich gegen eines der unzähligen korrupten Regimes der Region wandten. Der Zugang zu Libyens Ölreserven – den größten in Afrika – und denen im übrigen Afrika und des Nahen Ostens war das eigentliche Ziel.

Das Mittelmeer soll nach einem Regimewechsel in Syrien und im Libanon in ein von der Nato kontrolliertes Meer verwandelt werden, wobei Libyen den Brückenkopf für zukünftige Interventionen in Afrika bilden soll.

Jibril ist die lebende Verkörperung dieser Politik. In den USA ausgebildet, war er ein Protégé von Saif al-Islam Gaddafi, dem Sohn des libyschen Führers. Er empfahl sich den Westmächten durch seine Rolle als ehemaliger Chef der Nationalen Wirtschaftsentwicklungsbehörde, die für die Privatisierung von Staatsbetrieben zuständig war, und durch seine Bereitschaft, ehemalige Verbündete fallen zu lassen. Der britische Guardian schrieb zynisch, Jibril habe „den Vorteil, auf Erfahrungen zurückgreifen zu können“.

Als der TNC im März zu Beginn des Nato-Krieges gegen Libyen eine Übergangsregierung bildete, wurde Jibril zu ihrem Chef ernannt. Er wurde im August nach dem Krieg, in dem 50.000 Menschen ihr Leben verloren, als Premierminister eingesetzt. Die Gründungselemente des TNC – ehemalige Gaddafi-Getreue, Islamisten, CIA-Agenten und Stammesführer – werden auch im neuen Regime einen erheblichen Anteil stellen.

Libyen wird durch ethnische Konflikte, Stammesauseinandersetzungen und Kämpfe zwischen Milizen zerrissen, bei denen seit dem Ende der Nato-Intervention hunderte, wenn nicht tausende Menschen umgekommen sind. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass das Land auseinanderbricht.

Bengasi, das Zentrum der libyschen Ölproduktion und die sogenannte Wiege der Revolution, fordert Autonomie für die Cyrenaika und mehr Kontrolle über die Ölreichtümer. Die Wahlen wurden von Gewalttätigkeiten begleitet. Die Übergangsregierung setzte 30.000 bis 40.000 Sicherheitskräfte ein. In Bengasi kam es wegen eines Protests gegen die Sitzverteilung im neuen Kongress, die Tripolis begünstigt, zu einem 48stündigen Ölförderstopp und zahlreichen Angriffen auf Wahlhelfer.

Eine ganze Reihe pseudo-linker Parteien, Intellektueller und Akademiker wie Professor Juan Cole stellten sich voll und ganz hinter die angeblich humanitären Gründe der Großmächte für die Intervention in Libyen und halfen so, einen kolonialen Eroberungskrieg zu unterstützen.

Dies geschah nicht aus politischer Naivität. Es war eine wichtige und bewusste Rückenstärkung für den Imperialismus. Sie haben die Nato unterstützt, um die Entwicklung einer wahrhaft proletarischen revolutionären Bewegung im Nahen Osten zu verhindern – eine Entwicklung, die sie unverhohlen als unmöglichen Traum bezeichneten. Angesichts unwiderlegbarer Beweise, dass die Bewegung in Bengasi von Anfang an mit den USA zusammengearbeitet hat, sprachen sich diese kleinbürgerlichen Elemente für den pro-kapitalistischen und bürgerlichen TNC aus, dessen Sieg – nach einem Nato-Blitzkrieg – die Region unvermeidlich dem Diktat der Großmächte und der globalen Konzerne unterwerfen musste.

Cole übertraf sich selbst bei seinen Rechtfertigungen nach der Wahl. Er sagte, die Berichterstattung sei „durch einen in meinen Augen extremen Pessimismus und durch Sensationshascherei“ gekennzeichnet. Die Wahl verlief sehr, sehr gut, weil die Demokratie bei dieser Generation von Libyern sehr, sehr populär ist.“

Diese Schichten rechtfertigen heute mit den gleichen Argumenten die syrische Opposition und die Kampagne für einen Regimewechsel, die das Ziel hat, den Iran, Russland und China in der Region zu isolieren und die Vorherrschaft Washingtons zu stärken.

Die entscheidende Lehre, die aus der libyschen Erfahrung gezogen werden muss, betrifft die Aufgabe der demokratischen und sozialen Erneuerung. Beide dürfen auf keinen Fall der Bourgeoisie in der Region überlassen werden. Das würde die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen entwaffnen und den Imperialisten erlauben, die Ereignisse durch ihre lokalen Marionetten zu diktieren.

Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse selber, die korrupten Regimes der Region zu stürzen und sie durch sozialistische, anti-imperialistische und wahrhaft demokratische Regierungen im Rahmen der Vereinigten Sozialistischen Staaten des nahen Ostens zu ersetzen.

Arbeiter in Amerika, Europa und der übrigen Welt müssen Libyen als blutiges Mahnmal der katastrophalen Folgen des erneuten Versuchs der imperialistischen Mächte verstehen, die Kontrolle über die Welt und ihre strategischen Ressourcen und Märkte zu erlangen. Eine neue Anti-Kriegsbewegung wird gebraucht, die fest in der Arbeiterklasse und der jungen Generation verwurzelt und frei vom politischen Einfluss kleinbürgerlicher Befürworter humanitärer Kriege ist. Sie muss sich den räuberischen Absichten der herrschenden Eliten im Nahen Osten und in Afrika widersetzen.

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