Detroit Institute of Arts

Die Arbeiterklasse und die Industriefresken des DIA

Als Diego Rivera im April 1932 in Detroit eintraf, um die Fresken im Innenhof des Kunstmuseums anzufertigen, traf er auf eine politisch und sozial außerordentlich angespannte Umgebung. Die Lage in der Stadt war dermaßen heikel, dass selbst seine Industriegemälde zu einem wichtigen politischen Ereignis avancierten. Rivera bezeichnete den Kampf um die Anfertigung seiner Wandmalereien, die er später als seine bedeutendste Arbeit betrachtete, als „Schlacht von Detroit“.

Im Jahr 1932 war Detroit ein von der großen Depression ins Mark getroffener, danieder liegender Industriegigant. Die Autoproduktion brach von 5.337.000 Einheiten im Jahr 1929 auf 1.332.000 Einheiten 1931 ein, ein Rückgang um 75 Prozent. Der Jahresdurchschnittslohn der Arbeiter sank um 54 Prozent. Im Winter 1932/33 war fast die Hälfte der Detroiter Arbeiter beschäftigungslos, und ein Drittel aller Haushalte, 125.000 insgesamt, mussten sich ohne jegliches Einkommen durchschlagen. In den vier Jahren von 1927 bis 1931 verfünffachte sich die Selbstmordrate beinahe. Eine Studie aus dem Jahr 1932, die Detroiter Schulkinder untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass etwa jedes fünfte Kind „untergewichtig“ war.

Die Arbeiterklasse der Stadt hatte gerade erst begonnen, den Kampf aufzunehmen. Dieser Prozess sollte 1936/37 in Streiks und Fabrikbesetzungen kulminieren, die von sozialistisch gesinnten Autoarbeitern angeführt wurden und die Gründung von Massengewerkschaften zur Folge hatten.

Wenige Wochen vor Riveras Ankunft in Detroit, am bitter kalten 7. März 1932, organisierte der Detroiter Rat der Arbeitslosen einen Fußmarsch von über fünftausend Arbeitern und Jugendlichen, der von Detroit zum riesenhaften River-Rouge-Komplex, dem Ford-Gelände in Dearborn, führte. Er ist später als „Hungermarsch“ bekannt geworden. Die Arbeiter, die dem schneidenden Wind entgegen marschierten, trugen Transparente mit Aufschriften wie: „Besteuert die Reichen und gebt den Armen zu essen“, „Gebt uns Arbeit“ und „Wir wollen Brot – nicht Krumen!“. Sie wollten Henry Ford, dem reichsten Mann der Welt, vierzehn Forderungen übergeben, darunter die Aufforderung, Arbeitslose einzustellen, das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, ein Ende der Diskriminierung von Schwarzen bei Einstellungen sowie die Beendigung des verhassten Aufpassersystems in der Fabrik.

Als die Marschierenden Dearborn erreicht hatten, wurden sie von der Polizei und von Fords eigenen Schlägern mit Tränengas, Feuerwehrschläuchen, Knüppeln und scharfen Schüssen angegriffen. Vier Mitglieder der Kommunistischen Jugendliga wurden getötet: Joe York, Coleman Leny, Joe DeBlasio und der erst sechzehnjährige Joe Bussell. Zweiundzwanzig weitere wurden verletzt, unter ihnen Curtis Williams, der drei Monate darauf seinen Verletzungen erlag. Die New York Times berichtete anschließend folgendermaßen vom Ort des Geschehens: “Die Straßen Dearborns waren blutüberströmt, von Glassplittern und Autowracks übersät, deren Karosserien von Pistolenschüssen durchlöchert waren, und fast jedes Fenster an Fords Einstellungsbüro war zerbrochen.“

Am 12. März zollten nicht weniger als 60.000 Arbeiter den vier am 7. März ermordeten Arbeitern einen überwältigenden Tribut, als sie sich dem Trauermarsch anschlossen. Dieser führte am Detroit Institute of Arts vorbei sechs Meilen in westlicher Richtung zum Woodmere-Friedhof, wo die Toten beigesetzt wurden. Den Trauernden wurde untersagt, Dearborn zu betreten, wo sie, wie Fred Faustman, der leitende Polizeichef von Dearborn, androhte, „erst mit Stöcken, dann mit Tränengas und Stinkbomben, schließlich mit Pistolen empfangen würden, wenn die anderen Mittel versagen sollten“.

Presseberichte jammerten darüber, dass es keinen Gottesdienst gab. Die Arbeiter sangen stattdessen die Internationale, die Hymne der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse. Weil Curtis Williams Afroamerikaner war, verweigerte die Leitung des Woodmere-Friedhofs ihm die Bestattung. Seine Asche wurde aus einem Flugzeug über dem River-Rouge-Werk verstreut.

Rivera, der bereits ein berühmter Künstler war, war auch Adressat erbitterter Angriffe, sowohl aus den Reihen der Rechten, als auch aus der stalinistischen Kommunistischen Parteien der USA und Mexikos. Als er am 21. April 1932 in Detroit eintraf, waren nur wenige Wochen seit dem Hungermarsch vergangen. 1929 war Rivera wegen ideologischer „Abweichung“ aus der Mexikanischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen und als „Trotzkist“ (die größtmögliche politische Versündigung) abgestempelt worden. Die Stalinisten hafteten Rivera die Etiketten „Künstlermillionär des Establishments“ und „Salonbolschewist“ an. Nach Detroit kam er aus Kalifornien, wo er gerade im Gebäude der San Francisco Pacific Stock Exchange sein Werk Allegorie Kaliforniens fertiggestellt hatte.

Rivera erhielt 21.000 Dollar, und zwar allein aus der Tasche von Edsel Ford. Edsel, der zweifellos weit progressiver eingestellt war als sein Vater Henry, war ein Amateurkünstler und Kurator des Detroit Institute of Arts (DIA). Der alte Ford hatte sich zu einem bösartigen Antisemiten entwickelt, der für die erste Publikation der Protokolle der Weisen von Zion in den Vereinigten Staaten gesorgt hatte. Henry Ford war ein hasserfüllter Antikommunist und trat jeder unabhängigen Organisation der Arbeiterklasse in seinen Fabriken entgegen. Hierzu stand ihm seine berüchtigte „Dienstleistungsabteilung“ zur Verfügung, mit der er die Arbeiter ausspionieren, einschüchtern und zusammenschlagen ließ, wenn sie aus der Reihe tanzten.

Später bezeugten Fordarbeiter, dass in der Industriestadt Dearborn der Terror herrschte. Ohne Durchsuchungsbefehle wurden Wohnungen aufgebrochen und durchsucht. Beamte der Stadt drohten Arbeiterkomitees Gewalt an und verwehrten den Arbeitern das Versammlungsrecht, während zugleich arbeitslosen Arbeitern die Sozialhilfe abgelehnt wurde. In einem Fall richtete ein Beamter der städtischen „Sicherheitskommission“ eine Pistole auf einen Arbeiterführer und sagte ihm: „Wir haben damit vier von eurer Sorte ins Grab gelegt, und wir werden noch etliche weitere dorthin bringen, wenn wir müssen.“

Der vorzügliche DIA-Direktor Wilhelm Valentiner, ein deutscher Emigrant, der von der sozialistischen Bewegung stark beeinflusst war, hatte Rivera beauftragt, im zentralen Gartenhof des Museums eine Serie von Wandmalereien um das Thema „Der Geist Detroits“ zu schaffen.

Der Freskenkünstler glaubte, diesen Geist in den Fabriken anzutreffen. „In den drei folgenden Monaten war Rivera damit beschäftigt, in ganz Detroit von Fabrik zu Fabrik zu eilen“, schreibt der Historiker Alex Goodall. „Er besuchte dutzende Orte in der Stadt, doch seine hauptsächliche Inspiration gewann er aus dem River-Rouge-Werk des Ford-Unternehmens, der größten mechanisierten Industrieanlage weltweit.“

Auf dem Werksgelände ballten sich auf der Fläche einer Kleinstadt gigantische Produktionskapazitäten und Energien zusammen. 100.000 Arbeiter verarbeiteten in Stahlwerken, Gießereien und Fertigungsanlagen Rohmaterialien wie Kohle, Holz und Eisen, die auf Schiffen und Eisenbahngleisen herbeigeschafft wurden. Eisenerz, das per Schiff eingetroffen war, verließ 33 Stunden später das Fertigungsband als fertiger Motor.

Nachdem er am 25. Juli 1932 schließlich die Arbeit an den Fresken aufgenommen und sich sowie seinen Assistenten 18-Stunden-Schichten auferlegt hatte – denn er „verlangte denselben beschleunigten Zeitplan, den jeder Manager in den Ford-Werkstätten aufstellt“ – „bewiesen die Fresken“, in den Worten Goodalls, „ihre gesellschaftliche Strahlkraft“.

Valentiner beschrieb sie in einem unveröffentlichten Manuskript als “eine Art Enzyklopädie wissenschaftlichen und technischen Wissens seiner Zeit, beginnend mit der Entwicklung des Menschen aus seinem Embryonalzustand“. Die menschlichen Aktivitäten, schreibt er weiter, „werden dargestellt wie die sich ausbreitenden Wurzeln eines Baumes“: von der Entwicklung des Ackerbaus zur Entdeckung der Bodenschätze und der Einführung technologischer Methoden durch die Völker der Welt zur Nutzbarmachung von Kohle, Eisen, Kalk und Sand, der Grundlage der modernen Industrie.

Rivera stellte die in der Industrie tätige Arbeiterklasse in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Er porträtierte sie nicht als graue Masse, sondern als eine gewaltige, lebendige, gesellschaftliche Macht, deren kollektive Arbeit alle historischen Errungenschaften der Menschheit in Bewegung setzt.

In Detroits Oberschichten machte sich Opposition gegen Riveras Fresken breit. „Señor Rivera erlaubte sich ein herzloses Schelmenstück mit Edsel Ford, seinem kapitalistischen Auftraggeber“, sagte George Derry, der Präsident des Marygrove-College. „Er drehte Ford und dem Museum ein Kommunistisches Manifest an.“ Rivera seinerseits erinnerte sich später: „Schöne, gut angezogene Damen lamentierten über den Verlust ihres friedvollen, lieblichen Gartens, der wie eine Oase inmitten der Industriewüste von Detroit gewesen war.“

In ihren Angriffen trat die Beschränktheit der Kritiker zutage. Die Detroiter Free Press greinte über die Tatsache, dass sowohl Rivera als auch der DIA-Direktor William [Wilhelm] Valentiner keine Amerikaner waren. „Aus Deutschland wird ein Kunstdirektor geholt, der einen mexikanischen Künstler beauftragt, den Geist einer amerikanischen Stadt zu interpretieren“, schrieb das Blatt. „Warum stellen wir nicht einen französischen Direktor an, der für uns einen japanischen Wandmaler findet, welcher uns erzählt, wie wir seiner Meinung nach aussehen?“ Die Detroit News nannte die Fresken “unamerikanisch, fehl am Platze und unsympathisch” und schlug vor, “das ganze Werk zu übertünchen“.

Die aggressivsten Denunziationen kamen von dem faschistoiden „Radiopriester” Vater Charles Coughlin aus Detroit, dessen Radiosendung Millionen amerikanischer Haushalte erreichte, und von Hochwürden H. Ralph Higgins von der Detroiter methodistischen St. Pauls-Kirche. Beide Kleriker trachteten danach, die Fresken zu zerstören.

“Vater Coughlin begann, mich täglich mit langen Schmähreden zu beehren. Er verurteilte die Fresken im Institut als unmoralisch, blasphemisch, antireligiös, obszön, materialistisch und kommunistisch“, erinnerte sich Rivera. „Im Ergebnis wurde in ganz Detroit darüber diskutiert, was ich tat.“

“Diese Wandmalereien sind dem klassizistischen Hof unseres Kunstmuseums ebenso angemessen, wie eine Jazzband einer mittelalterlichen Kathedrale, “ donnerte Higgins. „Die Fresken geben vor, den Geist Detroits zu verkörpern. Wäre der Geist unserer Bevölkerung unverfälschter Materialismus und Atheismus, wären Wissenschaft und Sexualität unsere Götter, wäre die Brutalität des Maschinenzeitalters die einzige Tugend, die unsere schöne Stadt zum Ausdruck bringt, wären alle diese Dinge wahr, dann müsste man Rivera als modernen Michelangelo feiern.“

Die Gefahr, der die Fresken ausgesetzt waren, war ganz real. Später, im Jahr 1934, wurde Rivera gezwungen, die Arbeit an seinem Fresko Der Mensch am Scheideweg, hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blickend im Rockefeller Center in New York City abzubrechen. Nelson Rockefeller, der Auftraggeber, stieß sich an einem Bildnis Lenins, das Teil des Freskos war. Im März 1934 wurde das gesamte Fresko im Rockefeller Center für immer zerstört.

In Detroit erhielt Rivera die Unterstützung prominenter Intellektueller und Künstler. Der berühmte Architekt Albert Kahn verteidigte Rivera und drehte den Spieß gegen die religiösen Kritiker der Fresken. „Die Angriffe der Kirchenmänner enthalten nichts Neues. Michelangelo porträtierte die Kleriker als Teufel, die ihm während der Arbeiten an der Sixtinischen Kapelle in die Quere kamen, “ sagte Kahn. „Rembrandt wurde ebenso wie Rivera der Gotteslästerung bezichtigt. Doch wer wirft heute mit Steinen nach Rembrandt?“

Die machtvollste Verteidigung Riveras und seines Werkes aber lieferte die Arbeiterklasse. Im ersten Monat nach der Eröffnung, im März 1933, als sich der Hungermarsch jährte, kamen 100.000 Besucher, um die Fresken zu sehen. Bevor die Fresken da waren, war das Budget des DIA im Jahr 1932 auf ein Zehntel des Budgets von 1929 gesunken. Valentiner erinnerte sich: „Im Stadtrat wurde über die Schließung des Museums debattiert, sogar über den Verkauf seiner Kunstobjekte. Alle Bemühungen der letzten zehn Jahre, mit begrenzten Mitteln eine beachtenswerte öffentliche Sammlung zusammenzutragen, schienen auf des Messers Schneide. Noch übler indessen erging es der Belegschaft, der die Stadt die Gehälter nicht auszahlen konnte.“

Der überragende Erfolg von Riveras Fresken stärkte unterdessen dem Museum den Rücken. Im Jahr 1934 wies das DIA seine bis zu diesem Zeitpunkt historisch höchste Besucherzahl auf.

In seiner Autobiographie sprach Rivera den Industriearbeitern seinen Dank für ihre enthusiastische Antwort aus. Die Arbeiter spürten, sagte er, dass die Fresken „ausschließlich zum Wohlgefallen der Arbeiter der Stadt geschaffen worden sind“.

Rivera sagte, er sei von Mexiko in die Vereinigten Staaten gekommen, um „die Wirkung und Rückwirkung zwischen meinen Gemälden und den großen Massen der Industriearbeiter“ ermessen zu können. Seine Fresken, so glaubte er, könnten niemals zum Mittelpunkt der privaten Betrachtung weniger Privilegierter werden. Vielmehr würden sie zu einem Ansporn und tätigen Wirkungsmittel bei der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft werden. Darin hat Rivera recht behalten.

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