Irak-Krise könnte Krieg in der Region auslösen

Die sunnitische Miliz Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS/ISIL), eine Abspaltung von Al Qaida, hat nach der Einnahme der mit einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen zweitgrößten irakischen Stadt Mossul ihre Offensive fortgesetzt und Tikrit, Heimatstadt des ehemaligen irakischen Staatsoberhauptes Saddam Hussein, und weitere Städte im Tigristal eingenommen und marschiert auf Bagdad vor.

Die Regierung von Premierminister Nuri al-Maliki hat nördlich der Hauptstadt eine Verteidigungslinie aus Einheiten der irakischen Spezialkräfte und Freiwilligen aus der schiitischen Bevölkerung gebildet, um den Vormarsch des ISIS aufzuhalten.

Die USA beginnen angeblich, einen Teil der tausenden privaten Militärs und Geheimdienstler zu evakuieren, die im Land sind, und es wird über das Schicksal der riesigen amerikanischen Botschaft in Bagdad diskutiert, dem größten Botschaftsgebäude der Welt. Im Irak entwickelt sich ein monumentales Debakel, dessen Ursache die gesamte Politik ist, die die Bush- und Obama-Regierung während mehr als zehn Jahren verfolgt hat.

Die Krise droht, den Irak in einen religiös motivierten Bürgerkrieg des gleichen Ausmaßes zu stürzen, wie ihn die USA und ihre Verbündeten in Syrien entfesselt haben. Die ganze Region droht in einen blutigen Konflikt zu stürzen.

Washington hat erst vor zweieinhalb Jahren die fast zehn Jahre andauernde Besetzung des Landes beendet, die mehr als eine Million Iraker das Leben gekostet hat. Nun wird es unweigerlich von einer Katastrophe wieder eingeholt, die es selbst verursacht hat.

Präsident Obama erklärte im Weißen Haus auf die Frage eines Reporters nach einer möglichen militärischen Reaktion der USA auf die Offensive des ISIS: "Ich schließe nichts aus."

Er nannte die Krise im Irak eine "Notfallsituation" und erklärte, es sei klar, dass das irakische Regime von Präsident Nuri al-Maliki "mehr Hilfe" brauchen wird.

Ein Sprecher des Weißen Hauses beeilte sich klarzustellen, dass Obama nicht von einer Rückkehr von US-Truppen in den Irak gesprochen habe, sondern nur von potenziellen amerikanischen Luftangriffen und Drohneneinsätzen. Das Land war fast neun Jahre lang, bis Ende 2011, vom US-Militär besetzt.

Washington versprach auch, die Lieferung von Hellfire-Raketen und Millionen Schuss Munition für Handfeuerwaffen, tausende von Panzergeschossen, Granaten, Maschinengewehren und Sturmgewehren an das irakische Militär zu beschleunigen.

Diese Waffen werden jedoch erst in den nächsten Wochen im Irak eintreffen und das irakische Militär, das sie eigentlich als Unterstützung erhalten sollte, ist in der Auflösung begriffen. In Mossul und anderen Städten kam es zu Massendesertionen von irakischen Soldaten: sie warfen ihre Waffen weg, tauschten ihre Uniformen gegen Zivilkleidung aus und versuchten, vor den islamistischen Guerillas zu fliehen.

Eine Armee, für die das US-Militär fünfundzwanzig Milliarden Dollar ausgegeben und die sie fast zehn Jahre lang ausgebildet hat, war nicht in der Lage, den Vormarsch von knapp zwei- bis dreitausend ISIS-Kämpfern aufzuhalten. Im Internet erschienen Videos, die zeigen, wie ISIS-Kämpfer Kolonnen von hunderten, wenn nicht tausenden gefangenen Soldaten vor sich hertreiben.

Das Maliki-Regime, das unter der amerikanischen Besatzung eingesetzt wurde, befindet sich in einer tödlichen Krise. Der Premierminister, der auch Oberbefehlshaber des Militärs, Verteidigungsminister und Innenminister ist, konnte seit der Wahl im April noch keine Regierung bilden. Am Donnerstag versuchte er, eine Parlamentssitzung einzuberufen, um einen landesweiten Notstand auszurufen. Es konnte jedoch keine Abstimmung stattfinden, da nicht genug Abgeordnete zusammenkamen, um die Beschlussfähigkeit herzustellen.Sunnitische, kurdische und rivalisierende schiitische Parteien boykottierten die Sitzung aus Widerstand gegen die autokratischen und sektiererischen Methoden, mit denen Maliki regiert.

Das Ausmaß des Sieges des ISIS und des Debakels für die USA und das Regime, das sie an die Macht gebracht haben, wurde am Donnerstag noch deutlicher, als die Islamisten in Mossul eine Parade mit Humvee-Geländewagen und anderen gepanzerten Fahrzeugen aus amerikanischen Lieferungen abhielten, während über ihnen eroberte Militärhubschrauber flogen.

Dass sie diese Flugzeuge einsetzen konnten, zeigt, dass zunehmend ehemalige Offiziere und Soldaten des alten irakischen Militärs, das unter dem amerikanischen Besatzungsregime aufgelöst wurde, an dem Aufstand beteiligt sind. Angeblich befindet sich unter ihnen auch der ehemalige irakische General und Chef der verbotenen Baath-Partei nach der Hinrichtung von Saddam Hussein, Izzat Ibrahim al-Douri. In einigen der eroberten Städte hat der ISIS angeblich Militärräte unter Führung von ehemaligen Baath-Offizieren eingerichtet, die als lokale Regierung agieren.

Es sind auch Aufnahmen aufgetaucht, die zeigen, wie Menschenmengen die Vertreibung der irakischen Armee feiern, die in den überwiegend von Sunniten bewohnten Gebieten im Westen und Norden des Landes seit langem als Besatzungstruppe eines feindlichen schiitischen Regimes angesehen wird.

Diese bitteren sektiererischen Spaltungen wurden durch den amerikanischen Angriffskrieg im Jahr 2003 und die Strategie des "Teilens und Herrschens" der amerikanischen Besatzungsmacht seither noch deutlich verstärkt. Sie wurden vom Maliki-Regime noch vertieft, das systematisch die sunnitische Bevölkerung von der Macht auszuschließen versucht, jeden politischen Widerstand in sunnitischen Gebieten als "Terrorismus" brandmarkt und friedliche Proteste durch das Militär unterdrücken lässt. In der aktuellen Krise hat Maliki direkt an das schiitische Sektierertum appelliert und den Kampf gegen den ISIS als "heiligen Krieg" bezeichnet.

Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass die Krise, die die Offensive des ISIS ausgelöst hat, zu einem vollständigen Auseinanderbrechen des Irak nach religiösen Gesichtspunkten führen und die anderen Mächte der Region mit hineinziehen könnte. Das Chaos, das die Interventionen des US-Imperialismus verursacht haben, könnten die politische Geografie des Nahen Ostens zerstören.

Die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, haben die nordostirakische Stadt Kirkuk vollständig unter ihre Kontrolle gebracht, nachdem das irakische Militär auch dort geflohen war. Die Stadt ist ein wichtiges Zentrum der irakischen Ölindustrie und zwischen Arabern, Kurden und Turkmenen aufgeteilt, die kurdische Bewegung hat sie jedoch schon immer als Hauptstadt beansprucht. Die amerikanische Besatzungsmacht hatte die Peschmerga gezwungen, die Kontrolle über Kirkuk abzugeben, nachdem sie die Stadt während des Einmarschs 2003 eingenommen hatten. Danach lehnte sie es stets ab, die Stadt an die autonome Kurdenregion anzugliedern.

Kurdische Politiker in Erbil begrüßten den Zusammenbruch des irakischen Militärs als "goldene Gelegenheit“, die strategisch wichtige Ölhauptstadt in das irakische Kurdistan einzugliedern. Die irakische Zentralregierung wird die Übernahme der Stadt durch Kurden genauso wenig hinnehmen wie die anderen Ethnien und die meisten anderen Staaten in der Region.

Angesichts des Vormarsches des ISIS und der kurdischen Peschmerga könnte das Regime in Bagdad letzten Endes mit wenig mehr dastehen, als mit der Hauptstadt und dem schiitische Kernland im Süden.

Gleichzeitig haben die Türkei und der Iran angedroht, im Irak zu intervenieren. Türkische Regierungsvertreter drohten mit Vergeltung für die Geiselnahme von 49 Menschen im türkischen Konsulat und in Mossul und von 31 türkischen LKW-Fahrern.

"Sollten unsere Bürger und Beamten Schaden erleiden, wird das schwerste Vergeltung nach sich ziehen," warnte der türkische Außenminister Achmed Davutoglu am Donnerstag in New York, nachdem er Treffen bei den Vereinten Nationen abgesagt hatte, um nach Ankara zurückzufliegen und sich mit der Krise zu befassen.

In Teheran erklärte Präsident Hassan Ruhani am Donnerstag: "Der Iran wird nicht zusehen, und wir werden diese Terroristen nicht tolerieren. Wir werden zu gegebener Zeit einschreiten, um den Terrorismus in der Region und in aller Welt zu bekämpfen. Wie ich bereits vor der UN erklärt habe, zeigt diese Terrorwelle uns als Moslems eindeutig, dass unsere Feinde alles in ihrer Macht stehende tun werden, um religiöse und ethnische Streitigkeiten unter uns zu schüren."

Laut unbestätigten Berichten hat der Iran bereits eine Einheit der Al Quds-Spezialkräfte der Revolutionsgarde in den Irak geschickt, um ihn im Kampf gegen den ISIS zu unterstützen und hat seine Truppen an der irakischen Grenze verstärkt.

Ob Washington im Irak direkt intervenieren wird, ist noch unklar. Das Maliki-Regime hat angeblich erneut von den USA gefordert, Luftangriffe gegen die islamistischen Milizen und sunnitischen Aufständischen zu führen.

Die offizielle Reaktion der US-Regierung auf dieses Debakel, dessen Ausmaß auf einer Stufe mit dem Fall von Saigon vor fast 40 Jahren steht, war ausgesprochen ruhig. Obama äußerte sich im Rahmen eines kurzen Auftritts zusammen mit dem australischen Premierminister Tony Abbott. Der Sprecher der Republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus, John Boehner, stichelte am Donnerstag zwar, Obama halte während der Irak-Krise "ein Nickerchen," forderte jedoch keine konkrete Reaktion auf die Offensive des ISIS.

Diese Reaktion lässt sich größtenteils durch die krassen Lügen und Widersprüche erklären, mit denen der US-Imperialismus seine kriminellen und verantwortungslosen Interventionen rechtfertigt. Washington behauptet zwar, Maliki gegen islamistische Milizen im Irak zu unterstützen, unterstützt jedoch in Syrien die gleichen Kräfte als Stellvertretertruppen in einem blutigen, sektiererischen Krieg für einen Regimewechsel. Offiziell hat die Obama-Regierung den ISIS als Terrororganisation gebrandmarkt, in Wirklichkeit ist er jedoch die wichtigste Kraft im Krieg zum Sturz von Präsident Baschar al-Assad.

Die Einnahme von Mossul hat objektiv einem erklärten Ziel der amerikanischen Politik gedient: die Kräfte zu stärken, die gegen die syrische Regierung kämpfen. Der größte Teil der Kriegsbeute in Mossul, darunter hunderte von gepanzerten Fahrzeugen, riesige Mengen von Waffen und Munition und hunderttausende Dollar in Bargeld wurden über die praktisch nicht mehr existente Grenze nach Syrien gebracht.

Loading