Neues Gutachten schließt Selbsttötung Oury Jallohs aus

Polizei und Justiz haben bislang ausschließlich die These verfolgt, dass sich der aus Sierra Leone stammende Asylbewerber Oury Jalloh im Januar 2005 versehentlich selbst verbrannt habe. Doch ein neues Brandgutachten, das die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh angestrengt hat, widerlegt diese Theorie nachdrücklich.

Der Brand im Polizeigewahrsam in Dessau könne nur durch Brandbeschleuniger und großflächige Manipulationen an der feuerfesten Matratze hervorgerufen worden sein, schreibt der irische Sachverständige Maksim Smirnou in seinem Abschlussbericht. Oury Jalloh muss dem Gutachten zufolge ermordet worden sein.

Neun Jahre sind seit dem Tod Oury Jallohs vergangen, doch von Aufklärung des tatsächlichen Hergangs kann trotz zweier Gerichtsverfahren bis heute keine Rede sein. In einem ersten Verfahren wurden die der fahrlässigen Tötung angeklagten Polizisten freigesprochen. Im Revisionsverfahren wurde der Dienststellenleiter Andreas S. zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro verurteilt, da er den Feueralarm und eine Gegensprechanlage, in der das Prasseln des Feuers deutlich zu hören war, minutenlang ignoriert und leiser gestellt hatte.

Die Beamten des Polizeireviers konnten sich vor Gericht entweder an nichts mehr erinnern oder gaben offensichtlich abgesprochene, gleich lautende Erklärungen ab. Staatsanwaltschaft und Richter wiederum sahen keine Notwendigkeit, diese Mauer des Schweigens zu durchbrechen, ließen sich bereitwillig auf das Spiel ein und verfolgten nur die zuvor festgelegte These, Oury Jalloh habe sich selbst entzündet. Verschwundene Beweismittel, schlampige Ermittlungsarbeit, und widersprüchliche Zeugenaussagen wurden dabei stets geflissentlich beiseite gewischt. Es sollte ja kein Verdacht aufkommen, dass die Polizei womöglich selbst den Tod des Asylbewerbers herbeigeführt haben könnte.

Dabei machten die vielen Ungereimtheiten des Falles die angebliche Selbstanzündung Oury Jallohs von Anfang an zur unwahrscheinlichsten Möglichkeit.

Unwidersprochen ist bislang nur, dass Oury Jalloh am Morgen des 7. Januar 2005 stark alkoholisiert von der Polizei in Dessau aufgegriffen wurde. Er wehrte sich gegen die Identitätsfeststellung, da er sich als Asylbewerber ohnehin regelmäßig bei der Polizei melden musste und seine Personalien bekannt gewesen sein dürften. Ein hinzugerufener Notarzt stellte zwar einen Blutalkoholwert von fast 3 Promille fest, erklärte Jalloh aber dennoch für haftfähig. Er wurde daraufhin in eine Zelle im Keller der Polizeiwache gebracht und dort, an Händen und Füßen fixiert, auf eine feuerfeste Matratze geschnallt.

Zwei Stunden später schlug zunächst der Feuermelder Alarm, dann waren aus der Gegensprechanlage Brandgeräusche zu hören. Der Dienstgruppenleiter Andreas S. ignorierte dies aber zunächst. Erst als auch der Rauchmelder im Lüftungsschacht Alarm schlug, bewegte sich Andreas S. in Begleitung eines weiteren Polizisten in den Zellentrakt. Doch die starke Rauchentwicklung und Hitze verhinderten eine Befreiung Jallohs von seinen Fesseln in der Zelle. Er musste jämmerlich verbrennen.

Danach legten sich die polizeilichen Ermittler schnell fest: Oury Jalloh habe sich in seiner Zelle selbst angezündet. Diese Vorfestlegung wird aus dem Tonmitschnitt des kameraführenden Ermittlers bei der ersten Tatortbegehung deutlich: „Ich begebe mich jetzt in den Keller, in dem sich ein schwarzafrikanischer Bürger in einer Arrestzelle angezündet hat … gleich die erste Zelle rechts wurde durch den Schwarzafrikaner belegt und hier hat er sich auch angezündet.“

Noch am Tag der Tat legten sich die Ermittlungen demnach auf die Version der Selbstverbrennung fest. Staatsanwaltschaft und Gericht ermittelten danach ebenfalls nur in diese Richtung. Sie ließen aufwändige Gutachten erstellen, wie es Oury Jalloh auf akrobatische Weise schaffen konnte, ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche zu zaubern und damit die Nähte der Matratze zu verschmoren, damit er den Bezug öffnen konnte. Denn dann, so die Folgerung von Polizei und Justiz, wäre es ihm möglich gewesen, die brennbare Füllung zu entzünden. Aber wie schafft dies ein an Händen und Füßen festgeschnallter, stark alkoholisierter Mann? Diese Frage blieb bis heute unbeantwortet.

Darüber hinaus wurde auch der Brandverlauf nie nachgestellt, sondern nur am Computer simuliert. Erst die Bemühungen der Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh bringen nun Licht in das Dunkel. Sie hat ein mit Spenden finanziertes neues Gutachten in Auftrag gegeben, um diese Fragen zu klären.

Der als Gerichtssachverständiger arbeitende irische Thermophysiker Maksim Smirnou hat dazu die Zelle mit der feuerfesten Matratze nachgebaut und Schweinekadaver zur Simulation eines menschlichen Körpers benutzt. Doch selbst nach über einer Stunde Zündeln konnte Smirnou der Matratzenfüllung nur einen kleinen Schwelbrand entlocken, der zudem nur wenig weißen Rauch erzeugte.

Dieser Befund widerspricht eklatant dem am Tatort vorgefundenen und auf Video festgehaltenen Brandbild, das eine nahezu völlig abgebrannte Matratze und eine stark verkohlte Leiche zeigt. Zudem haben die Polizisten von starker Rauch- und Hitzeentwicklung berichtet. Diese konnte Smirnou jedoch erst durch den massiven Einsatz von Brandbeschleunigern erzeugen. Er musste mehrere Liter Benzin über die Matratze gießen, um am Ende ein Brandbild zu erhalten, das dem am Tatort nahe kam.

Hinzu kommt, dass bei der Obduktion von Oury Jalloh Cyanide entdeckt wurden. Cyanide bilden sich aber aus Blausäure, die typischerweise bei der Benutzung von Brandbeschleunigern entsteht, wie Smirnou in seinem Bericht erklärt. Außerdem musste er den Bezug der feuerfesten Matratze großflächig abziehen, was für einen fixierten Menschen unmöglich sei.

Auch das Feuerzeug, mit dem sich Jalloh nach Aussagen von Polizei und Justiz selbst in Brand gesteckt haben soll, wirft immer neue Fragen auf. Es wurde, nachdem es auf der Asservatenliste anfangs nicht aufgetaucht war, nach ein paar Tagen plötzlich aus dem Hut gezaubert. Die Beamten behaupteten, sie hätten es unter Jallohs Leiche entdeckt.

Doch die Verschmorungen des Feuerzeugs wollen einfach nicht zu den nachgestellten Brandbildern passen. Unter Jallohs Körper hätte es praktisch keine Brandschäden aufweisen dürfen. Außerdem wurden weder Faserrückstände von der Matratze oder Jallohs Kleidung noch DNA-Spuren Jallohs am Feuerzeug entdeckt. Es gibt also keinen Nachweis, dass das Feuerzeug die Kleidung oder die Matratze Jallohs berührt hat

Die Anwältin der Familie Jalloh, Gabriele Heinecke, hat noch auf eine weitere Ungereimtheit hingewiesen, die bei der juristischen Aufarbeitung bislang unter den Tisch gefallen ist. „Wir haben die sichere Information, dass Oury Jalloh kein Noradrenalin in sich hatte, dass er also ohne Stress war, als er gestorben ist. Hätte er sich selbst angezündet, hätte er das Feuer erlebt, wäre das zwingend zu erwarten gewesen. Das heißt für uns, dass er höchstwahrscheinlich bewusstlos war, als das Feuer begann und als es sich ausgebreitet hat. Er hat noch gelebt, er hat noch geatmet, es war Ruß in der Lunge, es ist Ruß verschluckt worden, aber nach unserer Überzeugung war er nicht bei Bewusstsein. Damit scheidet er als Brandleger aus.“

Die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh hat inzwischen bei der Generalbundesanwaltschaft Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen Mordes an Oury Jalloh erstattet. Denn anscheinend wurde von Anfang an darauf hingearbeitet, die Tötung Oury Jallohs zu vertuschen. Nur so ist zu erklären, dass wichtige Beweismittel wie Einsatzpläne, Gewahrsamsprotokolle, die Handschellen und Videoaufnahmen plötzlich verschwunden waren.

Zeugenaussagen, dass die Polizisten Hans-Ulrich M. und Udo S. gegen 11.30 – eine halbe Stunde vor dem Brandausbruch – noch einmal bei Oury Jalloh in der Zelle gewesen seien, oder dass noch vor dem Brand eine Lache vor der Zelle gesehen worden sei, wurde nicht weiter nachgegangen.

Auch dass Oury Jalloh von der Polizei schwer misshandelt wurde, ehe er in die Zelle kam, fand vor Gericht bislang wenig Beachtung. Bei einer zweiten Obduktion wurden ein Nasenbeinbruch sowie der Riss eines Trommelfells nachgewiesen. Die Polizisten in Dessau waren zudem bekannt für ihre rassistischen Übergriffe, unter denen insbesondere Asylbewerber aus Afrika zu leiden hatten.

Statt den Tathergang aufzuklären, setzte die Polizei alles daran, die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh und deren Gründer Mouctar Bah, die von Anfang an Zweifel an der offiziellen Version hegten, mundtot zu machen.

Ende 2005 verlor Bah unter fadenscheinigen Gründen die Lizenz für sein Telecafé, in dem er danach nur noch als Angestellter arbeiten konnte. Später fand unter dem Vorwurf, Bah habe mit gestohlenen Hosen aus einem Modehaus gehandelt, eine Hausdurchsuchung statt. Doch das Modehaus erklärte, dass gar keine Hosen fehlten. Im Dezember 2009 fand im selben Telecafé eine Drogenrazzia statt. Die Polizei musste später einräumen, dass die Betreiber und Mitarbeiter des Cafés selbst sie auf die Drogenszene in der Straße aufmerksam gemacht hatten.

Trotz dieser schier erdrückenden Beweislast mauert die Justiz weiter. Der zuständige Leitende Oberstaatsanwalt in Dessau, Folker Bittmann, sprach zwar von „sehr ernsten, überraschenden und zum Teil erschreckenden Informationen“ und kündigte die Erstellung eines neuen Gutachtens an. Er mahnte aber zugleich gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass „die zugrunde liegenden Parameter beim Gutachten Smirnous keinesfalls gesichert“ seien. Es seien, so Bittmann, „nun mal keine Brandbeschleuniger am Tatort gefunden worden, deswegen müsse man weiter davon ausgehen, dass Dritte nicht beteiligt gewesen seien“.

Mit anderen Worten soll die Rechtsstaatlichkeit des bisherigen Verfahrens eben sowenig in Frage gestellt werden wie die Rechtschaffenheit der Polizei.

Der britische Guardian hat Parallelen zum Fall der NSU-Terrorzelle gezogen. In beiden Fällen haben es die Ermittlungsbehörden laut Guardian versäumt, rassistischen Motiven bei den Tötungsdelikten nachzugehen. So lasse es die Polizei systematisch an der notwendigen Sorgfalt bei den Ermittlungen fehlen, wenn die Opfer einer ethnischen Minderheit angehörten.

Doch es geht hier nicht nur um Versäumnisse. Im Fall der NSU-Terrorzelle hatte der Verfassungsschutz dermaßen viele V-Leute in ihrer Nähe platziert, dass sich der Verdacht aufdrängt, er habe von ihrer Tätigkeit gewusst oder sie sogar unterstützt. Im Falle Oury Jalloh liegen nun starke Indizien vor, dass die Polizisten selbst den Brand gelegt haben könnten.

In beiden Fällen verschwanden wichtige Akten oder wurden Beweismittel unterdrückt. An der offiziellen Version, die Sicherheitsbehörden hätten nichts mit den Morden zu tun, durfte jedoch nicht gerüttelt werden.

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