Offene Fragen bei den Anschlägen in Boston

Die Bombenanschläge auf den Bostoner Marathon, bei denen letzte Woche drei Menschen getötet und über 170 verletzt wurden, wurden zum Anlass für einen umfassenden Angriff auf demokratische Rechte genutzt. Eine ganze Stadt wurde unter Belagerungszustand gestellt. Wie bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit ist vieles weiterhin unklar, so zum Beispiel das Motiv der angeblichen Täter, ob weitere Personen beteiligt waren, und in welcher Beziehung die Verdächtigen zum FBI und anderen Regierungsbehörden standen.

Präsident Barack Obama erklärte der amerikanischen Bevölkerung sofort nach der Verhaftung des neunzehnjährigen überlebenden Verdächtigen, Dschochar Zarnajew, in einer Fernsehansprache: „Es ist klar, dass es viele offene Fragen gibt. Eine davon ist die, warum junge Männer, die hier aufgewachsen sind und studiert haben, die Teil unserer Gesllschaft und unseres Landes waren, solche Gewalttaten begangen haben? Wie haben sie diese Anschläge geplant und ausgeführt, und hatten sie dabei Hilfe?“

Die Regierung hat jedoch sehr wenige Informationen darüber freigegeben, was sie weiß. Die Obama-Regierung hat außerdem erklärt, dass Dschochar das Recht auf Aussageverweigerung vorenthalten wird, sodass die CIA, das FBI und Verhörspezialisten des Militärs ihn ohne die Anwesenheit eines Anwalts verhören können. Damit verhindern sie ebenfalls, dass Informationen darüber ans Licht gelangen, die nicht von der Regierung und ihren Geheimdiensten freigegeben sind.

Abgesehen von den Fragen, die Obama erwähnt, gibt es noch weitere Punkte, die ernsthaft untersucht werden müssten:

Wie sind die Brüder an den Sprengstoff gekommen, den sie für ihre Bomben benutzt haben?

Welche Beziehung bestand zwischen den Zarnajew-Brüdern und dem FBI und Geheimdiensten?

Haben amerikanische Behörden vor dem Anschlag von dessen Planung gewusst?

Wie hat die Politik der USA gegenüber Russland und den Separatistenbewegungen in Tschetschenien und anderen Teilen des Nordkaukasus die Einstellung der US-Regierung gegenüber den Zarnajews beeinflusst?

Auch wenn viele dieser Fragen unklar sind, ist eines klar: die Anschläge von Boston wurden, wie fast alle großen realen oder erfundenen Terroranschläge seit dem 11. September 2001 in New York und Washington von Menschen verübt, die von den amerikanischen Geheimdienstbehörden überwacht worden waren.

Gepanzerte Fahrzeuge in der Innenstadt von Boston [Photo: Jeff Cutler]

Es kommen zunehmend Fragen darüber auf, wie das FBI auf die Aufforderung einer ausländischen Regierung – vermutlich Russlands – reagiert hat, Tamerlan Zarnajew wegen angeblicher Beziehungen zum islamistischen Terrorismus zu überwachen.

Diese Aufforderung erging, als Tamerlan im Januar 2012 für sechs Monate nach Russland reiste, dort bei seinem Vater in Dagestan wohnte und Tschetschenien besuchte, wo mehrere Mitglieder seiner Familie leben.

Das FBI gab in einer Stellungnahme nach den Anschlägen zu, dass russische Behörden Tamerlan Zarnajew als „Anhänger des radikalen Islam“ einschätzten, sowie als einen „tief religiösen Menschen, der sich stark verändert hatte, seit er die USA im Jahr 2010 verlassen hatte, um nach Russland zu reisen und sich nicht genannten Untergrundgruppen anzuschließen.“

Das FBI erklärte, es habe daraufhin die Datenbanken der US-Regierung und andere Informationsquellen geprüft, um nach Dingen wie abfälligen Telefongesprächen, der Nutzung von Internetseiten, auf denen radikale Aktivitäten propagiert werden, Verbindungen mit relevanten Personen, früheren Reisen und Reiseplänen und seiner Bildung zu suchen.“

Zum Schluss der Stellungnahme erklärte das FBI, es habe keine terroristischen Aktivitäten feststellen können, weder im Inland noch im Ausland; und dies Ergebniss habe es der ausländischen Regierung im Sommer 2011 mitgeteilt.“

Russische Medien berichteten, dass russische Sicherheitsdienste das FBI im November 2012 nochmals wegen Tamerlan Zarnajew kontaktiert hätten.

Die Schilderungen der Eltern der Verdächtigen über die Rolle des FBI widersprechen den öffentlichen Stellungnahmen der Behörde.

Die Mutter der Brüder, Subeidat Zarnajewa, eine eingebürgerte Amerikanerin, sagte der Zeitung Russia Today, FBI-Agenten hätten ihr gegenüber behauptet, „Tamerlan sei ein Extremistenführer und sie hätten Angst vor ihm. Sie sagten mir, dass er sich nur auf diesen extremistischen Webseiten informiere.“

Sie fügte hinzu: „Das ist ein abgekartetes Spiel. Er wurde drei oder fünf Jahre lang vom FBI überwacht. Sie wussten, was mein Sohn tat. Sie wussten, an welchen Aktionen er teilgenommen hat, und auf welchen Internetseiten er war... Wie konnte das dann passieren? Sie haben jeden Schritt von ihm überwacht, und jetzt nennen sie das einen Terroranschlag.“

Der Vater der beiden, Ansor Zarnajew, erklärte der Nachrichtenagentur Reuters, das FBI sei mindestens fünfmal im Haus der Familie in Cambridge, Massachusetts, aufgetaucht und hätte nach Tamerlan gesucht. Er erklärte: „Sie sagten, sie würden Präventivarbeit leisten. Sie befürchteten, dass es in Boston Explosionen geben könnte.“

Der Vater behauptete, er sei bei einem Verhör durch das FBI dabei gwesen, bei dem die Agenten seinem Sohn gesagt hätten: „Wir wissen, auf welchen Seiten Sie waren, wir wissen, mit wem Sie telefoniert haben, wir wissen alles über Sie. Alles.“ Genau wie die Mutter beharrte er darauf, dass seine Söhne hereingelegt worden seien.

Laut russischen Quellen wurden beide Eltern daraufhin vom russischen Geheimdienst befragt, danach stellten sie allen Kontakt mit den westlichen Medien ein.

Berichte über die Beziehung des FBI zu Tamerlan Zarnajew haben zu Kritik von amerikanischen Abgeordneten geführt, unter anderem von Senator Lindsey Graham (Republikaner, South Carolina). Sie forderten, den jüngeren Bruder als „feindlichen Kämpfer“ einzustufen und dem Militär zu übergeben. Am Sonntag erklärte er in einem Fernsehinterview, das FBI habe versagt.

Er erklärte nicht, wobei das FBI versagt haben sollte. Und da weder die Verdächtigen noch sonst jemand ein Motiv für die Anschläge lieferte, ist noch vieles unklar.

Eine der möglichen Erklärungen stammt von der israelischen Webseite Debka, die sich auf „Antiterror- und Geheimdienstquellen“ beruft. Dort hieß es, man sei zu dem Schluss gekommen, dass der amerikanische Geheimdienst die beiden Brüder als „V-Leute“ angeheuert habe, um Zugang zu Dschihad-Netzwerken im russischen Kaukasus zu erlangen, aber sie hätten die Seiten gewechselt und sich gegen ihre Rekrutierer gestellt.

Es gibt zahlreiche Vorwürfe, dass Washington heimlich tschetschenische und islamistische Separatisten im Kaukasus unterstützt habe, die von 1994-1996 und im Jahr 1999 zwei Kriege gegen russische Truppen geführt hatten.

Angebliche sind tschetschenische Kämpfer auch in den vom Westen unterstützten islamistischen Milizen aktiv, die in Syrien für den Sturz des Regimes von Bashar al-Assad kämpfen. Auf Tamerlan Zarnajews YouTube-Kanal wurden Videos, die diesen Krieg für einen Regimewechsel unterstützen, und anderes islamistisches Material gefunden. Der Kanal hatte etwa 700 Abonnenten. Die Moscow Times zitierte den russischen „Geheimdienstexperten“ Andrei Soldatow, der das Vorgehen des FBI in diesem Fall hinterfragte. Über Tamerlan sagte er: „Er hat sich offen zu seinen Ansichten bekannt. Es ist mir unbegreiflich, warum das FBI nicht besser auf ihn achtgegeben hat.“

Eine Webseite, die die islamistischen Gruppen im Nordkaukasus unterstützt, veröffentlichte am Sonntag eine Stellungnahme, in der sie jede Beziehung zwischen sich und den Attentätern von Boston leugnete. „Die Kämpfer im Kaukasus führen keine militärischen Aktivitäten gegen die Vereinigten Staaten“, hieß es auf der Webseite Kavkazcenter.com. Die Server dieser Seite befinden sich in den USA.

Eine Quelle aus dem russischen Geheimdienst sagte AFP: „Momentan haben wir keine glaubwürdigen Informationen über die Beziehung der Zarnajew-Brüder zur Bewegung Kaukasus-Emirat“, der größten islamistischen Organisation in der Region. Die Gruppe hatte bisher die Verantwortung für Terroranschläge wie den Bombenanschlag auf den Moskauer Flughafen im Januar 2011 mit 37 Toten und Bombenanschläge auf die Moskauer U-Bahn im Jahr 2010 unternommen, bei denen es zu über 40 Toten kam.

Zur Frage, ob die Regierung schon vor den Explosionen an der Ziellinie des Marathons am Montag etwas über den geplanten Anschlag wusste, berichteten Teilnehmer von Dingen, die ihnen damals ungewöhnlich erschienen. Der Trainer des internationalen Teams der Universität von Mobile, Ali Stevenson, sagte den Medien in Alabama, er habe es seltsam gefunden, dass an Start- und Ziellinie Bombenspürhunde eingesetzt waren.

„Sie haben den Teilnehmern immer wieder gesagt ‚machen Sie sich keine Sorgen, das ist nur eine Übung‘“, sagte er. Ferner erklärte er, er habe zu Beginn des Rennens auch Späher der Polizei auf den Dächern gesehen. „Ich habe natürlich nicht geglaubt, dass das nur eine Übung war“, sagte Stevenson. „Ich glaube, sie müssen eine Bedrohung erkannt oder einen Verdacht gehabt haben.“

Wenn diese Dinge bekannt waren, ergibt sich eine weitere Frage. Fast alle Fälle von größeren Terrorverschwörungen in den USA in den letzten zehn Jahren waren das Ergebnis von Provokationen des FBI oder anderer Polizeibehörden. In fast allen Fällen hätten die Personen, die verhaftet und als Terroristen angeklagt wurden, niemals die Mittel oder überhaupt nur die Absicht gehabt, solche Aktionen ohne die helfende Hand von verdeckten Informanten oder Agent Provocateurs auszuführen.

Dieses Muster lässt sich bis zu den Anschlägen auf das World Trade Center im Jahr 1993 verfolgen: damals nahm der ehemalige Offizier der ägyptischen Armee Emad Salem, ein bezahlter Informant des FBI, sogar am Bau der Bombe teil. Später behauptete er, er wollte ursprünglich den Sprengstoff durch harmloses Pulver ersetzen.

Waren die Anschläge in Boston das Ergebnis einer solchen, außer Kontrolle geratenen Operation? Oder hatten Teile des Staates davon gewusst und es geschehen lassen?

Es ist noch nicht bekannt, wie sich der Plan für die Anschläge in Boston entwickelt hat, und welche Motive dahintersteckten, aber eines ist sicher: egal was hinter diesem Terroranschlag steckt, es wird von der US-Regierung als Vorwand genutzt werden, den Militarismus im Ausland und die Unterdrückung im Inland zu verschärfen.

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