Perspektive

Festung Europa: Immer mehr Tote

Die Zahl der Opfer des Bootsunglücks vom 3. Oktober vor der Küste der Insel Lampedusa südlich von Italien liegt wahrscheinlich höher als 350.

Es sind jetzt schon mehr als 300 Leichen von Einwanderern aus Nordafrika registriert. Zahlreiche weitere müssen noch aus dem Wrack auf dem Boden des Mittelmeers geborgen werden. Das Boot ist nur etwa 500 Meter vor der Küste Lampedusas gesunken. Nach ihrer Bergung werden die Leichen in einem großen Hangar abgelegt. Das ist das einzige Gebäude, das groß genug ist, die vielen Särge aufzunehmen.

Die Verantwortung für diese ungeheure soziale Tragödie liegt bei den Regierungen der Europäischen Union und ihrer Politik der „Festung Europa“.

Als die Zahl der Opfer und die Empörung der Bevölkerung immer größer wurden, warfen sich die italienische Regierung und Vertreter der Europäischen Union in Pose und heuchelten Sympathie mit den Opfern. Besonders ekelerregend waren die Bemerkungen des italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta, der ausrief: „Die Hunderte, die gestern vor der Küste von Lampedusa ihr Leben verloren, sind heute italienische Bürger.“

Den Überlebenden der Tragödie, von denen viele Familienangehörige und Freunde verloren haben, droht jedoch nach wie vor die Abschiebung, sobald die Behörden glauben, wieder handeln zu können. Die 155 traumatisierten Überlebenden sind auf Lampedusa in überfüllten Hütten als „illegale Flüchtlinge“ unter schwerer Bewachung eingesperrt. Das Einwanderungsgesetz von 2002 bedroht sie nicht nur mit Abschiebung, sondern auch mit Geldstrafe bis zu 5.000 Euro.

Die Heuchelei der italienischen Regierung steigerte sich noch, als sie am Mittwoch bekanntgab, dass die toten Flüchtlinge ein Staatsbegräbnis erhalten würden.

Wenn diese Ankündigungen als Realsatire der reaktionären EU-Flüchtlingspolitik gemeint waren, dann hätte sie nicht treffender sein können. Wenn ein Flüchtling einen legalen Status erhalten will, der ihm seine grundlegenden Rechte sichert, dann muss er erst einmal unter schrecklichen Bedingungen vor der Küste Europas sterben.

Die italienische Regierung und die EU ziehen aus dieser Katastrophe nicht die Konsequenz, ihre Flüchtlingspolitik zu lockern, sondern sie zu verschärfen.

Im Dezember wird ein neues von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenes “Europäisches Grenzüberwachungssystem“ namens EUROSUR zum Einsatz kommen. Eine seiner vornehmsten Aufgaben ist es, „die Zahl unentdeckt in die EU einreisender illegaler Flüchtlinge zu verringern“. Es ist „darauf ausgelegt, die Mitgliedsstaaten dabei zu unterstützen, die Zahl illegaler Einwanderer zu verringern, indem ihre Außengrenzen besser überwacht werden können und die Reaktionsmöglichkeiten ihrer Grenzkontrollbehörden verbessert werden.“

Die Kampagne gegen Flüchtlinge und Asylsuchende nimmt auf dem ganzen Kontinent zu. Als die Toten von Lampedusa noch geborgen wurden, traten syrische Flüchtlinge im französischen Calais in einen Hungerstreik, um gegen ihre unmenschliche Behandlung durch die Behörden zu protestieren. Die 65-köpfige Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind, protestierten auf einer Gangway auf einem französischen Fährhafen. Sie sind von fünfzig, französischen Bereitschaftspolizisten umstellt.

Einer der Hungerstreikenden sagte: “Wir werden in Frankreich wie Hunde behandelt”. Sie haben in Großbritannien Asyl beantragt. Die britische Regierung ihrerseits verwehrt ihnen die Einreise und erklärt, sie werde die Anträge einzeln prüfen und werde nur Fälle berücksichtigen, in denen schon Familienmitglieder der Antragsteller in Großbritannien lebten.

Dieser brutale Umgang mit Menschen, deren Leben von jahrelangem Bürgerkrieg zerstört wurde, unterstreicht einen weiteren grundlegenden Aspekt der Flüchtlingskrise.

Hunderttausende Menschen werden aufgrund des kriminellen Vorgehens der Vereinigten Staaten und der europäischen Großmächte aus ihrer Heimat in Nordafrika und dem Nahen Osten vertrieben. Die Kriege in Libyen, Somalia, Syrien und anderswo haben eine Region verwüstet, die auch schon vorher von globalen Banken und Konzernen ausgeplündert wurde.

In Syrien sind nach drei Jahren eines von den USA und den europäischen Mächten provozierten Stellvertreterkriegs schon 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Von den mehr als 30.000 Flüchtlingen, die dieses Jahr nach Italien gekommen sind, waren allein 7.500 Syrer auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg, 7.500 Eritreer auf der Flucht vor einem brutalen Regime und 3.000 Somalier, die vor der alltäglichen Gewalt in ihrem Land flohen.

Das Leben von vielen Millionen Menschen ist ruiniert worden. Als Strafe werden die Flüchtlinge jetzt dämonisiert und als „Wirtschaftsflüchtlinge“ verleumdet, als ob der Versuch, sich vor solchen Zuständen in Sicherheit zu bringen, nicht legitim sei.

Verantwortlich für diese grauenvolle Situation ist jede einzelne kapitalistische Partei in Europa. Ob sie sich als Sozialdemokraten, Liberale, Konservative oder Christdemokraten bezeichnen, sie alle verbreiten einwandererfeindliche Stimmungen und Politik. Ihr Ziel ist, Einwanderer und Asylsuchende zu Sündenböcken für die Auswirkungen der Sparpolitik zu machen, die Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen zerstört und das Leben von Millionen auf dem ganzen Kontinent ruiniert.

Diese ausländerfeindliche Propaganda schlägt sich dann in der primitiven Hetze faschistischer Gruppen wie der griechischen Goldenen Morgenröte nieder.

Auch die zahllosen pseudolinken Tendenzen sind für diese schreckliche Situation verantwortlich. Parteien wie die Linkspartei in Deutschland, die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich und Syriza in Griechenland sprechen sich zwar gegen Angriffe auf Einwanderer aus, aber sie verteidigen alle die Europäische Union und den europäischen Kapitalismus und sind Befürworter des europäischen Militarismus.

Sie alle haben Interventionskriege in Libyen und Syrien unterstützt. Sie glorifizieren entweder die imperialistischen Stellvertretertruppen als „Revolutionäre“, oder unterstützen die humanitäre Propaganda, mit der die räuberischen Ziele der Großmächte kaschiert werden.

Viele Arbeiter und Jugendliche in ganz Europa empfinden große Sympathie für die Opfer von Lampedusa. Aber es ist sicher, dass diese Toten nicht die letzten sein werden. In den letzten zwanzig Jahren haben bis zu 25.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, ihr Leben gelassen. Weil viele Landgrenzen inzwischen abgeschottet sind, bleibt als einzige Möglichkeit, ein besseres Leben zu erreichen, eine gefährliche Schiffsreise auf kleinen Booten über das Mittelmeer.

Um die Dimensionen deutlich zu machen: im letzten Jahr wurde nur 100.000 Flüchtlingen und Asylsuchenden die Einreise in die EU gestattet, die eine Bevölkerung von über 500 Millionen hat.

Die Politik Einwanderer zu Sündenböcken zu machen und sie zu dämonisieren, muss ein Ende haben. Die Arbeiterklasse in Europa und international muss Einwanderer und Asylsuchende bedingungslos gegen die systematische Verfolgung durch die Behörden verteidigen.

Aber es geht um mehr. Die zentrale Aufgabe von Arbeitern ist der Sturz des Kapitalismus und die Zerstörung des gesamten Nationalstaatensystems. Nur das wird dem Schrecken ein Ende setzen, dem die Völker der Welt täglich ausgesetzt sind.

Das erfordert den Aufbau einer revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse. Sie muss sich die Beseitigung des Europas der von Stacheldraht bewehrten Grenzen zu eigen machen und die wachsende Ungleichheit und Verelendung beseitigen. Die einzige fortschrittliche Antwort auf eine Zukunft imperialistischer Kriege, von Armut und Massenarbeitslosigkeit sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als Teil einer weltweiten sozialistischen Föderation.

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