SS-Massaker in Sant' Anna di Stazzema bleibt ungesühnt

Am 1. Oktober 2012 gab die Staatsanwaltschaft Stuttgart bekannt, dass sie keine Anklage gegen die noch lebenden Teilnehmer am SS-Massaker im italienischen Sant' Anna di Stazzema erhebt und die seit zehn Jahren laufenden Ermittlungen einstellt. Es sei nicht möglich gewesen, den Beschuldigten eine Tat nachzuweisen, die noch nicht verjährt sei.

Damit bleibt eines der brutalsten Kriegsverbrechen, das deutsche Truppen am Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien verübt haben, ungesühnt. 560 Frauen, Kinder und Männer waren innerhalb weniger Stunden auf bestialische Weise ermordet worden.

Am 12. August 1944 war die Panzer-Aufklärungsabteilung 16 der SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ unter Führung von Sturmbannführer Walter Reder im Rahmen einer sogenannten Säuberungsaktion in die Gemeinde Stazzema in der Provinz Lucca eingefallen und hatte eine Spur der Verwüstung hinterlassen.

Bereits auf dem Weg nach Sant’ Anna verübten deutsche Wehrmachts- und SS-Truppen sowie italienische SS-Männer mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung. Sie bewegten sich in vier Stoßrichtungen auf den Ort zu, damit ihnen möglichst niemand entkommen konnte.

Was in Sant' Anna di Stazzema dann passierte, schildert der Historiker Gerhard Schreiber in seinem Buch „Deutsche Kriegsverbrechen in Italien – Täter, Opfer, Strafverfolgung“ so:

„In Sant' Anna selbst drängten Himmlers Panzergrenadiere die Einwohner und Flüchtlinge auf dem von einer Mauer umschlossenen Platz vor einer Kirche zusammen. Da es nur einen Zugang gab, befanden sich die Menschen in einer perfekten Falle. Die Mörder begannen nun ihr Werk, danach bildeten die sterblichen Überreste von 132 Männern, Frauen, Kindern und Kleinkindern einen Leichenberg. Nunmehr waren die Flammenwerfer an der Reihe, weshalb viele der Toten nie identifiziert werden konnten. Als sich der Verband anschließend wieder ins Tal nach Valdicastello begab, ließen die SS-Männer, die in Mulino Rosso noch einmal 14 und in Capezzano di Pietrasanta sechs Menschen umbrachten, insgesamt 560 Ermordete zurück. Nur bei 390 Toten, unter denen sich 75 Kinder im Alter bis zu zehn Jahren befanden, vermochten die Behörden später die Identität festzustellen. Das jüngste Opfer zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre.“

Das Massaker ereignete sich nur wenige Tage, nachdem britische Truppen die Stadt Florenz von der deutschen Besatzung befreit hatten. Es reiht sich in unzählige andere deutsche Kriegsverbrechen in Italien ein, die sich umso brutaler, grausamer und rücksichtsloser gestalteten, je mehr die deutschen Truppen durch den Vorstoß der Alliierten und den Widerstand der Partisanen bedrängt wurden. Das erklärte Ziel der Nazi-Führung war, ihren Gegnern verbrannte Erde zu hinterlassen. Entsprechend lauteten die Befehle an Wehrmacht und SS.

Das Wüten der Wehrmacht und SS in Italien wurde nach Kriegsende jahrelang weitgehend totgeschwiegen. Kaum einer der Verantwortlichen für diese grausamen Kriegsverbrechen wurde zur Rechenschaft gezogen, auch nicht für das Massaker von Sant' Anna di Stazzema.

Ein Grund dafür war der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion. Die Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen sollte die Wiederbewaffnung und Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO nicht gefährden. Die italienische Justiz stellte die Aufklärung der Verbrechen bald ein, während die deutsche Justiz ohnehin nie Interesse daran gezeigt hatte.

Erst einige Jahrzehnte später wurden die damaligen Ereignisse einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Unabhängig voneinander veröffentlichten 1994 und 1996 zwei Historiker, Friedrich Andrae und Gerhard Schreiber, Studien, die gestützt auf die Auswertung von Militärarchiven, Kriegstagebüchern und Schilderungen von Zeugen deutsche Kriegsverbrechen detailliert dokumentierten. Auch verschiedene Journalisten und Überlebende haben immer wieder recherchiert und versucht, die Verantwortlichen zu benennen und vor Gericht zu bringen.

Sechzig Jahre nach dem Massaker von Sant' Anna di Stazzema, am 20. April 2004, eröffnete ein Militärtribunal im italienischen La Spezia den Prozess gegen drei Verantwortliche, die Angehörigen der Waffen-SS Gerhard Sommer, Ludwig Sonntag und Alfred Schönenberg. Die hochbetagten Angeklagten erschienen allerdings nicht vor Gericht. Sie lebten und leben unbehelligt von der Justiz in Deutschland.

Im Juni 2005 verurteilte das Militärtribunal von La Spezia zehn ehemalige Nazi-Offiziere wegen Ihrer Beteiligung an dem Massaker in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Das Gericht gelangte zum Schluss, dass die grausamen und brutalen Verbrechen vorsätzlich begangen worden seien.

In Deutschland leitete die Staatsanwaltschaft Stuttgart im Jahr 2002 Ermittlungen gegen 17 Beschuldigte ein, von denen mittlerweile neun verstorben sind. Die Namen der Beschuldigten, gegen die sie zehn Jahre lang ermittelt hat, nennt die Staatsanwaltschaft aus Datenschutzgründen nicht. Zu den acht Überlebenden zählt aber der inzwischen 91-jährige Gerhard Sommer, der seit 2005 in einer Senioren-Wohnanlage in Hamburg lebt.

In einer Pressemitteilung begründet die Staatsanwaltschaft nun die Einstellung der Ermittlungen damit, „dass sich der Nachweis, bei dem Massaker habe es sich um eine von vorneherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die Zivilbevölkerung gehandelt, nicht mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit führen“ lasse. Es bestehe „nämlich auch die Möglichkeit, dass Ziel des Einsatzes ursprünglich die Bekämpfung von Partisanen und die Ergreifung arbeitsfähiger Männer zum Zweck der Verschleppung nach Deutschland war und die Erschießung der Zivilbevölkerung erst befohlen wurde, als klar war, dass dieses Ziel nicht erreicht werden konnte.“

Deshalb müsse „bei jedem einzelnen Beschuldigten festgestellt und belegt werden, dass und in welcher Form er an dem Massaker beteiligt war“, um die noch nicht verjährten Tatbestandsmerkmale des Mordes bzw. der Beihilfe zum Mord zu belegen. Die Zugehörigkeit einer Person zu einer in Stazzema eingesetzten Einheit der Waffen-SS könne den individuellen Schuldnachweis nicht ersetzen. Dieser sei aber mehr als sechzig Jahre nach dem Geschehen nicht mehr möglich. Der eventuell mögliche Straftatbestand des Totschlags sei seit 1960 verjährt.

Die Einstellung des Verfahrens gegen die noch lebenden Beteiligten an dem Massaker ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer dieses grausamen Kriegsverbrechens. Sie steht in der Kontinuität der jahrzehntelangen Nichtverfolgung und Nichtverurteilung von nationalsozialistischen Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz.

Siehe auch: „Späte Sühne für SS-Massaker in Marzabotto“, „Deutsche Kriegsverbrechen in Italien

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